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Gegen die Stunde des Sonnenaufgangs ist es kalt auf dem hohen Venn, mag der Tag auch noch so warm werden. In einer bleichen Kühle, vom Tau genäßt, lagen Strafkolonie und Heiderücken, Weide und Dorf und die ragenden Hainbuchen.
Beim Bauer Adams am grünen Klee war die ganze Nacht Licht gewesen. Man erwartete den Tierarzt. Sollte die Braune, das schönste Stück Vieh, eingehen? Ihr schmerzliches Muhen ging den Menschen durch Mark und Bein.
Nebenan bei Huesgens war es gut zu hören. In die schmalen Lücken der trennenden Hecke hatten sich die kleinen Huesgens eingezwängt; ihre schmalen Körper schlüpften überall durch. Sie waren früh vom Strohsack geklettert und lauschten nun mit ängstlich-neugierigen Augen. Ihre Kuh, die liebe Maiblum, die sollte auch bald kalben, wenn es der nur nicht auch so schlecht erging wie der großen Braunen beim reichen Bauer Adams!
»Du«, sagte das Kathrinchen zum Bruder Tönnes und zum Drückchen und tupfte den kleineren Geschwistern einem nach dem anderen auf den Kopf: »Du, bet dich für unse Maiblum! Wie dat arm Dier sich quäle muß!«
Nebenan ging das dumpfe Brüllen und Angstgestöhn immer weiter und erfüllte die Herzen der lauschenden Kinder mit banger Furcht. Mitunter kam eine Pause, aber dann setzte das Angstgebrüll um so stärker wieder ein.
»De Mathes is der Doktor hole«, sagt der Tönnes. »Wir han ke Jeld, für den Doktor zu hole!«
Kathrinchen nickte bekümmert: freilich, die Mutter hatte schon soviel gekostet. Sie konnten nichts weiter tun als beten. Unter dem dünnen Schürzchen, das sich im Morgenwind blähte, faltete die Kleine die Hände: ach ja, das würde sie der Bärb recht ans Herz legen, wenn die heut nach Echternach springen ging für die Mutter und den Dores, daß sie auch mitbetete für die liebe Maiblum! Wie von einem glücklichen Gedanken freudig erregt, ließ das Kathrinche die Geschwister an der Ecke zurück und lief hinein ins Haus zu Mutter und Schwester.
Drinnen bei Huesgens war rege Bewegung. Auch hier hatte fast die ganze Nacht das Lämpchen gebrannt. Bärb hatte noch, als sie aus der Fabrik heimgekommen war, die Kirche besucht und dann die halbe Nacht in der Küche aufgesessen, geflickt, genäht und sich gerüstet. Wenn sie auch keinen großen Staat machen konnte mit ihrem Anzug, sauber und ganz mußte der Rock wenigstens sein, wie sollte sie sonst wohl bestehen vorm heiligen Willibrord?! Kaum eine Stunde hatte sie bei den Geschwistern gelegen, beim Morgenrot weckte sie schon wieder das Brüllen der Kuh von nebenan. Bange Sorge erfüllte ihr Herz: auch die Maiblum war die letzten Tage so unruhig, brüllte soviel und fraß nicht wie sonst! Jesus Maria, es würde doch nicht schlimm werden mit der Kuh?! Bärb vergaß fast ihre Reise darüber und was sie alles vorhatte am heutigen Tag. Mit der Bahn mußte sie heute noch bis Ettelbrück kommen, da hatte die Mutter eine Base wohnen, bei der kam sie wohl unter mit dem Dores für eine Nacht. Und morgen würde sie aufbrechen nach Echternach, so früh, daß sie dort eintraf zu rechter Zeit, schon zur Vorfeier in der Pfarrkirche, die oben an der steilen Treppe liegt, die man Pfingstdienstag hinaufspringen muß. Oh, sie wußte so genau Bescheid zu Echternach, als wäre sie zehnmal schon dort gewesen! Mit großer Sorgfalt kleidete Bärb sich heute an. Aber der Dores wollte sich durchaus nicht waschen lassen, sein Geschrei weckte die Mutter.
Frau Huesgen kam angeschlichen, man sah es, wie schwach sie war, sie hielt sich kaum auf den Füßen. Sie weinte, als sie den Dores sich wie ein Tier gebärden sah; er wälzte sich auf dem Estrich und stopfte sich brüllend Sand in den Mund, und was er sonst fand an Unrat. Jesus, barmherziger Heiland, würde es denn nie besser werden mit ihm? Sie jammerte laut.
»Motter«, sagte die Tochter vorwurfsvoll, »ich jonn ja springe!«
Aber Frau Huesgen war heute kleinmütig. Die Kraft, die die wundersame Begegnung ihr verliehen hatte, hielt nicht immer vor. Das schreckliche Brüllen der Kuh nebenan verstörte sie ganz: wenn's mit der Maiblum nun ebenso ging, Jesus Maria! Die war ihr einziges Hab und Gut.
*
Die Bärb saß im Eisenbahnzug und fuhr durch Gegenden, die sie längst nicht mehr kannte. Das war wohl noch Venn, aber nicht mehr so, wie es sich um Heckenbroich dehnte. Die Ginstersträucher, die jetzt um die Ley und am Truppenübungsplatz überall wie goldene Flammen leuchteten, standen hier schwarz, soweit das Auge sehen konnte. Hatte man sie angebrannt, um sie dann umzugraben, mit ihrer Asche den Weideboden zu düngen? Nein, auch die vielen kleinen Schonungen waren angekohlt, die Nadeln an den Tännchen dürr und rostbraun. Über dem Strich Venn, den ein Waldbrand abgerast hatte, flimmerte ein Sonnenglast, der ihn noch viel trauriger machte. Langsam keuchend und bimmelnd kroch der Zug immer bergan, immer noch weiter so hinauf bis St. Vith. Da hieß es ein paar Stunden warten. Bärb hatte nichts davon gewußt, daß sie umsteigen mußte; alle Mitfahrenden in der vierten Klasse waren ausgestiegen, sie aber saß noch immer geduldig am einen Ende der Bank, ihr Bündel zu Füßen, den Dores auf dem Schoß. Es war ein Glück, daß der Schaffner noch einmal in den Wagen sah.
»Echternach?« hatte sie schüchtern gefragt. Sie war des Fahrens schon herzlich satt. War es noch weit bis dahin?
Der Mann hatte sie ganz entsetzt angeschrien: »Aussteigen!«
In den Wartesaal traute sich Bärb nicht, da mußte man was verzehren; auch schrie der Dores, den das »Aussteigen« erschreckt hatte. So ging sie den Bahnsteig zu Ende bis zum Güterschuppen, setzte sich da auf eine der umherliegenden Kisten, lehnte den Rücken gegen die beschienene Schuppenwand und sonnte sich.
Allmählich beruhigte sich der Dores; sie gab ihm zu essen aus ihrem Bündel, und er beschmierte sich ganz und gar, aber er war doch wenigstens zufrieden. Unbekümmert um all das Fremde, was um ihn war, kroch er zu ihren Füßen im Kies des Bahnsteigs, steckte von den weißen Steinchen, die in der Sonne bunkerten, in den Mund, probierte, ob das ein Zückerchen sei, spuckte den Stein dann wieder aus, um ihn wiederum ins Händchen zu nehmen und zur Schwester emporzuhalten: »Pä, pä!« Das war sein gewöhnlicher Ausdruck für alles, was ihn verwunderte oder erfreute; mehr sagte er nicht.
Bärb wurde sehr müde; nun spürte sie doch die durchwachte Nacht. Sie liebkoste den Bruder und versuchte, mit ihm zu spielen, aber der Schlaf war stärker als der gute Wille. Wie im Traum hörte sie plötzlich die Mutter sprechen, die Maiblum brüllen, die Geschwister schreien – vor ihr lag das Haus hinter der Hecke – ein Gefühl der Wohligkeit durchrieselte sie, die Augen fielen ihr zu. –
Als sie erwachte, lag der Dores vor ihr im Kies und schlief. Ihr Zug war fort.
»Nach Echternach, nach Echternach?!« Der Mann mit der roten Mütze, gegen den sie verzweifelnd anrannte, zuckte die Achseln: ja, da hätte sie eben besser aufpassen müssen, der Zug dahin war schon eine Weile fort.
»Jesus Maria!« Sie brach in heiße Tränen aus: was nun?! Ach, sollte sie nicht lieber umkehren? Es ging doch gewiß noch ein Zug zurück nach Heckenbroich. Aber dann schämte sie sich und nahm sich zusammen: sie mußte ja springen gehen, sie hatte so vieles zu erbitten, sie durfte nicht umkehren. Ganz vernünftig erkundigte sie sich, ob's denn nicht noch einen weiteren Zug nach Ettelbrück gäbe? Ei gewiß, auf den Abend noch. Da ward sie wohlgemut. Ach, wenn sie nur hinkam, wenn sie nur hinkam! Keinen Gedanken mehr schickte sie zurück in die verlassene Heimat, all ihr Sinnen, ihr Herz und ihren Verstand richtete sie voran.
Sie hatte ein Büchlein bei sich, das »St. Willibrordus Büchlein«, enthaltend das Leben des Heiligen, die Gebete zu seiner Verehrung und zur Wallfahrt nach Echternach. Das hatte die Frau Bürgermeister der Mutter für sie gegeben. Nun las sie darin. Sie las vom heiligen Willibrord, dem Vorbild der Demut, dem Muster des Gehorsams, von seiner Liebe zu Gott und von seiner Nächstenliebe. Mußte das ein guter Heiliger sein! Sie las mit leuchtenden Blicken, las sich immer mehr und mehr in die feste Überzeugung hinein, daß er allen half, die zu ihm kamen nach Echternach. ›Heiliger Willibrord, bitt für uns‹ – das schwebte ihr immerfort auf den Lippen.
Sie hatte ihren alten Platz auf der Kiste wieder eingenommen und las eifrig, halblaut jedes Gebet, das sie herausbuchstabierte, leise murmelnd. Erst als ihr die Sonnenstrahlen nicht mehr aufs Büchlein fielen, merkte sie, daß es Abend ward.
Es war kühl hier auf dem Bahnsteig der höchstgelegenen Station; von allen Seiten konnte der Wind ankommen, hohe Zäune aus Latten mußten die Schienenstränge schützen gegen die Schneewehen des Winters. Es tat nicht gut mehr, auf der Kiste zu sitzen. Nun Bärb nicht mehr vom heiligen Willibrordus las, fühlte sie sich auf einmal allein und verlassen; der Dores war doch so gut wie niemand.
»Pä, pä«, sagte er jetzt und riß sie am Kleide. Sie gab ihm eine Semmel, dann hob sie ihn auf aus dem Kies und ging langsam mit ihm zum Bahnhofsgebäude. Es half nichts, nun mußte sie doch in den Wartesaal hinein, es war für das Kind zu kalt und zugig draußen. Ein Glück, daß der Dores heute so lieb war; er hatte sich noch nicht seine Hosen beschmutzt, und er schrie nicht.
Den Bruder an sich pressend, betrat sie den Wartesaal. Sie konnte nichts sehen vor Qualm und Tabaksrauch; mit niedergeschlagenen Blicken tappte sie zum entlegensten Plätzchen.
Mit großen Augen starrte der Dores drein. »Pä, pä«, sagte er wiederholt und riß die Schwester am Ohrzipfel. Ein Soldat hatte ihm vom Nebentisch mit einem Bierglas gewinkt. Er strebte hin, er wollte einmal trinken: »Pä, pä, pä!«
Die Soldaten, die um den Tisch saßen, lachten laut. Es waren vier muntere stramme Kerle, die Urlaub hatten über die Pfingstfeiertage und die sich nun freuten, nach Hause zu kommen. »Komm, komm her«, sagte der eine und winkte dem Kind mit dem Finger.
»Pä, pä, pä!«
Bärb konnte den Jungen kaum halten, er wollte von ihrem Schoß, und als sie ihm wehrte, biß er sie.
»Fräulein, lassen Sie doch das Kind«, sagte der Soldat. Und als sie den strampelnden Jungen doch nicht losließ, war der hübsche Soldat mit zwei Schritten bei ihr im Winkel zwischen Ofen und Wand und nahm ihr eins, zwei, drei, das Kind vom Schoß und ließ es an seinem Bierglas trinken. Ei, wie der Bengel schmatzte! Die Vier wollten sich ausschütten vor Lachen.
Bärb wurde blutrot. Aber böse konnte sie doch nicht sein: die waren ja so freundlich.
»Fräulein, wohin reisen Sie denn?« fragte wieder einer.
Sie wollte erst nicht antworten, aber dann besann sie sich: das wäre doch zu grob, die hatten ihr ja nichts getan. So antwortete sie verschämt-leise: »Nach Echternach!«
»So, Sie wollen wohl springen da?«
Sie nickte.
Die Soldaten zwinkerten sich zu; drei von ihnen hatten Lust, zu lachen, aber der vierte, der allerhübscheste, sagte ernsthaft: »Aber, Fräulein, da kommen Sie heut abend ja jar nit mehr hin!«
Ja, das wußte sie wohl. Sie erzählte von ihrem Malheur mit dem Zug. Ach, es tat ihr so gut, mit einem freundlichen Menschen zu sprechen! Sie genierte sich gar nicht mehr; das waren ja welche, die ihre Heimat kannten. Sie waren vom Platz.
Es dauerte nicht lange, so saß Bärb bei den Soldaten am Tisch. »Kommen Sie nur heraus aus Ihrem Loch da«, hatte der hübscheste gesagt. Einer so freundlichen Aufforderung hatte sie nicht widerstehen können. Und Durst hatte sie auch. Sie ließen sie alle einmal trinken. Der Dores wanderte von Schoß zu Schoß. Ei, es war doch ganz schön, auf Reisen zu gehen! Das Bunt der Uniformen, das Rot der Kragen, die blanken Knöpfe zogen Bärbs Blicke unwiderstehlich an. So nah hatte sie noch nie einen Soldaten gesehen. Und als der allerhübscheste sagte, nun wäre er ganz zufrieden, den ersten Zug, der aus der Lausegegend hier fortfuhr, wo man nachts frieren und mittags braten müßte, versäumt zu haben, lächelte sie glücklich und litt es, daß er den Arm auf ihre Stuhllehne legte und ihr näher rückte.
Schade, daß sie nicht einen Weg zusammen hatten! Nur eine kleine Strecke konnten sie noch zusammenfahren.
Bärb fühlte eine lebhafte Freude: Gott sei Dank, nun brauchte sie nicht ganz allein in die Dunkelheit hinein! Die Lustigkeit der vier steckte sie an; solch eine Fröhlichkeit hatte sie noch nie kennengelernt in ihrem Leben. Die berauschte sie ganz. Zu Haus war man so anders, da hatte man immer zu sorgen und zu bedenken, man war still und ernsthaft. Als habe sie nicht vor sechs Stunden noch das Kreuz der Marienley über die Tannen ragen sehen, so war ihr jetzt zumute. Das lag jetzt alles so weit, so weit. Sie hörte nicht mehr die Mutter sprechen, die Maiblum brüllen, die Geschwister spektakeln – der Arm des Burschen, der bis jetzt auf ihrer Stuhllehne geruht hatte, legte sich um ihre Schultern. Sie trank aus seinem Glase und lachte aufgeregt. Sie wurde so hübsch in ihrer strahlenden Freude, daß alle vier ihr zutranken: »Prost, Schätzchen«, und sich darum rissen, aus wessen Glas sie trinken sollte. Sie machten ihr Komplimente, die feinsten waren es nicht; aber sie nahm's nicht so genau damit. Wer sie unterm Tisch auf den Fuß trat, den trat sie wieder, und wenn einer zu ihr sagte: »Du, Mädchen, 'ne Kuß krieg ich aber von dir«, antwortete sie frischweg: »Morjen um diese Zeit«, und zeigte lachend ihre gesunden Zähne.
Hätte das ein Mensch von der Kleinen gedacht, daß die so fidel sein könnte! Erst hatte sie kein Auge aufgeschlagen, nun ging sie auf jeden Spaß ein. Sie fragten neckend: »Fräulein, dat is doch Ihre Jung?« Und sie antwortete blitzgeschwind, gar nicht um die Antwort verlegen: »Dafür bin ich noch vill zu jung. De Dores is schon sieben un ich achzehn, ich hatt jrad meine Namensdag!«
Wer hätte gedacht, daß hinter den Hecken von Heckenbroich so was stecken könnte! Die vier, die lange mit keinem Mädchen poussiert hatten, zeigten sich heftig entflammt; besonders der hübscheste, Lohgerber seines Zeichens, machte ihr Augen, daß es Bärb überrieselte in einem Schauer von Glück.
›Heiliger Willibrord, bitt für uns‹, betete sie heimlich. Wenn der es zu allem noch machen könnte, daß sie einen hübschen und braven Schatz von der Wallfahrt mitbrächte?! –
Das war eine Fahrt durch die dämmerig und mild werdende Höhenlandschaft zwischen Venn und Ardennen! Der Dores schlief auf der Bank, und Bärb bekam soviel Schönes und Liebes zu hören, daß ihr die Ohren summten und der Kopf schwirbelig wurde. Aber es war ein seliger Schwirbel. Sie erwachte auch noch nicht aus ihm, als die vier in Ulflingen ausstiegen, um ihre Straße zu ziehen. Die Hände im Schoß gefaltet, das Gesicht mit den geschlossenen Augen, wie in die Ferne lauschend, gehoben, saß sie ganz still. Noch immer fühlte sie die verliebten Küsse, die sie ihr aufgedrückt hatten, noch immer hörte sie das schmeichelnde Flüstern: ›Lieb Mädchen‹, ›Schön Schätzchen‹, ›Allerschönst Bärbchen auf der Welt‹! Sie saß kerzengerade auf der Bank. Jesus, sie hörte in süßem Schrecken das alles noch – und dazwischen: ›Heiliger Willibrord, bitt für uns – heiliger Willibrord – heiliger Willibrord!‹
Nein, das war keine Täuschung mehr! Längs des Bahnstrangs hin, auf dem der Zug jetzt langsamer fuhr, rannte es mit eiligem Beten. Sie fuhren in einen Bahnhof ein, die Türen der vierten Klasse wurden aufgerissen, herein stürzte sich in Hast ein Menschenschwall. Man trat sie auf die Füße, man stieß den kreischenden Dores von der Bank; alle fanden nicht Platz, man drängte sich, man stand fast aufeinander, es war schon spät Abend, man mußte noch bis Ettelbrück, um morgen beizeiten in Echternach zu sein. Bärb erschrak: das waren ja so viele, so viele Menschen, es war ja fast gar kein Platz mehr für sie da! Man bedrängte sie hart. Auf einem Knie hielt sie den Dores, auf dem andern saß ihr ein dicker Mann. Eine Frau mit riesigem Kropf ihr gegenüber stieß mit dem großen Henkelkorb, den sie auf dem Schoß hatte, immerfort gegen sie an. Selbst im Rücken spürte die Eingeklemmte das Gedränge. Man lehnte sich von hinten fest gegen sie, man drängte sie so fast vom Sitze herab. Sie klebte nur mehr noch am Bankrand. Und so ungebärdig war der Dores noch nie gewesen. Er strampfte der Frau mit dem Kropf mit seinen Füßen gegen den Henkelkorb, und diese fing an, sich empört zu beklagen.
»Haald Euer Kind doch bei Euch, Fraumensch! Is dat en Manier, fremde Leit zu troten, ei'm de Saachen zu runjenieren, dat Sonndagsklaad?!«
Bärb verstand die Frau nicht recht, die sprach anders, als man daheim zu sprechen pflegte, aber sie merkte doch, daß die Frau mit dem Kropf ihrem Doreschen böse war. »Bis still, Doresche, bis still«, flüsterte sie dem Bruder ins Ohr und hielt seine strampelnden Beinchen mit ängstlicher Hand fest. Der Traum war verflogen. Sie hätte weinen mögen, fassungslos, hilflos; aber der heilige Willibrord machte ihr wieder Mut. Alle Mitreisenden sprachen von ihm. Es waren einige darunter, die waren schon voriges Jahr oder vor Jahren bei ihm gewesen, und sie belehrten jetzt die Neulinge, die zum erstenmal zu ihm gingen. Oh, der Wunder, die da geschahen, waren unzählig viele!
Der dicke Mann auf Bärbs Knie, der schwerer war wie ein Sack von zwei Zentnern Gewicht, wußte was zu erzählen: nach einer Krankheit war er so dünn geworden, so dürr wie eine Hopfenstange, das Fleisch war ihm von den Knochen gefallen, kein Essen schmeckte ihm, so schwach war er geworden, daß er nicht mehr allein gehen konnte. Selber springen hatte er nicht können, aber seine Frau war hingefahren nach Echternach und war für ihn gesprungen, und als sie wieder heimkehrte von der Pilgerfahrt, da hatte er ihr schon entgegengehen können bis vor das Haus. Das nächste Jahr hatte er wieder springen lassen – das heißt, seine Frau war nicht hingefahren, die war gestorben derweil – aber er hatte jemanden gedungen, zwei Mark kostete das. Geholfen hatte das auch wieder sehr!
Bärb schielte ihn von der Seite an: der war gut bei Leibe!
»Un jetzt«, fuhr der dicke Mann ganz glücklich fort, »jetzt sein ich kerngesund, ich sein stark un dick. Eweil giehn ich zum Dank sälwer springen!« Er pustete und rang nach Luft, die hastige Erzählung hatte ihm gänzlich den Atem genommen, förmlich blaurot wurde sein glänzendes Fett; er wischte sich immer wieder den Schweiß ab.
Pah, das war noch gar nichts! Die Erzählung des Dicken schien den Hörern noch gar nicht so wunderbar, die wußten noch ganz anderes zu berichten. Es war einmal eine gewesen, die war lahm und krumm und litt grausige Schmerzen, die ließ sich tragen an des Heiligen Grab und betete daselbst fünfzigmal die Litanei zum heiligen Willibrord, und da konnte sie auf einmal ihre Glieder wieder bewegen und sprang sogar mit in der Prozession im nächsten Jahr. Und ein Jüngling aus Steinheim, der mit allen Gliedern geschlenkert hatte, den Kopf nicht hatte in die Höhe halten können, sondern ihn baumeln lassen mußte bald rechts und bald links, der war voriges Jahr auf der Stelle, als er nur das braune Bußkleid des Heiligen, das hinter Glas beim Altar der Pfarrkirche hängt, angesehen hatte im stummen Gebet, geheilt worden.
Bärb riß Augen und Ohren auf. Den Mund konnte sie kaum mehr zubringen, ein Ruf wollte sich ihm entringen, ein Schrei der Entzückung und der inbrünstigen Bitte: ›Heiliger Willibrord, bitt auch für uns!‹ Den Dores drückte sie fest, ganz fest an ihr heftig pochendes Herz: ach, die garstigen Krämpfe, die er zuzeiten so oft hatte, die ihm alle Glieder durcheinander warfen, in denen er die Daumen einkniff, die Augen verdrehte, die Zähne aufeinanderbiß, diese Krämpfe würden ihn nun bald nicht mehr plagen! Auch der Mutter wurde wieder neue Kraft gegeben – ach, und alles, alles wurde gut! –
Bärb hatte die hübschen Soldaten, ihre zärtlichen Worte und das Glück, das sie dabei empfunden, jetzt gänzlich vergessen. Ihre schwarzen Augen ließ sie rundum gehen in dem dunklen, verqualmten, nur von einer erbärmlichen Deckenflamme notdürftig beleuchteten Wagen. So viele, so viele, und allen sollte der Heilige helfen oder hatte ihnen schon geholfen!
Die Frau mit dem Kropf und dem Henkelkorb riß den Mund weit auf: das war alles noch nichts gegen das, was sie wußte. In ihrem Dorf waren reiche Leute – zwanzig Kühe hatten sie auf der Weide, vier Pferde im Stall, eine richtige Ackerwirtschaft – und denen ihre Tochter war blind. Aber sie waren mit ihr nach Echternach gefahren und hatten ihr mit dem Wasser des St. Willibrordusbrunnens die Augen gewaschen, hatten auch ein Dutzend Flaschen am Brunnen gefüllt und mit heimgebracht und sich darangehalten, dem Mädchen alle Morgen und Abend die Augen damit zu waschen. Am dritten Morgen schon sprach das Kind: ›Ich sehe was glimmern‹ – das war die Sonne, die sah es wie hinter grauen und dichten Wolken. Am dritten Abend aber sprach es: ›Ich sehe was flimmern‹ – das war die Sonne, die goldigrot unterging. Am vierten Morgen sprach es: ›Es tut mir weh in den Augen, was sticht da so?‹ – das war die Sonne, die vom Himmel strahlte. Am fünften Morgen sprach es: ›Ich sehe es flammen, was brennt da so?‹ Am sechsten Morgen sprach es: ›Ich sehe was leuchten – ah, wie ist das so schön!‹ Aber am siebenten Morgen schrie es laut: ›Ich sehe, ich sehe – da steht sie, die Sonne!‹
Irgendeine Stimme hob mit der Litanei des heiligen Willibrord an, und bald vereinten sich alle Stimmen im Wagen:
»Heiliger Willibrord, bitt für uns!
Heiliger Willibrord, ein Lehrer der Wahrheit,
Heiliger Willibrord, ein Zertrümmerer der Götzen,
Heiliger Willibrord, eine Zierde der römischen Kirche –«
und immer noch weiter:
»Heiliger Willibrord, ein Heil der Kranken,
Heiliger Willibrord, ein Vater der Armen,
Bitte für uns, heiliger Willibrord!«
Bärb wunderte sich im stillen, wie die Leute das alles so auswendig wußten. Wenn nur ein wenig mehr Licht im Wagen gewesen wäre, sie hätte gern ihr Büchlein hervorgeholt und daraus die Litanei mitgebetet.
»Heiliger Willibrord, ein mächtiger Fürsprecher im Himmel,
Bitte für uns, heiliger Willibrord!«
In demütigem Glauben, in Liebe und Hoffnung wendete Bärb ihr Herz dem Heiligen zu.
Die Fahrt wurde ihr gar nicht lang. Als ob das gemeinsame Gebet sie alle miteinander bekanntgemacht hätte und freundlicher und verträglicher gesinnt, so wurden die vorhin Rücksichtslosen teilnehmender. Der dicke Mann sagte »Exkusört, ich drücken Euch wohl«, und rutschte zur Seite, und die Frau mit dem Kropf stellte ihren Henkelkorb zu Boden und zog dafür die Beine des Dores, der gern schlafen wollte, sich auf den Schoß.
Die Sterne standen am Himmel. Je weiter sie abkamen von den Eifelhöhen, desto weicher wurde die Luft. Es fuhr sich schön mit dem Bummelzug in die Sternennacht hinein. Der Dores schlief, der Bärb Kopf war dem Dicken nebenan auf die Schulter gesunken; er ließ sie ruhig da liegen.
»Ob dat Kind von dem Mädche is?« fragte eine Neugierige und zeigte mit ausgestrecktem Finger auf den Dores hin.
»Ihr seid wohl geck?« Der dicke Mann wurde ordentlich grob. Sah sie denn nicht, was für ein junges Blut das noch war, die konnte doch nicht so einen Jungen schon haben? Er taxierte ganz richtig: das war ihr Brüderchen, das brachte sie hin zum heiligen Willibrord, man sah's ja gleich auf den ersten Blick: der Junge war krank, er hatte seinen richtigen Verstand nicht.
Viele neugierige Blicke hefteten sich auf das schlafende Geschwisterpaar. Bärb mit ihrem hübschen Gesicht, das noch schmaler erschien in der Müdigkeit, mit den schwarzen Wimpern, die wie Schatten auf den Wangen lagen, fand Gnade vor den Augen der Männer. Den Frauen gefiel der Dores besser, trotz seines dicken Kopfes und der hängenden Unterlippe. Sie bedauerten ihn: warum war seine Mutter nicht bei ihm? So eine ledige junge Person weiß ja gar nicht mit einem Kind umzugehen. Wie ungeschickt sie es hielt – da – beinahe wäre es heruntergefallen. So lange wurde nun am Dores gezupft und gezogen, zurechtgerückt und gestreichelt, bis er die müden Augen aufriß, die fremden Gesichter entsetzt anstarrte und in ein lautes Gekreisch ausbrach. Das wollte nicht enden, trotz allen Zuredens. Die freundlich Besorgten wurden zuletzt unwillig, und die arme Bärb fühlte, wie der Junge sie durchnäßte in seiner Angst – ach, wären sie nur erst an Ort und Stelle!
Da – der Zug verlangsamte jetzt seinen Lauf, er pfiff und verschnaufte sich – Ettelbrück! Der Schaffner riß die Wagentüren auf. Gottlob, Ettelbrück, Ettelbrück! Aber Echternach noch so weit! – – –
Es war einmal vorgekommen, daß Leute, die gelobt hatten, zu springen vorm heiligen Willibrord, ihr Gelübde nicht hielten. Da wurden ihre Kinder und ihr Vieh im Stall von einer Krankheit befallen, in der sie die Köpfe warfen und mit den Gliedern schlenkerten, unfreiwillig alle die Sprünge und Bewegungen machen mußten, alle Gebärden der Springer zu Echternach.
Aber wenn Bärb auch diese Erzählung nie gehört hätte, sie wäre doch ihrem Gelübde nicht untreu geworden; sie wäre nicht umgekehrt und wäre es ihr noch viel schlechter ergangen als heute nacht. Es war viel zu spät gewesen, die Base der Mutter aufzusuchen, alle Häuser von Ettelbrück lagen dunkel in der Ferne. Wie die meisten der Wallfahrer war auch sie auf dem Bahnhof geblieben; in eine Herberge zu gehen, kostete zu viel. Sie hielt sich an den Dicken, der war so gutmütig; er kaufte ihr sogar am Morgen, als sie fröstelnd und übernächtig recht erbärmlich dasaß, am Büfett einen tüchtigen Kornschnaps. Sie wollte ihn erst nicht annehmen, sie hatte noch nie Schnaps getrunken, aber nun trank sie doch, und er tat ihr gut. Denn daß ihr der Kopf schwer wurde, nein, das kam nicht vom Schnaps, das kam von all dem Ungewohnten.
Wenn Bärb geglaubt hatte, das seien schon viele Menschen, die sich im Wartesaal versammelt hatten, so wurde sie jetzt noch eines anderen belehrt. Draußen auf dem Bahnsteig: Menschen, Menschen, Menschen. Hier kam die ganze Welt zusammen!
Seit es Morgen war, rasselten immer wieder neue Züge auf dem Bahngeleise vor. In den Wartesaal war nicht mehr hineinzukommen, draußen auf dem Bahnsteig stand es Kopf an Kopf. Mit Fahnen, mit Kreuzen, mit ihren Musikchören und ihren Geistlichen standen da ganze Dorfgemeinden.
Heiliger Willibrord, heiliger Willibrord, wohin man sah, wohin man hörte. Nur ein Gedanke belebte all diese Köpfe, all diese müden Gesichter, all diese Seelen: Echternach.
Bärb sah auch manchen Kranken, vor dessen Anblick ihr grauste. Es kamen Blöde und Taube, Stumme und Lahme, Blinde und mit Geschwüren Behaftete; und solche, die äußerlich nicht so ihre Krankheit zeigten, zeigten ihr Leid doch in blassen, abgezehrten, verhärmten Gesichtern. Bärb ging abseits, um all das nicht zu sehen. Oh, so schlimm war es mit ihrem Dores doch noch nicht! Sie küßte ihn, und er patschte sie mit den welken Händen ins Gesicht; je näher sie Echternach kamen, desto lieber wurde er.
Besonders eine war in der Menge, vor der es Bärb graute. Was fehlte der nur?! Die sah ja so gesund aus, stark und dick; sie mochte im gleichen Alter mit ihr stehen, aber sie hatte mehr Fleisch an sich. Auf einer Seite wurde sie von ihrer Mutter geführt, einer behäbigen Bäuerin, auf der anderen von einer ältlichen Frau.
Mit unruhigflackernden Augen sah das Mädchen um sich, es drängte immer voran, die Frauen konnten es kaum zurückhalten. Und in Absätzen schrie es ganz laut: »Heiliger Willibrord, heiliger Willibrord!« Beinahe wäre es unter die Räder gekommen; vor den nun einlaufenden Zug drängte es sich hin, es wollte durchaus zuerst hinein, vor allen anderen.
In einem Tumult, der etwas Beängstigendes hatte, stürmten die Wallfahrer die Abteile. Es war ein Durcheinanderschreien, ein Trappeln, ein Stoßen, ein Stürmen, ein Drängen, ein Drohen, ein Brüllen, ein Schelten und ein Sich-beklagen, daß Bärb selber nicht wußte, wie sie eigentlich auch in einen Wagen gekommen war. Zu ihrem Schrecken sah sie das Mädchen sich gegenüber. Es hatte starke hellblonde Zöpfe um den Kopf liegen und war gut gekleidet: ei, war die blaue Taille fein mit dem Sammetbesatz! Das Mädchen war eigentlich sehr hübsch. Es lächelte Bärb an, aber diese traute sich nicht, wieder zu lächeln: Jesus Maria, das blonde Mädchen lächelte wohl freundlich, aber seine Augen blieben so leer dabei, als wären die Gedanken weit weg.
Mit großer Gesprächigkeit fing die Mutter, die behäbige Bauerfrau, eine Unterhaltung an. Sie fragte Bärb, ob sie auch springen wolle zu Echternach? Sie und ihre Angela und die Base Piette wollten auch springen; sie kamen aus dem Luxemburgischen, der Knecht hatte sie gefahren bis zur Bahnstation, sie hatten Wagen und Pferd. Die Angela war krank. Von Kind an war sie anders gewesen als andere Mädchen, selbst bei den lieben Nönnchen war es nicht besser geworden mit ihr. Einen teueren Arzt in der Stadt hatte man auch zu Rate gezogen, der hatte die Krankheit mit einem gelehrten Namen benannt.
»Aber dat is all nit wahr, uns Anschela« – die Frau dämpfte die Stimme und raunte der lauschenden Bärb ganz geheimnisvoll ins Ohr: »der is was angedahn!«
Bärb riß ihre dunklen Augen weit auf und hielt sich unwillkürlich zurück, daß der Atem der Blonden sie nicht streifte. Sie hatte wohl schon gehört, daß, wenn die Kühe keine Milch gaben, man sagte, denen sei was angetan. Aber bei Menschen, o nein, das hatte sie noch nicht gewußt! Scheu richtete sie ihre Augen auf das Mädchen.
Das war aber sehr vergnügt; es schwatzte in einem fort und preßte mit beiden Händen seine blaue Taille herunter, damit sie straff und glatt über der vollen Brust saß. Ab und zu betete es auch ein Sätzchen. Aber dann wurde sein rundes, blühendes Gesicht jedesmal ein ganz anderes. Zwischen den Brauen grub sich eine tiefe Falte ein, die vollen Lippen wurden schmäler und erschienen blasser, die flackernden Augen hoben sich empor und starrten unbeweglich auf einen Punkt, sie stöhnte laut, ihre Züge verzerrten sich wie bei einem heftigen Schmerz, sie schlug sich an die Brust, unruhig scharrten ihre Füße:
»Heiliger Willibrord, bitte für uns!« –
Leiernd fielen Mutter und Base ein: »Wir bitten dich, heiliger Willibrord, erhöre uns!«
Unwillkürlich fing auch Bärb mit an; wenn alle beteten, sollte sie da nicht mitbeten? Der ganze Wagen, alle Leute, die darin saßen, nahmen Teil.
Wie eine Vorbeterin, mit erhöhtem Ton, begann das blonde Mädchen aufs neue. Es hatte etwas Heißes, etwas gewaltsam mit sich Fortreißendes, Bärb konnte nicht widerstehen. Mit Mühe nur hielt sie an sich; wenn sie sah, wie das Mädchen an allen Gliedern zuckte, wie es sich bäumte in seinem Gebet, konnte auch sie kaum ruhig bleiben.
»Heiliger Michael,
Heiliger Gabriel,
Heiliger Raphael,
Heiliger Laurentius, Vincenzius, Fabian und Sebastian,
Alle heiligen Chöre seliger Geister, bittet für uns!«
Die blonde Angela schrie alle Engel und Erzengel, alle heiligen Bischöfe und Beichtiger, Priester und Leviten, Mönche und Einsiedler in unendlicher Reihe auf sich herab.
Es schwindelte Bärb. Wie war es möglich, die ganze Litanei zu allen Heiligen im Kopf zu behalten?! Sie fing an, das Mädchen zu bestaunen. Auch die anderen Waller hefteten bewundernde Blicke auf die Beterin. Wahrhaftig, das war keine Kranke, das war eine besonders Begnadete!
Die Mutter, die erst verlegen dareingeschaut und versucht hatte, durch ein Zupfen am Ärmel die Tochter zu leiserem Beten zu bestimmen, verzog nun den Mund in geschmeicheltem Stolz. Ja, das war wahr, ihre Angela war ein sehr frommes Kind, die sollte auch ins Kloster gehen, sowie sie gesund war.
Wo die nur all diese Worte her hatte?! Das war ein Schwall, ein Erguß, ein Strömen, ein Fließen von heiligen Worten, daß es schier betäubte. Bärb, der schon am Morgen der Kopf schwer gewesen war, fühlte ihn immer schwerer werden. Sie war wie im Rausch, wie am Tage vorher, da die hübschen Soldaten ihr soviel Verliebtes ins Ohr geflüstert hatten. Gestern so wie heut – heut so wie gestern! Sie konnte gar nicht mehr klar denken.
*
Wo war der Tag geblieben? Die Stunden waren so rasch verronnen wie ein Traum. War das Echternach? Ja, das war Echternach.
Willenlos, gedankenlos war Bärb der führenden Menge ins Städtchen hineingefolgt. Sie sah nicht, wie lieblich das lag zwischen Gärten, in denen Apfel- und Birnbäume eben abgeblüht hatten und Kirschbäume schon sich rötende Früchte zeigten, die daheim nie reiften.
An die Spitze der einziehenden Wallfahrer hatte sich ein Musikkorps gestellt, dahinter reihten sich die Gemeinden; die geistlichen Hirten ordneten ihre Herden. Viele, viele gläubige Schäflein aus vielen Ortschaften, aus Nähe und Ferne; Staub auf den Kleidern, aber im Herzen Seligkeit. Hier war gelobtes Land, hier war man endlich in Echternach.
Das vorderste Musikkorps spielte, andere Musikkorps wollten nicht zurückbleiben – jede Gemeinde hatte ihren Ehrgeiz – sie spielten zum Einzug das Willibrorduslied, und tausend Kehlen stimmten jubelnd an:
»Schau, heiliger Apostel, o Willibrord,
Herab auf die Scharen der Beter!«
Die abgespannten Gesichter wurden erwartungsvoll rot: hah, da ragte vom höchsten Punkt der Stadt die Pfarrkirche, darinnen unterm Hauptaltar der wundertätige Heilige begraben liegt! Glocken läuteten. Aus allen Giebeln wehende Fahnen, um alle Mauern grüne Girlanden; in allen Fenstern der heilige Willibrord, als Bild, als Statue, als Photographie, und sei's nur auf Postkarten.
»Heiliger Willibrord, bitt für uns!« –
»Bitte für uns, heiliger Willibrord!«
Das ist der Gruß, mit dem Städter und Waller sich begrüßen. Von Gasse zu Gasse pflanzt sich das Gemurmel fort. Nun ist man am Marktplatz: Schaubude, Würfelbude, Schießbude, Schaukel, Karussell, Glücksrad, Pfefferkuchenstand, Menagerie, Wahrsagerin. Und dazwischen Kinder, Knaben und Mädchen, und auch viele erwachsene Leute, die den Fremden förmlich bedrängen:
»Wellt' er mech dingen,
Für mit ze springen?«
So etwas hatte Bärb noch nie gesehen, so etwas gab's nicht in Heckenbroich, nicht einmal in der Kreisstadt.
Die Herrlichkeiten des Marktes waren es weniger, die ihren Sinn verwirrten, als das Läuten der Glocken, die geschmückten Straßen, die Fahnen, die Kränze, die brennenden Lichter um Heiligenbilder. Und dann die Melodie, diese unruhig hüpfende Melodie, die, von Querpfeifen gepfiffen, von Trompeten geblasen, von Leierkasten gedudelt, überall zu vernehmen war.
Ein Trupp Kinder kam jetzt gezogen, sie pfiffen und parpten, schlugen mit Deckeln und sangen dazu:
»Adam hatte sieben Söhn',
Sieben Söhn' hatt' Adam,
Sieben Töchter muß er han,
Eh er sie bestaden kann!«
Aus einem geöffneten Fenster drang in rauschender Reihenfolge von Tönen, auf die Tasten getrommelt, die gleiche Weise an Bärbs Ohr. Und wenn das Stück zu Ende war, fing es wieder von vorne an; immer von neuem, immer von neuem, und immer dasselbe.
Bärb hätte sich die Ohren zuhalten mögen. Ein Quinkelieren ohne Ende, ein Hämmern, ein Tuten, ein Dudeln, ein Kratzen; man wurde taub davon. Bärb drehte sich wie ein Kreisel, bald hierhin, bald dorthin – ganz Echternach war voll der Melodie. Von den schwarzgrauen Dächern kam sie nieder, aus dem zerstampften Pflaster stieg sie auf, um alle Ecken zog sie, aus allen Fenstern flog sie, die Luft war dick von ihr.
»Pä, pä!« Dores hob lauschend das Fingerchen, er fing an zu hüpfen auf der Schwester Arm.
Was war das, was war das?! Bärb riß die erschrockenen Augen noch größer auf; in ihren Schläfen stach es, in ihren Ohren surrte es, ihr Kopf dröhnte, sie wollte entfliehen und war doch froh, daß sie gegen den dicken Mann anrannte, den sie kannte. »Wat is dat? Hört doch!« sagte sie und drängte sich an ihn.
Er lachte froh: »Dat is der Springprozessionsmarsch, Mädche, da springen wir all morjen danach! ›Adam hatte sieben Söhn‹«, fing er an zu trällern und probierte mit seinen dicken Beinen einen flotten Hüpfschritt.
War der nicht recht bei Trost oder hatte er sich betrunken? Ganz scheu guckte Bärb ihn an.
Er aber strich ihr freundlich die Wange: »No, Mädche, du kuckst ja ganz verdattert? Komm, ich will dich traktieren?«
Gutmütig führte er die Willenlose mit sich fort. Ja, essen wollte sie gern etwas, und sie war auch sehr müde. Er führte sie in ein Bierhaus am Markt. Da gab's den ganzen Tag warme Würste, und dem Dores, der schon alles mit den Augen verschlang, ließ er eine Suppe bringen und ein großes Stück Kirmeskuchen. Bärb aß und trank, trank mehr als sie aß; Hunger hatte sie nicht, aber Durst quälte sie, ein furchtbarer Durst, der ihre Kehle ganz austrocknete. All der Staub, den sie hatte schlucken müssen, saß ihr noch darin.
Wie durch einen Schleier sah Bärb die roten Gesichter. Und dann sah sie an den Wänden Gestalten sich drehen, Frauen mit Hauben, Ritter mit Schwertern, langzopfige Mädchen von jungen Burschen umschlungen –
›Adam hatte sieben Söhn',
Sieben Söhn' hatt' Adam –‹
die tanzten alle im Marsch der Springprozession, und St. Willibrordus, die Fahne im Arm, die Bischofsmütze auf dem Kopfe, hob zwei Finger seiner Rechten und segnete sie. So war es an die Wände gemalt, aber Bärb sah es, als wäre es wirklich.
Mechanisch führte sie die Hand ans Glas, mechanisch hob sie das Glas an den Mund, mechanisch dankte sie dem Dicken, mechanisch nickte sie, als er ihr anempfahl, sich nach einer Herberge umzusehen. Die Stadt war voll, an Dreißig- bis Vierzigtausend kamen hier zusammen.
Stumpf trottete sie von dannen. Sie irrte durch die Straßen; der Dores schlief schon, schwer lastete er auf ihrer Schulter. Unwillkürlich suchte sie einsame Wege. Ganz betäubt wankte sie einem grünen Dickicht zu, das sie sah am Ufer der Sauer.
Sie trat durch ein Gatter, verschlossen war es nicht; ein alter Park mit Bäumen, die höher waren als die Tannen im Venn, umrauschte sie. Ah, hier war's gut sein! Gepriesen sei der Schutzengel, der sie hierhergeführt! Das Lärmen war verstummt, sie legte den Bruder ins Gras und sich dicht daneben; bald schlief sie fest.
In dem einsamen Park, der abends verschlossen wird, weil die Liebespaare sich sonst drein verkriechen, schliefen die müden Geschwister. Um sie flatterten Schmetterlinge, gaukelten im Liebesspiel und setzten sich ermattet auf die wilden Blumen im Schatten. Jasminbüsche dufteten berauschend, wie weiße gewölbte Glocken standen sie mit der Blütenlast ihrer hängenden Zweige im dunkelnden Laubgewirr. Faune mit abgeschlagenen Nasen grinsten aus dichtverwachsenen Bosketts, Nymphen mit ausgestreckten Armen fingen mit dem Marmorweiß ihrer nackten Leiber verstohlene Sonnenstrahlen auf. Verschlafen rauschte die Sauer vorüber am verfallenen Pavillon; dessen Stuck war abgefallen, aber noch schützte das Dach, und noch sah man innen im Kuppelgewölbe die Amoretten sich tummeln um die schaumgeborene Göttin der Liebe.
Fern war das Treiben des Marktes, fern waren die vielen Füße. In der Stille der schützenden Bäume schlief Bärb tief, aber nicht sanft. Es verfolgte sie etwas in ihrem Traum, das quälte sie selbst im Schlafen. Sie warf sich unruhig, atmete laut und zog die Stirn kraus. War es der Jasminduft, der sie belästigte, oder eine Erinnerung? Mit einem Schrei wachte sie auf: – wo war sie? Mit beiden Händen faßte sie sich an den Kopf. Ein Läuten hub an, das sie erschreckte: zur Vesper, zur Vesper! Es läutete schon!
Die Maximiliansglocke läutete mit feierlichem Dröhnen das Fest des heiligen Willibrord ein; sie lud die Pilger zur Abendandacht an seinem Grabe. Von allen Seiten kam das gelaufen, was schon in der Stadt versammelt war. Bärb sah viele, die sie schon gestern und am Morgen gesehen hatte, aber noch hundert und aberhundert neue Gesichter dazu.
»Heiliger Willibrord, bitt für uns, –
Bitte für uns, heiliger Willibrord!«
Da war es wieder, das gewohnte Gemurmel. Mit ausgeruhter Stimme fiel Bärb ein. Dabei glitten ihre Augen rastlos umher: da waren Buden am Fuß der großen Treppe, Buden über Buden mit Rosenkränzen, und Weihwasserkesselchen gab es da, und Betbücher, und Heiligenlegenden mit bunten Bildern, und Willibrord-Statuen aus Porzellan und Stuck.
Sie raffte sich gewaltsam aus ihrer Zerstreuung auf. In die Pfarrkirche sich drängend zwischen allem Volk, kniete sie nieder, schlug ihr Büchlein auf und begrüßte den Heiligen demütig:
»Sei mir gegrüßt, großer Freund Gottes, heiliger Willibrord, dir zu Ehren bin ich hierhergewallt und hoffe zuversichtlich, ich werde durch deine Fürsprache von Gott Gnade und Erlösung erlangen.«
Rote und blaue zuckende Lichter fielen durch die bunten Kirchenfenster auf das St.-Willibrordus-Büchlein. Geblendet stierte Bärb hinein, sie konnte nicht weiterlesen. Ach, das war keine Andacht! Mit Scharren und Trappeln, mit Murmeln und Seufzern zogen Tausende bei ihr vorüber. In endloser Prozession; Väter und Mütter mit ihren Kindern, Greise und Greisinnen wankend am Stabe, Arme und Kranke, Junge und Alte, Aufrechte und Verkrüppelte, alle zogen sie hintereinander durchs Kirchenschiff zum Grab des heiligen Willibrord.
Bärb stellte den Dores auf die Beine: hin, hin! Er stolperte eilig auf seinen wackligen Füßchen, er kam sich selber nicht rasch genug voran. »Pä, pä!«
Da lag St. Willibrordus auf seinem vergoldeten Sarg, wie ein Bischof angetan, ein wenig aufgerichtet, gerade so, als wäre er lebend. Im Schauer der Ehrfurcht neigte sich jedermann.
»Heiliger Willibrord, bitt für uns,
Bitte für uns, heiliger Willibrord!«
Das Schiff der Kirche war erfüllt vom steigenden Murmeln, hundertfach, tausendfach; die Wölbung, gegen die es anstieß, hallte es noch dreifach zurück. Um das Grab herum, hinter dem Altar her, immer:
»Heiliger Willibrord, heiliger Willibrord!«
Bärb hätte noch gern länger am Grabe verweilt. Ach, wenn der Dores nur das äußerste Eckchen des Sarges anrühren könnte! Aber die Menge stieß sie weiter, um das Grab herum und hinein in die Sakristei.
Da saßen am Tische die Priester, feierlich ernst, und ganz vertieft in ihrem heiligen Dienst. Hunderte, Tausende von Händen streckten sich – eine Hand nach der anderen legte die Opferspende dem heiligen Willibrord fromm auf den Tisch.
»Wir bitten dich, heiliger Willibrord, erhöre uns!«
Auch Bärb nahte dem Tische. Nah vor ihr war die Frau mit dem Kropf, sie konnte gut sehen, was die opferte: einen harten Taler. Und andere gaben nicht weniger. Da, die Frau mit dem blonden Mädchen legte ein blinkendes Goldstück hin, und dort ein Herr gab gar ein paar solcher goldenen Dinger. Bärb erschrak bis ins innerste Herz: soviel hatte sie nicht. Aber am Ende besann sie sich: wer nicht viel hat, kann nicht viel geben, auch geringere Scherflein nahm der heilige Willibrord.
»Heiliger Willibrord, bitte für uns!«
Mit Mut und Entschlossenheit fuhr sie in die Tasche – da hatte sie die Mark, ihre einzige Mark, die ihr noch übriggeblieben war. Sie trat vor und legte mit der zitternden Rechten ihre Mark auf den Opfertisch. Die klimperte nicht hell wie ein großes Silberstück. Bärb wurde rot und dann blaß; ihr war es, als habe der geistliche Herr sie einen Augenblick streng angesehen. –
Zur einen Tür herein, zur anderen Tür heraus; alles ging wohl geordnet, ohne Gedränge. Bärb stand draußen, sie wußte selber nicht, wie rasch. Innen verhallten die Klänge.
Bärb fühlte jetzt auf einmal ihre ganze Verlassenheit. Der Bruder weinte vor Müdigkeit, auch ihr kamen beinahe die Tränen. Wo sollte sie hin?! Der Abend brach herein, um das alte Gemäuer der Pfarrkirche wischten die Fledermäuse. Und Menschen, Menschen, Menschen eilten in Scharen mit lautem Geschwätz, in hastiger Eilfertigkeit die steile Treppe zur Stadt hinab. Das waren Tausende, und alle wollten sie unterkommen.
Jetzt beschleunigte auch Bärb ihre Schritte; wie aus einer Erstarrung erwacht, eilte sie flüchtigen Fußes die Treppe hinab. Sie hatte das Kind wieder auf den Arm genommen, sie durchirrte mit ihm die Gassen. War es denn so schwül, so unerträglich schwül in der Enge zwischen den grauen Häusern, oder trieb nur der rasche Lauf ihr den Schweiß auf die Stirn – oder die Angst? Überall Herbergen, aber alles voll, voll bis unters Dach. Auf dem Markte Gedudel, da ging es laut her. Das Karussell drehte sich mit seinen Füttern und glitzernden Glasbehängen bei Drehorgelmusik, am Schießstand zerkrachten die Tonpfeifen, und der große Löwe, das Hauptziel der Schützen, sperrte brüllend den Rachen auf. Auf der Rampe der Schaubude schwang ein wilder Mann mit Geheul seine Keule.
Junge Burschen hatten sich untergefaßt und versperrten in breiter Reihe die Straße; ängstlich wich Bärb den Halbtrunkenen aus und quetschte sich dicht an den Häusern vorbei. Wo es ihr nicht so überfüllt erschien, fragte sie schüchtern um Nachtquartier an. Sie hatte kein Glück; alles besetzt, und sie hatte ja auch ihre Mark nicht mehr.
O weh, wenn sie nicht schon die Eisenbahnkarte zur Rückfahrt gehabt hätte, sie wäre nicht einmal mehr nach Haus gekommen! Eine heiße Sehnsucht fiel sie an nach der Stille der Heimat, nach dem Geborgensein hinter der Hecke. Sie stolperte fort übers Pflaster, blind vor rinnenden Tränen. Ach, wenn ihr doch nur ein Mensch begegnen würde, den sie kannte! Ein Tuten kam jetzt vom Marktplatz her, das sie entsetzte. Die dunkle Gasse ward plötzlich hell. Um die Ecke bog's ihr entgegen – johlende Jungen hinterdrein – der wilde Mann, jetzt ohne Keule, aber lodernde Fackeln hochschwingend, daß die Funken flogen, fletschte grinsend die Zähne.
Bärb folgte, willenlos, getrieben von der Menge. Aber sie sah nichts von dem, was der Mann verschlang – nicht bloß Feuer, nein, auch Glas und Eisen hatte er versprochen zu fressen, ein Trupp junger Burschen hatte sie aufgespürt und umkreiste sie beständig. Sie ließen ihr keine Ruhe, sie neckten sie unablässig. Und sie, so zag heute abend in ihrer Obdachlosigkeit, floh.
Jesus Maria, nur ein Mensch, ein Mensch, bei dem sie sich sicher fühlte!
An den Ufern der Sauer hinab und hinauf nächtigten viele. Wie Schatten bewegten sich Gestalten um lodernde Feuerchen; ganze Familien kampierten da. Ein Geruch der Armut durchwehte die Sommernacht, ein Geruch, der stärker war, als der weiche Duft des Jasmins und der Lindenblüte, ein Geruch des Elends, ein Geruch der bittersten Leibes- und Seelennot.
Heiliger Willibrord, bitt für uns, bitte für uns, heiliger Willibrord!
Da waren manche, die kein Dach über sich hatten diese Nacht. Bärb fühlte schon etwas wie Trost: ei, so konnten sie ja auch draußen schlafen. Vertrauend näherte sie sich, doch auch hier wurde sie verjagt: kein Platz mehr.
Verwirrt, verstört rannte Bärb sinnlos weiter. Wohin, wohin?! Schon glaubte sie wieder die Burschen von vorher hinter sich zu vernehmen – »Hetz, hetz, hussa, fangt sie, die Katz, kß, kß« – sie rannte davon, atemlos, rannte, daß sie keuchte, rannte vom Ufer hinauf, wieder den Straßen zu. Menschenleer lagen sie jetzt, still, wie ausgestorben, alle Läden geschlossen. Blindlings rannte sie gegen die Ecke einer Mauer an, prallte zurück und rannte dann – einem Mann in die Arme.