Jules Verne
Reise durch die Sonnenwelt. Zweiter Band
Jules Verne

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Fünftes Capitel.

In dem der Schüler Servadac vom Professor Palmyrin Rosette recht übel behandelt wird.

Jetzt war also für unsere Grübler, diese Hypothesenschmiede, Alles klar, Alles enthüllt. Sie wurden von einem Kometen durch die grenzenlose Sonnenwelt entführt. Nach jenem Stoße war es die Erde gewesen, welche Hector Servadac durch den dichten Wolkenschleier im Weltraume verschwinden sah. Die Erdkugel hatte damals ebenso jene einzige und ganz außerordentliche Fluth des Gallia-Meeres verursacht.

Indessen, dieser Komet sollte ja doch – wenigstens nach der Behauptung des Professors – zur Erde zurückkehren. Ob seine Berechnungen wohl verläßlich genug sein mochten, um diese Rückkehr zweifellos sicher zu stellen? Man wird zugeben müssen, daß die Bewohner der Gallia bezüglich dieses Punktes nicht völlig beruhigt sein konnten.

Die nächstfolgenden Tage benutzte man zur häuslichen Einrichtung des neuen Ankömmlings. Dieser gehörte glücklicher Weise zu den Leuten, welche nicht viele besondere Ansprüche an das Leben stellen und sich leicht jeder Lage anbequemen. Da er Tag und Nacht nur in den Himmeln, unter den Sternen lebte und den im Weltraume umherschweifenden Himmelskörpern nachspürte, so machte er sich um Wohnung und Nahrung – höchstens den Kaffee ausgenommen – blutwenig Sorge. Es schien fast, als entginge die sinnreiche innere Ausstattung des Nina-Baues, welcher sich die Kolonisten rühmten, gänzlich seiner Beachtung.

Kapitän Servadac gedachte seinem alten Lehrer das beste der vorhandenen Zimmer anzubieten. Dieser aber schlug das, offenbar wenig geneigt, das allgemeine Leben zu theilen, rundweg ab. Was er bedurfte, war ein möglichst frei und abgetrennt belegenes Observatorium, wo er sich ungestört seinen astronomischen Beobachtungen widmen konnte.

Hector Servadac und Lieutenant Prokop bemühten sich also, ein ihm zusagendes Unterkommen auszumitteln, was ihnen auch ganz nach Wunsch gelang. In der Seitenwand der vulkanischen Bergmasse entdeckten sie, etwa hundert Fuß über der Hauptaushöhlung, ein beschränktes Plätzchen, welches jedoch hinreichen mußte, einen Beobachter und dessen Instrumente aufzunehmen. Es bot den nöthigen Platz für ein Bett, einige Möbel, für Tisch, Lehnstuhl, Schrank, natürlich auch für das unumgängliche Fernrohr, welches eine seine Handhabung möglichst erleichternde Aufstellung erhielt. Ein schwacher Lavastrom, den man hierher ableitete, genügte zur Erwärmung des kleinen Raumes.

Hier also richtete der Professor sich häuslich ein, verzehrte die Mahlzeiten, die man ihm zu bestimmter Stunde brachte, hier schlief er, übrigens möglichst wenig, rechnete während des Tages, beobachtete während der Nacht, und betheiligte sich also fast gar nicht an dem Leben der Uebrigen. Alles in Allem erschien es auch am gerathensten, ihn in Anbetracht seiner eigenthümlichen Gewohnheiten sich selbst zu überlassen.

Die Kälte wurde allmälig sehr lebhaft. Das Thermometer zeigte im Mittel stets dreißig Centigrade unter Null. Das Quecksilber schwankte in seinem Rohre hier niemals auf und ab, wie in den unbeständigeren Klimaten der Erde, sondern es fiel nur langsam, aber stetig. Dieses Sinken mußte andauern, bis die niedrigsten Temperaturgrade des Weltraumes erreicht waren, da auf eine Zunahme ja nicht eher zu rechnen war, als bis die Gallia sich in ihrer elliptischen Bahn der Sonne wieder näherte.

Wenn die Quecksilbersäule im Thermometer aber niemals merkbar oscillirte, so rührte das von dem Fehlen jedes Windes her, der die Atmosphäre der Gallia bewegt hätte. Die Kolonisten befanden sich also unter ganz ausnahmsweisen klimatischen Verhältnissen. Kein Luftmolekül rührte sich von seiner Stelle. Alles, was gasförmig oder tropfbar flüssig war auf der Oberfläche des Kometen, schien vor Kälte erstarrt. Niemals kam es zu einem Gewitter, einem Platzregen, oder zeigten sich Dünste, weder am Zenith noch am Horizonte. Ebenso fehlten also jene feuchten Nebel und der trockene Höhenrauch, welche die Polarzonen des Erdsphäroides nicht selten einhüllen. Der Himmel bewahrte sich eine unveränderte und unveränderliche Klarheit, wobei der Tag von den Strahlen der Sonne, die Nacht von denen der Sterne erglänzte, ohne daß die eine mehr Wärme zu spenden schien, als die anderen.

Hierzu ist wohl zu merken, daß diese excessive Temperatur in der freien Luft doch recht wohl zu ertragen war. Denn nur die heftig bewegte kalte Luft, der scharfe, schneidende Wind, die ungesunden, Nebel, die fürchterlichen Schneewirbel – das ist es, dem sich die in den arktischen Regionen Ueberwinternden deshalb nicht ungestraft aussetzen dürfen, weil dadurch die Lungen so zu sagen ausgetrocknet und zur Erfüllung ihrer physiologischen Functionen untauglich werden. Hierin ist die Ursache zu suchen, die das Leben der Polarfahrer so häufig und ernstlich bedroht. Während der Perioden der Ruhe aber, wenn die Atmosphäre nicht erregt ist, können sie, sei es auf der Insel Melville, wie Parrey, oder jenseit des 81. Breitengrades, wie Kane, ja, noch über den von dem unerschrockenen Hall und den Naturforschern der »Polaris« erreichten Grenzen, der Kälte und wenn sie noch so intensiv wäre, recht wohl trotzen. Sobald sie nur geeignete Kleidung und hinreichende Nahrung haben, setzen sie sich bei Windstille der stärksten Temperatur-Erniedrigung aus, und haben das selbst gewagt, wenn die Alkoholthermometer sechzig Grad unter Null zeigten.

Die Kolonisten von Warm-Land befanden sich also unter den günstigsten Verhältnissen gegenüber der Kälte des leeren Weltraumes.

An Pelzwerk aus den Vorräthen der Goëlette und an selbst zugerichteten Fellen litten sie ja keinen Mangel. Ihre Nahrung war stoffreich und gesund. Die Ruhe der Atmosphäre gestattete ihnen gleichzeitig, trotz der sehr starken Erniedrigung der Temperatur nach Belieben ein- und auszugehen.

Der General-Gouverneur der Gallia achtete übrigens mit besonderer Sorgfalt darauf, daß Alle stets entsprechend warm gekleidet und ordentlich ernährt blieben. Gesundheitsfördernde Uebungen waren nicht nur vorgeschrieben, sondern wurden auch täglich gewissenhaft ausführt. Nichts geschah außerhalb des Programmes für das gemeinschaftliche Leben. Weder der junge Pablo noch die kleine Nina bildeten eine Ausnahme von dieser Regel. Halb vermummt in ihren Pelzen, ähnelten diese liebenswürdigen Wesen fast graziöseren Eskimos, wenn sie am Ufer von Warm-Land Schlittschuh liefen. Pablo zeigte sich immer besorgt um seine Gespielin. Er nahm an ihren Vergnügungen theil und unterstützte sie, wenn sie einmal ermüdete. Beide benahmen sich eben, wie Kinder ihres Alters zu thun pflegen.

Und was wurde aus Isaak Hakhabut?

Nach seiner ungeschickten Interpellation Palmyrin Rosette's war er ganz bestürzt nach seiner Tartane zurückgekehrt. In den bisherigen Vorstellungen des Juden vollzog sich nun eine wesentliche Veränderung. Jene eingehenden und bestimmten Angaben des Professors konnte er wohl nicht bezweifeln und bezweifelte er auch nicht mehr. Er wußte es jetzt, daß ein umherirrender Komet ihn durch den Weltraum führte, Millionen Meilen hinweg von der Erdkugel, auf der er so viele und so gute »Geschäftchen« gemacht hatte!

Wenn er sich jetzt betrachtete, der sechsunddreißigste Bewohner der Gallia, sollte man wohl annehmen, daß diese, jeder menschlichen Voraussicht spottende Lage seine Gedanken und seinen Charakter einigermaßen beeinflußt und zu einer gewissen Einkehr in sich selbst bestimmt haben müßte, daß bessere Gefühle in ihm zum Durchbruch gekommen wären gegen die Wenigen, welche Gottes Gnade noch an seiner Seite gelassen hatte, um sie nicht ferner nur als Ziel seiner Habsucht zu betrachten.

Leider war dem nicht so. Hätte sich Isaak Hakhabut geändert, so wäre er ja nicht mehr das Musterexemplar dessen gewesen, was der Mensch werden kann, der immer nur an sich selbst denkt. Im Gegentheil, seine Sinnesart verhärtete sich eher noch mehr; er dachte nur an das Eine: die gegebene Lage bis zum Aeußersten auszunutzen. Den Kapitän Servadac kannte er längst viel zu gut, um sicher zu sein, daß ihm von keiner Seite werde ein Unrecht geschehen dürfen; er wußte sein Heil unter den Schutz eines französischen Officiers gestellt, und daß ihm, von höherer Gewalt abgesehen, gewiß keine Schädigung drohe. Da der Eintritt einer höheren Gewalt nicht zu erwarten stand, so schmiedete Isaak Hakhabut seine Pläne für die nächste Zukunft in folgender Weise:

Waren die Aussichten auf eine Rückkehr nach der Erde auch nur gering, so durften sie doch nicht völlig aus dem Auge gelassen werden. Englisches und russisches Gold und Silber fehlte nun der kleinen Kolonie keineswegs, einen eigentlichen Werth erlangte es aber natürlich erst, wenn es wieder auf der alten Erde in Umlauf kommen konnte. Es galt also jetzt, den ganzen Münzenvorrath der Gallia zusammenzuscharren. Isaak Hakhabut's Interesse lief demnach darauf hinaus, seine Waaren vor der Rückkehr an den Mann zu bringen, da sie schon ihrer Seltenheit wegen auf der Gallia in noch höherem Werthe stehen mußten als auf der Erde – aber damit zu warten, bis in Folge der nicht abweisbaren Bedürfnisse der Kolonie die Nachfrage das Angebot übersteigen werde. Dann mußte eine merkliche Preissteigerung eintreten und ein guter Gewinn gesichert sein. Hakhabut's Losung hieß also: Verkaufen, aber abwarten, um besser zu verkaufen.

Das waren etwa die Gedanken, mit denen der Jude sich in der engen Cabine der Hansa beschäftigte. Jedenfalls war man dabei seines widerwärtigen Anblicks enthoben, worüber sich Niemand beklagen konnte.

Während des Monats April belief sich der von der Gallia zurückgelegte Weg auf 23½ Millionen Meilen und der Abstand von der Sonne am Ende des Monats auf 66 Millionen Meilen. Der Professor hatte sehr genaue Ephemeriden entworfen, auf welchen die elliptische Bahn des Kometen verzeichnet stand. Vierundzwanzig ungleich große Abtheilungen dieser Curve stellten die vierundzwanzig Monate des Gallia-Jahres dar. Diese Abtheilungen veranschaulichten also den allmonatlich durchlaufenen oder zu durchlaufenden Weg. Die ersten zwölf Segmente der Curve nahmen bis zum Punkte des Aphels an Länge ab – ganz entsprechend einem der drei Kepler'schen Gesetze; jenseit dieses Punktes wuchsen diese Abtheilungen wieder je nach der Annäherung an das Perihel der Bahn.

Eines Tages – es war am 12. Mai – legte der Professor dem Kapitän Servadac, Grafen Timascheff und Lieutenant Prokop seine Arbeit vor, welch Letztere dieselbe mit leicht begreiflichem Interesse betrachteten. Die vollständige Bahnlinie der Gallia lag vor ihren Augen, und sie erkannten, daß sich dieselbe bis etwas über die Bahn des Jupiter hinaus erstreckte. Die jeden Monat zurückgelegten Strecken sowie die Abstände von der Sonne waren auch in Zahlen ausgedrückt. Hier zeigte sich Alles ganz klar, und sobald Palmyrin Rosette sich nicht geirrt hatte, wenn die Gallia ihre Revolution wirklich genau in zwei Jahren vollendete, so mußte sie auch der Erde an der Stelle des ersten Zusammenstoßes wieder begegnen, da letztere in derselben Zeit zweimal ihre Bahn um die Sonne vollendet haben mußte. Von welchen Folgen aber würde der neue Zusammenstoß begleitet sein? Man wagte kaum darüber nachzudenken.

Wenn man auch über die unbedingte Verläßlichkeit der Palmyrin Rosette'schen Arbeit vielleicht einige Zweifel hegte, so erschien es doch gerathen, diese nicht sichtbar werden zu lassen.

»Die Gallia wird demnach,« sagte Hector Servadac, »im Laufe des Monats Mai nur 18.240.000 Meilen durchfliegen und sich von der Sonne bis auf 83.400.000 Meilen entfernen?«

»Ganz richtig,« bestätigte der Professor.

»Wir haben also die Zone der teleskopischen Planeten schon überschritten?« fügte Graf Timascheff hinzu.

»Urtheilen Sie selbst, Herr Graf,« erwiderte Palmyrin Rosette, »ich habe die Zone jener Planeten hier eingezeichnet.«

»Und der Komet wird also,« fragte Hector Servadac weiter, »gerade ein Jahr nach dem Passiren des Perihels an seinem Aphel anlangen?«

»Gewiß.«

»Am nächsten 15. Januar?«

»Natürlich, am 15. Januar . . . . und doch, nein!« rief der Professor. »Warum sagen Sie am 15. Januar, Kapitän Servadac?

»Weil der Zeitraum vom 15. Januar bis wieder zu demselben Datum ein Jahr oder, anders ausgedrückt, zwölf Monate umfaßt.«

»Zwölf Erdenmonate, ja!« versetzte der Professor, »nicht aber zwölf Gallia-Monate!«

Lieutenant Prokop konnte sich bei diesem unerwarteten Ausspruche eines Lächelns nicht erwehren.

»Sie lachen da, Herr Lieutenant,« wandte sich der Professor an diesen, »und warum lachen Sie denn?«

»O, Herr Professor, nur deshalb, weil ich sehe, daß Sie den Erdenkalender reformiren wollen.«

»Ich will nichts Anderes, mein Herr, als logisch sein!«

»Ja wohl, wir wollen logisch verfahren, lieber Professor,« rief Hector Servadac dazwischen, »immer nur logisch!«

»Geben Sie zunächst zu,« fragte Palmyrin Rosette in trockenstem Docententone, »daß die Gallia zwei Jahre nach Passirung ihres Perihels wieder bei demselben eintreffen wird?«

»Ohne Widerrede.«

»Stellt diese Periode von zwei Jahren, während welcher unser Komet seine Revolution um die Sonne beendet, nicht das Gallia-Jahr vor?«

»Gewiß.«

»Muß nicht dieses Jahr, so wie jedes beliebige andere, in zwölf Monate getheilt werden?«

»Wenn Sie es so wollen, lieber Professor . . .«

»Hier handelt es sich nicht darum, ob ich will . . .«

»Nein, nein, es ist richtig, in zwölf Monate!« sagte Hector Servadac nachgebend.

»Und wie viele Tage werden diese Monate zählen?«

»Nun, sechzig Tage, da diese um die Hälfte kürzer geworden sind.«

»Kapitän Servadac,« entgegnete der Professor streng, »überlegen Sie erst, was sie sagen . . .«

»Aber ich denke, ich gehe damit vollständig auf Ihr System ein,« antwortete Hector Servadac.

»Keineswegs.«

»Nun, so erklären Sie mir . . .«

»Nichts einfacher als das!« fiel ihm Palmyrin Rosette in's Wort, wobei er etwas mitleidig und wegwerfend die Achseln zuckte. »Jeder Gallia-Monat umfaßt doch zwei irdische Monate, nicht wahr?«

»Ohne Zweifel, da das Gallia-Jahr zwei Erdenjahre währt.«

»Zwei Monate enthalten auf der Erde aber sechzig Tage?«

»Richtig, sechzig Tage.«

»Und folglich? . . .« fragte Graf Timascheff zu Palmyrin Rosette gewendet.

»Wenn zwei Monate auf der Erde sechzig Tage zählen, so ergiebt das hundertzwanzig Gallia-Tage, da die Dauer eines Tages auf der Gallia nur zwölf Stunden beträgt. Verstanden?«

»Vollkommen, Herr Professor,« antwortete Graf Timascheff. »Doch fürchten Sie nicht, daß dieser Kalender leicht verwirrend wirken werde?«

»Verwirrend!« rief der Professor, »schon seit dem 1. Januar zähle ich nicht mehr anders!«

»Unsere Monate würden folglich,« fragte Hector Servadac, »mindestens hundertzwanzig Tage zählen?«

»Was finden Sie Schlimmes dabei?«

»O, gar nichts, lieber Professor. Anstatt also jetzt im Mai zu leben, haben wir nun erst März?«

»So ist es, meine Herren; wir haben den zweihundertsechsundsechzigsten Gallia-Tag, der dem hundertdreiunddreißigsten auf der Erde entspricht. Heute ist demnach der 12. Gallia-März und nach weiteren sechzig Tagen . . .«

»Werden wir den 72. März zählen!« rief Hector Servadac. »Bravo! Nur immer logisch!«

Palmyrin Rosette sah aus, als fragte er sich, ob sein früherer Schüler sich nicht etwas über ihn lustig mache; doch, da es schon etwas spät geworden war, verließen die drei Besucher das Observatorium ohne weitere Auseinandersetzung.

Der Professor hatte also den Kalender für die Gallia festgestellt. Jedenfalls – und das sei hier im Voraus bemerkt – bediente er sich desselben nur allein und Niemand verstand ihn, wenn er etwa vom 48. April oder vom 118. Mai sprach.

Inzwischen kam der Monat Juni – nach dem alten Kalender – heran, während welches die Gallia nur 16½ Millionen Meilen Weg zurücklegen und sich bis auf 93 Millionen Meilen von der Sonne entfernen sollte. Die Temperatur nahm zwar noch weiter ab, doch die Atmosphäre blieb ebenso rein, ebenso ruhig wie bisher. Das Leben auf der Gallia ging mit vollendeter Regelmäßigkeit, um nicht zu sagen Monotonie, vor sich. Diese Monotonie zu stören, bedurfte es nichts Geringeres, als jener närrischen, nervösen, launenhaften, ja zänkischen Persönlichkeit Palmyrin Rosette's. Wenn er sich einmal herabließ, seine Beobachtungen zu unterbrechen und in der gemeinsamen Wohnung zu erscheinen, so war ein neuer Auftritt immer bald zu erwarten.

Die Unterhaltung bewegte sich dann regelmäßig um das Thema, daß Hector Servadac und seine Gefährten, so groß auch die Gefahren eines neuen Zusammentreffens mit der Erde sein mochten, sich doch auf dessen künftigen Eintritt freuten. Das genügte, den Professor in Harnisch zu bringen, da dieser von einer Rückkehr am liebsten gar nichts hören wollte und seine Studien auf der Gallia fortsetzte, als sollte er hier ewig leben.

Eines Tages – am 27. Juni – platzte Palmyrin Rosette wie eine Bombe in den Hauptsaal hinein. Hector Servadac, Lieutenant Prokop, Graf Timascheff und Ben-Zouf befanden sich eben in demselben.

»Lieutenant Prokop,« rief er, »beantworten Sie mir ohne Umwege und ohne von der Sache abzuschweifen, was ich Sie fragen werde.«

»Ich bin es gar nicht gewöhnt –« entgegnete Lieutenant Prokop.

»Gut, schon gut,« schnitt ihm Palmyrin Rosette jedes weitere Wort ab, als habe er einen Gymnasiasten vor sich. »Antworten Sie also: Haben Sie – ja oder nein! – mit der Goëlette die Gallia auf ihrem Aequator oder doch längs eines der größten Kreise umschifft?«

»Ja, Herr Professor,« antwortete Lieutenant Prokop, den Graf Timascheff durch ein Zeichen verständigt hatte, sich dem schrecklichen Professor zu fügen.

»Gut,« sagte der Letztere. »Haben Sie bei dieser Entdeckungsreise auch den von der Dobryna durchlaufenen Weg gemessen?«

»Wenigstens annähernd,« erwiderte Prokop, »das heißt mit Hilfe des Log und des Kompasses, nicht aber durch Beobachtung der Sonnen- und Sternhöhen, die zu berechnen uns unmöglich war.«

»Und was haben Sie gefunden?«

»Für den Umfang der Gallia etwa 2300 Kilometer, wonach ihr Durchmesser also 740 Kilometer betragen müßte.«

»Ja . . .« antworte Palmyrin Rosette halb für sich, »dieser Durchmesser wäre also sechzehnmal kleiner als der der Erde, welcher zu 12.792 Kilometer angenommen wird.«

Kapitän Servadac und seine beiden Gefährten sahen den Professor an, ohne noch zu wissen, wo er hinaus wolle.

»Schön,« fuhr Palmyrin Rosette fort; »zur Vollendung meiner Studien über die Gallia muß ich nun noch deren Oberfläche, Volumen, Masse, Dichtigkeit und die Intensität der Schwerkraft auf derselben wissen.«

»Was die Oberfläche und das Volumen betrifft,« bemerkte Lieutenant Prokop, »so sind diese ja, da uns der Durchmesser der Gallia bekannt ist, ganz leicht zu finden.«

»Habe ich denn gesagt, daß das schwierig wäre?« rief der Professor. »Solche Rechnungen führte ich schon aus, als ich zur Welt kam.«

»Oho!« knurrte Ben-Zouf, der nur auf die Gelegenheit wartete, den Verächter des Montmartre zu ärgern.

»Schüler Servadac,« sagte Palmyrin Rosette, nachdem er Ben-Zouf einen Augenblick strafend betrachtet hatte, »nehmen Sie Ihre Feder. Da Sie den Umfang eines größten Kreises der Gallia kennen, so sagen Sie mir, wie groß deren Oberfläche ist.«

»Sofort, Herr Rosette,« antwortete Hector Servadac, der sich einmal als guter Schüler benehmen wollte. »Wir haben 2325 Kilometer, den Umfang der Gallia, mit 740, ihrem Durchmesser zu multipliciren.«

»Ja, ja, beeilen Sie sich nur!« drängte der Professor. »Das müßte schon fertig sein. Nun?«

»Ich erhalte da,« antwortete Hector Servadac, »als Product 1.719.020 Quadrat-Kilometer für die Oberfläche der Gallia.«

»Das wäre demnach eine zweihundertsiebenundneunzigmal kleinere Oberfläche als die der Erde, welche 510 Millionen Quadrat-Kilometer enthält.«

»Pah!« machte Ben-Zouf und schnitt dabei ein Gesicht, welches seine Verachtung dieses Kometen des Professors ausdrücken sollte.

Ein funkelnder Blitz aus den Augen des Gelehrten strafte ihn.

»Nun,« fuhr der Professor allmälig warm werdend fort, »was beträgt also das Volumen der Gallia?«

»Das Volumen? . . .« erwiderte Hector Servadac zögernd.

»Schüler Seroadac, können Sie denn nicht mehr das Volumen einer Kugel, deren Oberfläche gegeben ist, berechnen?«

»Doch, Herr Rosette . . . aber Sie lassen den Menschen ja gar nicht einmal aufathmen.«

»Bei der Beschäftigung mit Mathematik ist gar nichts aufzuathmen, mein Herr, da athmet man so gut, wie gar nicht.«

Alle Anwesenden mußten ihren ganzen Ernst zusammen nehmen, um nicht laut aufzulachen.

»Wird es denn endlich?« fragte der Professor. »Der Kubikinhalt einer Kugel ist . . .«

»Gleich dem Producte aus deren Oberfläche . . .« antwortete Hector Servadac halb auf's Gerathewohl, »multiplicirt mit . . .«

»Mit dem dritten Theile des Radius, mein Herr!« polterte Palmyrin Rosette heraus, »mit dem dritten Theil des Radius. Sind Sie nun fertig?«

»Ziemlich! Der dritte Theil des Gallia-Halbmessers beträgt hundertdreiundzwanzig drei Zehntel, drei Hundertstel, drei Tausendstel, drei Zehntau . . .«

»Drei, drei, drei, drei Xtel . . .« setzte Ben-Zouf die Aufzählung durch alle Stufen der Tonleiter weiter fort.

»Ruhe!« rief der Professor, der nun ernsthaft böse wurde. »Begnügen Sie sich mit den ersten beiden Decimalen und vernachlässigen Sie die übrigen.«

»Ich thue es schon.«

»Nun also?«

»Das Product aus 1.719.020 mit 123,33 ergiebt 211.439.460 Kubik-Kilometer.«

»Das ist demnach das Volumen meines Kometen! In der That, er kann sich schon sehen lassen!«

»Gewiß,« bemerkte Lieutenant Prokop, »doch dieses Volumen ist immer noch 5166mal kleiner als das der Erde, welches in runden Zahlen . . .«

»Eine Trillion zweiundachtzig Milliarden und achthunderteinundvierzig Millionen Kubik-Kilometer beträgt, das weiß ich wohl, mein Herr,« unterbrach ihn Palmyrin Rosette.

»Und folglich,« setzte Lieutenant Prokop hinzu, »erreicht das Volumen der Gallia noch lange nicht das des Mondes, welches den neunundvierzigsten Theil des Erdvolumens darstellt.«

»Wer hat davon überhaupt eine Sylbe gesprochen?« warf der in seiner Eigenliebe verletzte Gelehrte ein.

»Also,« fuhr Lieutenant Prokop unerbittlich weiter fort, »kann die Gallia von der Erde aus nicht mehr sichtbar sein als ein Stern siebenter Größe, das heißt, sie ist jetzt mit bloßem Auge gar nicht mehr zu erkennen.«

»Alle Wetter,« rief Ben-Zouf, »das ist mir ein hübscher Komet! Und auf diesem Krümelchen laufen wir herum!«

»Ruhe!« rief Palmyrin Rosette ganz außer sich.

»Ein kleines Nüßchen, eine Kichererbse, ein Senfkörnchen!« fuhr Ben-Zouf fort, um sich doch einmal an dem Gelehrten zu rächen.

»Schweig, Ben-Zouf!« befahl ihm auch Kapitän Servadac.

»Ein Stecknadelkopf! Noch mehr, das Nichts von einem Nichtse!«

»Alle Wetter, wirst Du still sein?«

Ben-Zouf bemerkte, daß sein Kapitän ernstlich böse wurde, er räumte also das Gemach, rief durch das hellste Lachen aber alle Echos der vulkanischen Bergwand wach.

Es war die höchste Zeit gewesen, daß er ging. Palmyrin war nahe daran gewesen, alle Rücksichten zu vergessen und brauchte längere Zeit, um sich einigermaßen zu beruhigen. Seine Empfindlichkeit bezüglich des Kometen glich eben ganz der Ben-Zouf's bezüglich des Montmartre. Jeder verteidigte seinen Schützling mit eifersüchtiger Hartnäckigkeit.

Endlich fand der Professor die Sprache wieder und wandte sich an seine Schüler, oder vielmehr an seine Zuhörer wie folgt:

»Wir kennen nun, meine Herren,« begann er, »Durchmesser, Umfang, Oberfläche und Volumen der Gallia. Das ist wohl etwas, aber noch nicht Alles. Ich muß nun durch direkte Messung noch deren Masse und Dichtigkeit, sowie die Intensität der Schwerkraft auf ihrer Oberfläche zu bestimmen suchen.«

»Das dürfte wohl schwierig werden,« meinte Graf Timascheff.

»Thut nichts. Ich brauche dazu nur zu wissen, wieviel mein Komet wiegt.«

»Die Lösung dieses Problems,« bemerkte Lieutenant Prokop, »erscheint mir etwas erschwert durch den Umstand, daß wir die Natur der Substanz, aus welcher die Gallia besteht, ganz und gar nicht kennen.«

»Ah, Sie kennen diesen Stoff also nicht?« erwiderte der Professor.

»Nein,« antwortete Graf Timascheff, »und wenn Sie uns in dieser Hinsicht aufzuklären vermöchten . . .«

»O, meine Herren, was geht mich das an?« sagte Palmyrin Rosette. »Ich werde meine Fragen auch ohnedem zu lösen wissen.«

»Wenn Sie es wünschen, lieber Professor, stehen wir jederzeit zu Ihrer Verfügung,« erklärte Kapitän Servadac.

»Noch habe ich einen Monat lang Beobachtungen anzustellen und Rechnungen auszuführen,« antwortete Palmyrin Rosette abweisend, »und Sie werden sich, denke ich, gedulden, bis ich zu Ende bin!«

»Aber, Herr Professor,« entgegnete Graf Timascheff zuvorkommend, »wir warten selbstverständlich so lange es Ihnen beliebt.«

»Und selbst noch etwas länger,« setzte Kapitän Servadac hinzu, der diesen Scherz nicht zurückhalten konnte.

»Nun wohl,« schloß Palmyrin Rosette, »so stellen Sie sich nach Ablauf eines Monats, also am kommenden 62. April wieder ein.«

Dieses Datum entsprach dem 31. Juli des Erdenkalenders.

 


 << zurück weiter >>