Jules Verne
Reise durch die Sonnenwelt. Zweiter Band
Jules Verne

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Erstes Capitel.

In welchem der sechsunddreißigste Bewohner des Gallia-Sphäroïdes ohne besondere Feierlichkeit vorgestellt wird.

Der sechsunddreißigste Bewohner der Gallia war endlich auf Warm-Land angekommen. Bisher blieben die einzigen, kaum verständlichen Worte aus seinem Munde jener Ausruf:

»Das ist mein Komet, der meine! Das ist mein Komet!«

Was bedeutete dieser Satz? Wollte er damit sagen, daß jene bisher unerklärte Thatsache, die Hinausschleuderung eines kolossalen Stückes der Erde in den Weltraum, von dem Stoße eines Kometen herzuleiten sei? Hatte das Erdsphäroïd also einen Zusammenstoß erlitten? Belegte der Einsiedler von Formentera mit dem Namen »Gallia« nun jenen Haarstern oder den in die Sonnenwelt hinausgeschleuderten Block mit diesem Namen? Die Lösung dieser Frage war nur von dem Gelehrten selbst zu erwarten, der seinen Kometen so energisch reclamirt hatte.

Jedenfalls durfte man diesen Halbtodten als den Urheber jener kurzen Nachrichten betrachten, welche die Dobryna während der Reise aufgefischt hatte, ihn auch als den Astronomen, von welchem das durch die Brieftaube nach Warm-Land überbrachte Document herrührte. Nur er allein konnte Etui und Büchse in das Meer geworfen und die Freiheit jenem Vogel gegeben haben, den sein Instinct nach dem einzigen bewohnbaren und wirklich bewohnten Punkt des neuen Asteroiden geführt hatte. Der Gelehrte kannte also – daran war nicht mehr zu zweifeln – einige Elemente der Gallia. Ihm war es gelungen, deren zunehmende Entfernung von der Sonne zu messen und die Abnahme ihrer Bahn-Geschwindigkeit zu berechnen. Hatte er auch – und das blieb doch die Hauptfrage – die Natur ihrer Bahn bestimmt und ermittelt, ob diese eine Hyperbel, eine Parabel oder eine Ellipse bildete? Hatte er diese krumme Linie durch drei aufeinander folgende Beobachtungen der Gallia bestimmt? Wußte er, ob der neue Weltkörper sich in den erwünschten Verhältnissen befand, um einmal nach der Erde zurückzukehren, und auch in welcher Zeit das geschehen werde?

Das waren etwa die Fragen, die Graf Timascheff erst sich selbst, dann aber auch Kapitän Servadac und Lieutenant Prokop vorlegte. Letzterer vermochte sie natürlich nicht zu beantworten. Auch sie hatten alle diese verschiedenen Hypothesen in's Auge gefaßt und während ihrer Rückfahrt allseitig erwogen, ohne doch zu einem Resultate zu kommen. Zum Unglück schien es nun, als hätten sie den einzigen Menschen, der die Lösung dieser Probleme besitzen mochte, nur als Leiche mit zurückgebracht! Wenn das der Fall war, so mußte man eben auf jede Hoffnung, die Zukunft der Gallia-Welt vorher zu erfahren, verzichten.

Jetzt galt es demnach vor allen Dingen, den Körper des Astronomen, welcher kein Lebenszeichen gab, wieder zu erwecken. Die mit allen Arzneimitteln reichlich ausgestattete Apotheke der Dobryna konnte ja gar keine bessere Verwendung finden, als zur Erreichung dieses Zieles zu verhelfen. Man ging also sofort an's Werk; vorzüglich auf Ben-Zouf's ermuthigende Zurufe:

»Vorwärts nur, mein Kapitän! Sie glauben gar nicht, was für ein zähes Leben solche Gelehrte haben!«

Nun begann man denn mit der Behandlung des Scheintodten, sowohl äußerlich durch so kräftiges Kneten, daß es einen Lebendigen fast umgebracht hätte, als auch innerlich durch so herzhafte Reizmittel, daß sie wohl einen Todten wieder erweckt hätten.

Ben-Zouf, den Negrete gelegentlich ablöste, wurde mit der äußerlichen Behandlung betraut, und man darf sicher sein, daß diese beiden handfesten Massirer ihre Arbeit gewissenhaft verrichteten.

Inzwischen fragte sich Hector Servadac vergeblich, wer dieser Franzose wohl sein möge, den er von Formentera mitgebracht, und in welchen Beziehungen er jemals zu ihm gestanden haben könne.

Er hätte ihn wohl wieder erkennen sollen; aber er hatte jenen nur in dem Lebensalter gesehen, das man nicht ohne Grund das »undankbare Alter« zu nennen pflegt, was es in moralischem und physischem Sinne gleichmäßig ist.

In der That war jener Gelehrte, der hier in dem großen Saale des Nina-Baues lag, niemand Anderer als Hector Servadac's alter Lehrer der Physik am Gymnasium Charlemagne.

Dieser Lehrer hieß Palmyrin Rosette. Er war ein Gelehrter durch und durch und vorzüglich bewandert in den Fächern der Mathematik. Schon in dem ersten Jahre hatte Hector Servadac von der untersten Classe das Gymnasium Charlemagne verlassen, um nach der Militärschule von Saint-Cyr überzusiedeln; seitdem hatten sich sein Lehrer und er niemals wieder gesehen und, so glaubten sie wenigstens, einander vollständig vergessen.

Als Schüler befleißigte sich Hector Servadac, wie wir wissen, der Studien eben nicht mit besonderem Eifer. Dafür aber spielte er, im Vereine mit einigen anderen Kameraden von dem nämlichen Schlage, dem armen Palmyrin Rosette gern die ärgsten Streiche.

Wer setzte damals dem destillirten Wasser im Laboratorium wiederholt einige Salzkörnchen zu, so daß es bei den Experimenten oft die unerwartetsten Reactionen hervorbrachte? Wer entnahm dem Gefäße des Barometers einen Tropfen Quecksilber, um es in schreienden Widerspruch mit dem Zustand der Atmosphäre zu setzen? Wer erwärmte das Thermometer immer einige Augenblicke vorher, bevor der Lehrer nach ihm sah? Wer steckte immer Abends Insecten zwischen Ocular und Objectiv der Fernröhre? Wer störte die Isolirung der Elektrisirmaschine, so daß sie keinen einzigen Funken gab? Wer machte endlich ein unsichtbares Loch in den Teller der Luftpumpe, so daß Palmyrin Rosette sich abmühen konnte, so viel er wollte, ohne einen luftleeren Raum erzeugen zu können?

Das waren so etwa die gewöhnlichen Unarten: des Schülers Servadac und seiner ausgelassenen Gesellschaft.

Derlei Possenstreiche ergötzten aber die Schüler um so mehr, als der betreffende Professor ein Isegrimm erster Sorte war. Da gab es denn manchen Ausbruch von Zorn und Wuth, der die »alten Häuser« des Gymnasiums weidlich amüsirte.

Zwei Jahre nach Hector Servadac's Abgang, vom Gymnasium verließ auch Palmyrin Rosette, der in sich mehr den Kosmographen als den Physiker fühlte, die Laufbahn als Lehrer, um sich ganz und gar den astronomischen Studien zu widmen. Er suchte eine Stellung bei der Sternwarte zu erhalten. Bei seinem unter den Gelehrten des Observatoriums bekannten griesgrämigen Charakter aber blieben ihm die Pforten desselben verschlossen. Da er einiges Vermögen besaß, betrieb er nun, ohne officiellen Titel, Astronomie auf eigene Faust und machte sich ein besonderes Vergnügen daraus, die Arbeiten anderer Astronomen recht bitter zu kritisiren. Man verdankte ihm übrigens die Entdeckung der letzten drei teleskopischen Planeten und die Berechnung der Elemente des 123. Kometen des Katalogs. Professor Rosette und sein Schüler Servadac hatten sich aber, wie gesagt, vor jenem zufälligen Zusammentreffen auf dem Eilande Formentera niemals wieder getroffen. Nach Verlauf von zwölf Jahren durfte es also nicht Wunder nehmen, wenn Kapitän Servadac seinen alten Lehrer Rosette, vorzüglich bei dem Zustande, in welchem er ihn fand, nicht sofort wieder erkannte.

Als Ben-Zouf und Negrete den Gelehrten aus den Pelzen gewickelt hatten, die ihn vom Kopf bis zu den Füßen umhüllten, sahen sie sich gegenüber einem kleinen Manne von fünf Fuß zwei Zoll Länge, der jetzt offenbar abgemagert war, es aber auch schon von Natur zu sein schien, mit einem jener schön polirten Schädel, welche dem dicken Ende eines Straußeneies so auffallend ähneln, ohne jeden Bart, wenn man von dem Anflug eines solchen absah, der seit acht Tagen nicht rasirt sein mochte, mit langer, scharf gebogener Nase, auf der eine gewaltige Brille saß, die ja bei gewissen kurzsichtigen Personen einen integrirenden Bestandtheil des Individuums auszumachen scheint.

Unzweifelhaft war dieses Männchen sehr nervöser Natur. Man hätte ihn wohl mit einem Rühmkorff'schen Inductor vergleichen können, dessen Drahtwindungen einen Nerven von mehreren Hectometern Länge darstellten, und in dem der Nervenstrom die Elektrizität, und zwar in derselben Intensität, ersetzte. Mit einem Worte, die »Nervosität« – man verzeihe dieses hier etwas kühn gebrauchte Wort – war in dem Rosette'schen Inductor mit ebenso hoher Spannung aufgespeichert, wie die Elektricität in dem Rühmkorff'schen.

So nervös der Professor auch sein mochte, so lag darin kein Grund, ihn ohneweiters aus dem Leben entwischen zu lassen. In einer Welt, welche nur fünfunddreißig Bewohner zählt, ist das Leben des Sechsunddreißigsten nicht zu verachten. Als der Scheintodte zum Theil entkleidet war, konnte man sich überzeugen, daß sein Herz, wenn auch nur schwach, doch jedenfalls noch schlug. Voraussichtlich mußte er also, bei der peinlichen Sorgfalt, welche ihm gewidmet ward, auch wieder zum Bewußtsein kommen. Ben-Zouf knetete und frottirte den trockenen Körper wie eine alte Weinrebe, so daß man fürchten mußte, er werde Feuer fangen, und trällerte dazu, als putze er seinen Säbel zu einer Parade, den bekannten Refrain:

»Nur Tripolis, Du Sohn des Ruhms,
Verdankt Dein Stahl den schönen Glanz.«

Endlich, nach zwanzig Minuten des unablässigen Reibens, entrang sich ein Seufzer den Lippen des Halbtodten, dem bald ein zweiter und ein dritter nachfolgten. Seine Augen öffneten sich ein wenig, schlossen sich wieder und öffneten sich dann weiter, offenbar völlig unklar über die Verhältnisse, in denen er sich wiederfand. Der bisher hermetisch geschlossene Mund ließ jetzt eine leichte Spalte zwischen den Lippen sehen. Er murmelte einige Worte, welche jedoch Niemand verstehen konnte. Palmyrin Rosette streckte die rechte Hand aus und erhob sie nach der Stirn, als suche er etwas, was da nicht zu finden war. Dann verzerrten sich seine Züge und das Gesicht röthete sich, als könnte er nur gleichzeitig mit einem Zornausbruch in's Leben zurückkehren, und er rief laut:

»Meine Brille! Wo ist meine Brille?«

Ben-Zouf suchte die verlangte Brille. Er fand sie glücklich wieder. Das monumentale Gestell war mit wahrhaft teleskopischen Gläsern ausgestattet. Während des Massirens war jene von den Schläfen abgefallen, auf welche sie doch fest angeschraubt schien, als verlief eine Achse derselben von einem Ohre zum anderen durch den Schädel des Gelehrten. Jetzt ward das Monstrum wieder auf der Adlernase, ihrem gewöhnlichen Sitze, angebracht, worauf noch ein neuer Seufzer, der aber in ein »Brumm, brumm« von guter Vorbedeutung ausging, nachfolgte.

Kapitän Servadac hatte sich über das Antlitz Palmyrin Rosette's geneigt, den er mit gespannter Aufmerksamkeit ansah. Gerade jetzt öffnete dieser die Augen vollständig. Ein lebhafter Blick schoß durch die dicken Linsen der Brille und mit höchst ärgerlicher Stimme rief der Gerettete:

»Schüler Servadac, fünfhundert Zeilen Strafarbeit bis morgen!«

Das waren die Worte, mit denen Palmyrin Rosette den Kapitän Servadac begrüßte.

Gerade durch diese Sonderbarkeit des Anfangs einer Unterhaltung, welche offenbar auf eine plötzliche Erinnerung an die früheren Streiche Hector Servadac's zurückzuführen war, erkannte auch dieser, obwohl er buchstäblich zu träumen glaubte, seinen alten Lehrer der Physik vom Gymnasium Charlemagne wieder.

»Herr Palmyrin Rosette!« rief er. »Mein alter Lehrer hier mit Fleisch und Bein!«

»Vorläufig mehr mit dem letzteren,« bemerkte Ben-Zouf.

»Alle Wetter, das nenne ich ein eigenthümliches Zusammentreffen!« fügte Kapitän Servadac erstaunt hinzu.

Inzwischen war Palmyrin Rosette auf's Neue in eine Art Schlummer versunken, den man für passend hielt, zu respectiren.

»Beruhigen Sie sich, mein Kapitän,« sagte Ben-Zouf. »Er wird leben, ich stehe Ihnen dafür. Diese Leutchen bestehen ja fast nur aus Nerven. Ich habe noch weit ausgetrocknetere gesehen, welche noch viel weiter herkamen.«

»Und woher denn, Ben-Zouf?«

»Aus Egypten z. B., mein Kapitän, in einem hübschen eisenbeschlagenen Kasten.«

»Das waren wohl Mumien, Dummkopf!«

»Wie Sie sagen, Herr Kapitän!«

Da der Professor tief zu schlummern schien, schaffte man ihn nun in ein warmes Bett und mußte die Lösung der brennenden Fragen bezüglich seines Kometen wohl oder übel bis nach dem Erwachen des Gelehrten vertagen.

Kapitän Servadac, Graf Timascheff und Lieutenant Prokop – die Repräsentanten der Akademie der Wissenschaften unserer kleinen Kolonie – konnten sich, statt geduldig bis zum anderen Morgen zu warten, nicht enthalten, die allerunwahrscheinlichsten Hypothesen aufzustellen. Welcher Komet war es im Grunde, dem Palmyrin Rosette den Namen »Gallia« gegeben hatte? Bezog sich dieser Name nur auf das von der Erdkugel abgesprengte Stück? Galten jene in den einzelnen Notizen gefundenen Berechnungen der Entfernungen und Geschwindigkeiten nur für den Kometen Gallia oder für das neue Sphäroid, das jetzt Hector Servadac und seine fünfunddreißig Gefährten durch die Sonnenwelt trug? Sollten sich diese Ueberlebenden von der alten Erde als Bewohner jener Gallia ansehen oder nicht?

So lauteten etwa die Hauptfragen. Wer konnte aber dafürstehen, ob Alles, was sie mühsam ausgeklügelt, nicht jämmerlich zusammenfiel, wenn sich ihre Voraussetzung, sich auf einem von der Erdkugel abgerissenen Bruchstück zu befinden, unerwarteter Weise nicht bestätigen sollte?

»Nun, zerbrechen wir uns den Kopf nicht weiter,« rief endlich Hector Servadac, »Professor Rosette ist hier, um uns das Richtige zu sagen, und er wird es daran nicht fehlen lassen.«

Da Kapitän Servadac einmal auf Professor Rosette zu sprechen kam, so theilte er seinen Genossen Einiges über seinen früheren Lehrer mit, z. B. daß er ein Mann sei, mit dem sich nur schwer in gutem Einvernehmen leben lasse und der zu seinen Nächsten gewöhnlich in ziemlich gespanntem Verhältnisse stehe. Er schilderte ihnen denselben als ein unverbesserliches Original von größter Starrsinnigkeit und heftigem Temperamente, im Grunde aber als einen sehr braven Mann. Seiner Ansicht nach würde es am Besten sein, seinen Unwillen immer ruhig austoben zu lassen, wie man etwa ein Unwetter unter Dach und Fach vorüberziehen lasse.

Nach Vollendung dieser kleinen biographischen Skizze durch Kapitän Servadac nahm Graf Timascheff das Wort und sagte:

»Halten Sie sich versichert, Kapitän, daß wir Alles thun werden, um mit Professor Rosette auf gutem Fuße zu bleiben. Durch die Mittheilungen seiner Beobachtungen wird er uns natürlich einen geographischen Dienst erweisen, doch halte ich das nur unter einer Bedingung für möglich.«

»Und diese Bedingung wäre?« fragte Kapitän Servadac.

»Nun die, daß er selbst wirklich der Verfasser jener von uns aufgefangenen Documente ist.«

»Und daran könnten Sie zweifeln?«

»Nein, Kapitän. Alle Wahrscheinlichkeiten sprechen ja gegen mich und ich erwähnte das nur, um keine ungünstige Möglichkeit unberücksichtigt zu lassen.«

»Ei, wer sollte denn jene verschiedenen Notizen verfaßt haben, wenn nicht mein alter Lehrer?« bemerkte Kapitän Servadac.

»Vielleicht doch ein anderer auf irgend einem anderen Punkte der Erde zurückgebliebener Astronom.«

»Das kann nicht wohl der Fall sein,« fiel Lieutenant Prokop da ein, »da nur jene Documente uns mit dem Namen ›Gallia‹ bekannt machten und Professor Rosette dasselbe Wort gleich zuerst aussprach.«

Auf diesen sehr richtigen Einwurf gab es wirklich keine Antwort, und es wurde unzweifelhaft, daß nur der Einsiedler von Formentera der Urheber jener Nachrichten sein könne. Was er auf jener Insel zu schaffen hatte, durfte man ja aus seinem eigenen Munde zu erfahren hoffen.

Zum Ueberfluß waren nicht nur seine Thür, sondern auch seine Bücher mitgenommen und man hielt es für keine Indiscretion, dieselben einstweilen zu consultiren.

Es geschah.

Die Schriftzüge und Ziffern rührten offenbar von derselben Hand her, welche auch die Documente verfaßt hatte. Die Thür erwies sich vollständig bedeckt mit algebraischen Zeichen, die mittels Kreide geschrieben waren und welche man höchst sorgfältig zu bewahren suchte. Die Papiere bestanden in der Hauptsache aus losen Blättern mit mathematischen Figuren darauf. Hier kreuzten sich Hyperbeln, jene offenen Curven, darin beide Schenkel unendlich lang sind und sich immer weiter von einander entfernen; Parabeln, d. s. Curven, welche sich durch ihre zurückkehrende Form auszeichnen, deren Schenkel jedoch ebenfalls unendlich lang sind; endlich Ellipsen, d. h. völlig in sich geschlossene Curven, so langgezogen sie auch sein können.

Lieutenant Prokop bemerkte hierbei erläuternd, daß sich diese verschiedenen Bogen alle auf Kometenbahnen bezögen, welche parabolische, hyperbolische oder elliptische sein können, wodurch gleichzeitig gesagt ist, daß in den beiden ersteren Fällen von der Erde aus beobachtete Kometen niemals nach unseren Horizonte zurückkehren können, während sie im dritten Falle periodisch und in mehr oder weniger größeren Zwischenräumen wieder erscheinen.

Es lag also schon nach Einsichtnahme der Papiere und jener Thür auf der Hand, daß sich der Professor mit der Berechnung der Elemente eines Kometen beschäftigt habe; aus den verschiedenen, von ihm studirten Curven konnte man allerdings noch keine weiteren Schlüsse ziehen, da die Astronomen bei den Kometen von Anfang an stets eine parabolische Bahn voraussetzen.

Aus Allem ging hervor, daß Palmyrin Rosette während seines Aufenthaltes auf Formentera ganz oder doch zum Theil die Elemente eines neuen Kometen berechnet habe, der im Kataloge noch nicht existirte.

Datirte diese Rechnung aber aus der Zeit vor oder nach der Katastrophe des 1. Januar? – Das konnte nur er allein wissen.

»Warten wir es ab,« sagte Graf Timascheff.

»Ich warte, aber ich brenne vor Verlangen,« antwortete Kapitän Servadac, der seine Ungeduld kaum zu bemeistern vermochte. »Ich gäbe einen Monat meines Lebens für jede Stunde, welche Professor Rosette weniger schliefe.«

»Da könnten Sie doch leicht ein schlechtes Geschäft machen, Kapitän,« sagte da Lieutenant Prokop.

»Wie, um das unserem Asteroiden noch bevorstehende Schicksal kennen zu lernen . . . .«

»Ich möchte Ihnen keine Illusionen rauben, Kapitän,« erwiderte Lieutenant Prokop, »doch selbst wenn der Professor über den Kometen Gallia noch so viel weiß, so ist damit noch nicht gesagt, daß er uns auch nur das Geringste über das Bruchstück, welches uns entführt, mittheilen können müsse. Steht überhaupt die Erscheinung des Kometen über dem Horizonte der Erde in irgend welchen Wechselbeziehungen zu der Fortschleuderung eines Fragmentes der Erdkugel in den Weltraum?«

»Zum Teufel, natürlich!« rief Kapitän Servadac. »Der Zusammenhang ist ganz einleuchtend. Es liegt klar zu Tage, daß . . . .«

»Daß . . . .?« fragte Graf Timascheff, als hätte er schon die Antwort erwartet, welche der Andere eben geben wollte.

»Daß die Erde von einem Kometen einen Stoß erhalten und daß dieser die Ursache wurde, dem die Fortschleuderung des Stückes, welches uns trägt, zuzuschreiben ist!«

Auf diese, von Kapitän Servadac mit solcher Ueberzeugung ausgesprochene Hypothese, sahen sich Graf Timascheff und Lieutenant Prokop einige Augenblicke schweigend an. Trotz der Unwahrscheinlichkeit des Zusammentreffens der Erde mit einem Kometen, konnte man ein solches Ereigniß doch nicht geradezu unmöglich nennen. Ein Stoß dieser Art – ja, das lieferte die Erklärung zu den bis jetzt unerklärlichen Erscheinungen, das war die veranlassende Ursache jener so ganz außergewöhnlichen Folgen.

»Sie könnten wohl recht haben, Kapitän,« antwortete Lieutenant Prokop, nachdem er sich die Frage von diesem Gesichtspunkte aus überlegt hatte, »es ist nicht ganz abzuleugnen, daß es zu einem solchen Stoß kommen und dieser ein beträchtliches Stück der Erdkugel absprengen könnte. Nehmen wir diesen Fall an, so wäre die ungeheure Scheibe, welche wir in der Nacht nach der Katastrophe ja Alle gesehen haben, nichts Anderes gewesen als jener aus seiner Bahn abgelenkte Komet, dessen Schnelligkeit doch eine so große war, daß ihn die Erde im Centrum ihrer Attraction nicht festzuhalten vermochte.«

»Das scheint mir wirklich die einzige Erklärung für jenes unbekannte Gestirn zu sein,« wiederholte Kapitän Servadac.

»Somit hätten wir ja,« sagte Graf Timascheff, »eine neue, scheinbar recht annehmbare Hypothese. Sie setzt unsere eigenen Beobachtungen mit denen des Professor Rosette in Übereinstimmung. Den Namen »Gallia« hätte er also dem Wandelstern beigelegt, durch den wir jenen Stoß erlitten.«

»Ohne Zweifel, Graf Timascheff.«

»Sehr schön, Kapitän, und doch bleibt ein mir dunkler Punkt zu erklären übrig.«

»Und welcher?«

»Nun, daß sich der gelehrte Herr mehr mit dem Kometen beschäftigt zu haben scheint als mit dem Erdbruchstück, das ja auch ihn selbst in den Weltraum entführte.«

»O, Graf Timascheff,« antwortete Kapitän Servadac, »Sie glauben gar nicht, welch' sonderbare Käuze solche Fanatiker der Wissenschaft manchmal sind, und der meinige gehört unter die tollsten.«

»Übrigens,« bemerkte Lieutenant Prokop, »könnte die Berechnung der Elemente der Gallia recht wohl aus der Zeit vor dem Zusammentreffen herrühren. Der Professor wird den Kometen haben kommen sehen und beobachtete ihn gewiß schon vor der Katastrophe.«

Diese Andeutung Lieutenant Prokop's schien für sich selbst zu sprechen; jedenfalls vereinigten sich Alle in der Annahme der Hypothese Kapitän Servadac's. Nach dieser wäre also der ganze Sachverhalt folgender:

Ein die Ekliptik schneidender Komet war in der Nacht vom 31. December zum 1. Januar mit der Erde zusammengestoßen und hatte von dieser ein nicht unbeträchtliches Stück abgesprengt, welches nun selbstständig durch den interplanetarischen Weltraum gravitirte.

Wenn die Mitglieder der Akademie der Wissenschaften auf der Gallia auch die volle Wahrheit noch nicht erkannten, so waren sie dieser doch bestimmt sehr nahe gekommen.

Nur Palmyrin Rosette war im Stande, das vorliegende Problem vollständig zu lösen.

 


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