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Der 10 Meilen lange Washington-See ist einer der unbedeutenderen dieser Gegend des südlichen Florida. Das seichte Wasser ist von Gras durchsetzt, das der Strom den schwimmenden Wiesenflächen entreißt – wahre Schlangennester, die die Schiffahrt an der Oberfläche sehr gefährlich machen.
Im Süden setzt der Fluß seinen Lauf in weniger direkter Richtung nach Süden fort. Er ist nun nur noch ein Bächlein, dessen Quellen 30 Meilen weiter im Süden zwischen dem 28. und 27. Breitengrad liegen.
Da der St. John unterhalb des Washington-Sees nicht fahrbar ist, stieg die Expedition an Land. Die Waffen und die Proviantsäcke wurden unter die Neger verteilt.
Zuvörderst machten sich Gilbert und Mars daran, das Fahrzeug zu verstecken. Im Falle eine Schar von Floridiern oder Seminolen an die Ufer des Washington-Sees kommen sollte, durfte das Fahrzeug nicht ihnen in die Hände fallen. Man mußte mit Bestimmtheit darauf rechnen können, es wiederzufinden, um in ihm die Rückfahrt zurückzulegen.
Ein Versteck war unter dem herabfallenden Laub der Bäume und dem dichten Schilf leicht gefunden. Das Boot, dessen Mast niedergelegt worden war, lag so vortrefflich unter dem dichten Grün versteckt, daß es vom Ufer aus niemand hätte entdecken können.
Das gleiche war der Fall mit einem andern Boote, das Gilbert sehr gern gefunden hätte – nämlich dem, in welchem Dy und Zermah hergebracht worden waren. Ohne Zweifel hatte auch Texar an diesem See an Land gehen müssen, und was James Burbank an der Weiterfahrt hinderte, das hatte den Spanier gleichfalls hindern müssen.
Aber ihr Suchen war erfolglos. Das Boot war nicht zu finden, ob man nun nicht in genügend weitem Umkreis gesucht oder ob nun der Spanier es vernichtet hatte.
Der Lagerplatz war an dem Ende des kleinen Kaps an der Nordecke des Sees hergerichtet worden. Es wäre nicht ratsam gewesen, sich mitten in der Nacht in ein unbekanntes Gelände zu wagen, auf dem das Gesichtsfeld sehr eingeschränkt war. Nach reiflicher Erwägung wurde daher beschlossen, erst bei Tagesgrauen den Marsch anzutreten. Die Gefahr, sich in dem dichten Walde zu verirren, war zu groß, um sich ihr leichtsinnig auszusetzen.
Die Nacht verlief ohne Zwischenfall. Als um vier Uhr der Morgen dämmerte, wurde das Zeichen zum Aufbruch gegeben. Die Hälfte des Personals war hinreichend, das Gepäck zu tragen, so daß die Neger sich untereinander ablösen konnten. Alle, Herren und Diener, waren mit Karabinern bewaffnet und führten außerdem jene Colt-Revolver bei sich, die bei den kriegführenden Parteien seit dem Ausbruch des Sezessionskrieges so vielfach in Gebrauch waren.
Es erschien ratsam, so weit als möglich dem Lauf des St. John zu folgen. Der Fluß kam von Süden, also aus der Richtung des Okeechoben-Sees. Er glich einem durch das Labyrinth der Wälder gesponnenen Faden. Ihm konnte man folgen, ohne sich zu verirren, und ihm ging man denn auch nach.
Die Expedition schritt flott aus, Gilbert und Mars voran, James Burbank und Edward Carrol hinter ihnen, der Verwalter Perry mit den Negern als Nachtrab.
Ehe sie aufbrachen, war ein derbes Mahl eingenommen worden. Mittags Halt machen und essen, Abends um 6 Uhr Halt machen und wieder essen, wenn die Dunkelheit es nicht gestattete, noch länger zu marschieren, aufbrechen, sobald es wieder hell genug war, um sich in dem Walde zurechtzufinden, das war das Programm, das die Expedition sich gesetzt hatte und das streng befolgt wurde.
Zuerst mußte das Ostufer des Washington-Sees umgangen werden. Hier war wieder alles bewaldet, wenn auch noch nicht so ausgedehnt und dicht wie weiter oben.
Gegen Abend trat man in den großen Zypressenwald ein, der sich bis zu den Everglades hinzieht.
An diesem Tage waren etwa 20 Meilen zurückgelegt worden. Gilbert fragte daher seine Gefährten, ob sie sich nicht zu erschöpft fühlten.
»Wir sind sofort bereit, weiter zu marschieren,« sagte einer der Neger im Namen seiner Kameraden.
»Können wir uns nicht während der Nacht verirren?« fragte Edward Carrol.
»Keineswegs,« antwortete Mars, »denn wir gehen immer dem Ufer des St. John weiter.«
»Außerdem,« setzte der junge Offizier hinzu, »ist der Himmel wolkenlos, und die Nacht wird hell sein, denn der Mond geht gegen neun Uhr auf und scheint bis zum Morgen.«
Man brach daher auf. Am folgenden Morgen wurde Halt gemacht, um am Fuße einer jener riesenhaften Zypressen, die in dieser Gegend Floridas zu Millionen wachsen, das Frühstück einzunehmen.
Der Fluß diente ihnen als trefflicher Wegweiser, und dies war ein Glück; denn die Zypressen, die mit ihren gewundenen, ausgehöhlten Stämmen und den weit über den Boden greifenden Wurzeln eine wie die andere aussahen, boten keinerlei Richtungspunkte. Sie waren wie richtige Regenschirme, deren kerzengrader Stab ein riesiges grünes Dach trug, das freilich weder gegen Regen noch gegen Sonnenschein Schutz gewährte.
Gleich nach Tagesanbruch traten James Burbank und seine Gefährten unter die schattigen Gewölbe dieser Bäume. Es war herrliches Wetter. Ein Sturm, der den Boden zu einem ungangbaren Sumpf hätte verwandeln können, stand nicht zu befürchten. Nichtsdestoweniger erheischte der Weitermarsch große Vorsicht, da man den Sumpflöchern und Tümpeln, die nie austrockneten, aus dem Wege gehen mußte.
Zum Glück waren längs des rechten Ufers des St. John, das ein wenig höher liegt, die Schwierigkeiten geringer. Abgesehen von den Bächen, die sich in den Fluß ergießen und die entweder umgangen oder durchwatet werden mußten, war die Verzögerung, die man erlitt, nicht nennenswert.
An diesem Tage stieß man auf keine Spur, welche auf die Nähe von Sezessionisten oder Seminolen gedeutet hätte, aber auch auf keine Spur von Texar und seinen Gefährten. Vielleicht war der Spanier dem linken Ufer gefolgt. Das wäre aber einerlei gewesen. Denn auf beiden Ufern gelangte man ja in das untere Florida, das in dem Briefchen Zermahs angegeben war.
Am Abend machte James Burbank sechs Stunden Halt. Der Rest der Nacht verging über einem Eilmarsch. In dem in Schlaf versunkenen Zypressenhain wurde lautlos marschiert. Kein Windhauch bewegte das Laubgewölbe.
Der schon halb gerundete Mond zeichnete den schwarzen Schattenriß des Blätterwerkes auf den Boden. Der Fluß hatte ein fast unmerkliches Gefälle und rauschte kaum. An zahlreichen Stellen trat der Grund hervor, und es hätte keine Schwierigkeiten geboten, hier den St. John zu überschreiten, wenn dies notwendig gewesen wäre.
Am folgenden Tage setzte die kleine Truppe nach zweistündiger Rast in der einmal angenommenen Reihenfolge den Marsch nach Süden fort.
Aber an diesem Tage mußte der Faden, der sie bisher geleitet hatte, mehrmals abbrechen oder vielmehr dem Ende des Knäuels sich nähern. In der Tat verschwand denn auch der St. John, der nur noch ein winziger Wasserstreifen war, unter einer Gruppe von Chinabäumen, die aus seiner Quelle selbst ihre Nahrung sogen.
Darüber hinaus verdeckte der Zypressenwald den Horizont auf drei Vierteln seines Umkreises.
»Gilbert,« sagte James Burbank, »jetzt haben wir den St. John nicht mehr zum Wegweiser – wie gehen wir nun weiter?«
»Jetzt richten wir uns nach dem Kompaß,« antwortete der junge Offizier. »So lang und dicht dieser Wald auch sein mag, wir werden uns in ihm zurechtfinden.«
»Dann also vorwärts, Massa Gilbert!« rief Mars. »Vorwärts, und möge uns Gott führen!«
Auf dem ersten Teile des Weitermarsches geschah nicht, was der Auszeichnung wert gewesen wäre. Bisher hatte ihnen kein Hindernis den Weg versperrt. Würde das bis zum Ende so bleiben? Sollte die Familie Burbank ihr Ziel erreichen oder zur Verzweiflung verurteilt sein? Wenn sie die kleine Dy und Zermah nicht wiederfinden, wenn sie sie ihrem Elend überlassen müßten und ihnen keine Rettung bringen könnten, so wäre das für alle ein nie zu verschmerzender Schlag gewesen.
Gegen Mittag wurde Halt gemacht. Gilbert berechnete die vom Washington-See ab zurückgelegte Strecke und schätzte, daß man von Okeechoben-See noch 50 Meilen entfernt sei. Acht Tage waren seit dem Aufbruch von Camdleß-Bai verflossen, und über 300 englische Meilen waren durchmessen worden. Allerdings hatten der Fluß bis fast an seine Quelle und dann der Zypressenwald keinerlei ernste Hindernisse geboten. Es war keiner jener Regenströme gefallen, die den St. John unfahrbar machen und das Gelände ringsum unter Wasser setzen, und in den schönen Nächten hatte der Mond hell geschienen.
Alles hatte den Marsch begünstigt.
Nun waren sie nur noch ein verhältnismäßig kurzes Stück von der Insel Carneral entfernt. Erschöpft, wie sie durch die fortwährenden Strapazen einer vollen Woche waren, hofften sie doch, in 48 Stunden ihr Ziel zu erreichen. Man war also der Entscheidung nahe, deren Ausfall freilich niemand voraussehen konnte.
Wenn jedoch das Glück ihnen bisher beigestanden hatte, so mußten sie jetzt befürchten, im zweiten Teil ihrer Reise auf unüberwindliche Hindernisse zu stoßen.
Unter den gewohnten Verhältnissen war der Marsch nach dem Mittagsmahle fortgesetzt worden. Die Bodenbeschaffenheit war noch immer die gleiche: weite Wasserlachen und zahlreiche Untiefen waren zu umgehen, mehrere Bäche mußten durchwatet werden, kurz das Fortkommen wurde noch immer durch diese Schwierigkeiten nicht sonderlich beeinträchtigt.
Gegen 4 Uhr abends aber machte Mars plötzlich Halt. Als seine Gefährten zu ihm getreten waren, wies er auf Fußspuren, die sich im Boden abgeprägt hatten.
»Es unterliegt keinem Zweifel,« sagte James Burbank, »daß vor kurzer Zeit hier Menschen vorübergekommen sind.«
»Ja, und zwar in großer Anzahl,« setzte Edward Carrol hinzu.
»Aus welcher Richtung kommen diese Spuren und wohin gehen sie?« fragte Gilbert. »Das muß erst konstatiert werden, ehe wir einen Entschluß fassen.«
Dies wurde mit großer Sorgfalt vorgenommen.
Fünfhundert Yards nach Osten konnte man den Fußspuren folgen, die sich noch weiter in der gleichen Richtung hinzogen. Aber es schien unnütz, ihnen noch weiter nachzugehen.
Aus dieser Richtung der Tritte war erwiesen, daß eine Truppe von mindestens 150 bis 200 Mann vom Gestade des Atlantischen Ozeans her diesen Teil des Zypressenwaldes durchquert hatte. Vom Westen her führten diese Spuren ununterbrochen dem Golf von Mexiko zu, indem sie so in schräger Sichtung die floridische Halbinsel durchschnitten, die unter diesem Grade keine 200 englische Meilen breit ist.
Es war ebenfalls wahrzunehmen, daß diese Abteilung erst an derselben Stelle Halt gemacht hatte, wo James Burbank und die Seinen jetzt standen, und dann den Marsch in derselben Richtung fortgesetzt hatte.
Nachdem Gilbert und Mars ihren Gefährten den Rat gegeben hatten, sich auf jeden Fall kampfbereit zu halten, waren sie eine Viertelmeile etwa nach links in den Wald abgebogen und konnten feststellen, daß die Spuren direkt in der Richtung nach Süden weitergingen.
Als beide zurückgekehrt waren, sagte Gilbert:
»Vor uns her zieht eine Truppe und zwar auf demselben Wege, den wir vom Washington-See aus gegangen sind. Es sind bewaffnete Leute, denn wir haben Stücke von Patronen gefunden, mit denen sie ihre jetzt völlig ausgebrannten Feuer angezündet haben. Was es für Leute sind, weiß ich nicht. Es steht nur das eine fest, daß es ihrer eine beträchtliche Anzahl ist und daß sie nach den Everglades marschieren.«
»Sollte das nicht eine Bande nomadischer Seminolen sein?« fragte Edward Carrol.
»Nein,« antwortete Mars. »Die Spuren zeigen deutlich, daß es Amerikaner sind.«
»Vielleicht Soldaten der floridischen Miliz?« Bemerkte James Burbank.
»Das ist zu befürchten,« sagte der Verwalter Perry. »Sie scheinen zu zahlreich zu sein, um zur Begleitung Texar? zu zählen –«
»Wenn nicht eine Bande seines Anhangs zu diesem Kerl gestoßen ist,« sagte Edward Carrol. »Es wäre dann gar nicht unmöglich, daß es ihrer mehrere hundert sind.«
»Gegen unser siebzehn!« meinte der Verwalter.
»Was tut das!« rief Gilbert. »Wenn sie uns angreifen oder wenn sie uns überfallen, wird jeder seinen Mann stehen!«
»Jawohl! Jawohl!« riefen die mutigen Gefährten des jungen Mannes.
Das war eine ohne Zweifel ganz natürliche Zuversicht. Bei näherer Betrachtung aber mußte jeder vollauf einsehen, wie viel schlimme Aussichten eine derartige Möglichkeit mit sich brachte.
Obwohl jedoch dieser Gedanke wahrscheinlich allen in den Sinn kam, so wirkte dies doch in keiner Weise beeinträchtigend auf den Mut jedes einzelnen.
Aber so nahe am Ziel, traf man noch auf ein solches Hindernis!
Eine Abteilung Sezessionisten, vielleicht Anhänger Texars, die zu dem Spanier in den Everglades zu stoßen beabsichtigte, um dort auf den günstigen Zeitpunkt zu warten, daß sie nach dem Norden Floridas zurückkehren konnten.
Ja! Daß es so stände, hatte man auf jeden Fall zu befürchten. Das fühlten alle. Nach der ersten Regung der Begeisterung verstummten daher alle, versanken in Grübeln, sahen ihren jungen Führer an und fragten sich, was für einen Befehl er ihnen erteilen werde.
Auch Gilbert teilte die gemeinsame Empfindung. Aber er warf den Kopf zurück und rief:
»Vorwärts!«