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Drittes Kapitel. Am Vorabend

Am Morgen des 11. März war durch den Jacksonviller Ausschuß Gilbert Burbank abgeurteilt und am Abend desselben Tages sein Vater in Haft genommen worden.

Am nächsten Morgen sollte der junge Offizier erschossen werden und James Burbank, als sein Mitverschworener, wahrscheinlich mit ihm den Tod finden.

Texar war, wie der Leser weiß, die leitende Seele dieses Bürgerkomitees. Sein Wille galt in demselben als Gesetz. Die Hinrichtung von Vater und Sohn sollte bloß das Vorspiel blutiger Exzesse sein, die von der ärmeren weißen Bevölkerung mit Beistand des Pöbels gegen die nordstaatlich gesinnten Einwohner von Florida und gegen alle, welche in der Sklavenfrage nicht ihre Anschauungen teilten, zu erwarten standen. Welches Unmaß von persönlicher Rache versteckte sich unter dem Deckmantel des Bürgerkriegs! Was hier allein Einhalt tun konnte, war die Anwesenheit von Bundestruppen. Aber würden sie kommen, würden sie da sein, ehe diese ersten Opfer dem Hasse des Spaniers fielen?

Leider war Ursache zu Zweifeln vorhanden. Und als sich die Frist, die hierzu blieb, immer mehr verkürzte, ohne daß sich von den Truppen was sehen ließ, da stieg, wie man sich denken kann, die Angst der Bewohner von Castle-House aufs höchste. Es gewann ganz den Anschein, als ob jener Plan, den Saint-John hinauszufahren, vom Kommandanten Stevens momentan fallen gelassen worden sei. Die Kanonenboote rührten sich nicht aus ihrer Wasserlinie. Getrauten sie sich vielleicht nicht mehr, die Flußbarre zu überwinden, seitdem Mars nicht mehr da war, sie durch den Kanal zu steuern? Verzichteten sie auf die Einnahme Jacksonvilles und hiermit aus die Sicherung der am obern Teile des Flusses gelegenen Pflanzungen? Welche neuen Kriegszufälle hatten solche Aenderung in den Plänen des Kommodore Dupont bewirken können?

Diese Frage stellten sich Herr Stannard und Inspektor Perry im Verlaufe jenes endlos langen 12. März.

Den Nachrichten zufolge, die in Florida, in dem zwischen Fluß und Meer liegenden Teile, umherliefen, schienen sich die Anstrengungen der Nordstaatler vornehmlich auf das Uferland zu richten. Kommodore Dupont, der den »Wabash« kommandierte, war mit den stärksten Kanonenbooten seines Geschwaders in der Bai von Saint-Augustine erschienen. Es hieß sogar, die Miliz schickte sich an, die Stadt zu räumen und auf die Verteidigung des Forts Marion ebenso zu verzichten wie nach der Kapitulation von Fernandina auf jede Verteidigung des Forts Clinch verzichtet worden war.

Diese Kunde brachte wenigstens am Vormittag Inspektor Perry nach Castle-House. Sie wurde sofort Stannard und Edward Carrol mitgeteilt, den seine noch nicht vernarbte Wunde noch auf einen Diwan gefesselt hielt.

»Die Bundestruppen in Saint-Augustine!« schrie der letztere ... »und warum marschieren sie nicht nach Jacksonville?«

»Vielleicht wollen sie bloß den Fluß sperren,« antwortete Perry, »ohne Besitz von ihm selber zu nehmen?«

»James und Gilbert sind verloren, wenn Jacksonville in Texars Händen bleibt,« sagte Stannard.

»Könnte man denn nicht den Kommodore Dupont von der Gefahr in Kenntnis setzen, die Herrn Burbank und seinem Sohne droht?«

»Bis Saint-Augustine würde man einen vollen Tag brauchen,« erwiderte Carrol, »vorausgesetzt, daß man unterwegs nicht von den retirierenden Milizsoldaten aufgehalten wird! und ehe Kommodore Dupont an Stevens den Befehl gelangen lassen kann, Jacksonville zu besetzen, wird zuviel Zeit verstrichen sein. Zudem diese Flußbarre! wenn die Kanonenboote nicht darüber gelangen können, wie soll dann unserm armen Gilbert Rettung nahen? Nein! nicht nach Saint-Augustine, direkt nach Jacksonville muß gegangen werden – nicht an den Kommodore Dupont müssen wir uns wenden, sondern direkt an Texar!«

»Herr Carrol hat recht, Vater – und ich will hineilen,« rief Fräulein Alice, die die letzten Worte aus Carrols Munde gehört hatte.

Das mutige Mädchen war bereit, zu Gilberts Heile alles zu wagen und allem zu trotzen.

Tags vorher, beim Aufbruch nach Jacksonville, hatte es James Burbank allen ans Herz gelegt, seiner Gattin über denselben nichts zu melden. Er wollte sie nichts von dem Haftbefehl wissen lassen, den das Jacksonviller Bürgerkomitee gegen ihn verhängt hatte. Sie wußte von demselben also ebensowenig wie von dem Schicksal ihres Sohnes, den sie an Bord der Flottille wähnte. Wie hätte die unglückliche Frau diesen Doppelschlag, der sie traf, überstehen sollen? Als sie nach ihrem Manne fragte, hatte ihr Fräulein Alice gesagt, er habe Castle-House verlassen, um Nachforschungen nach Dys und Zermahs Verbleib anzustellen, und seine Abwesenheit könne gut und gern 48 Stunden dauern. Infolgedessen richtete sich alles Denken und Sinnen der armen Frau jetzt auf ihr verschwundenes Kind: und das war bei dem Zustande, in welchem sie sich befand, schon mehr als sie ertragen konnte.

Fräulein Alice wußte indessen nur allzu gut, was für James und Gilbert Burbank so unmittelbar zu befürchten stand: daß der junge Offizier am andern Morgen erschossen werden solle und daß seinem Vater das gleiche Schicksal bevorstehe – und nun hatte sie den Entschluß gefaßt, Texar persönlich aufzusuchen, und hatte an Herrn Carrol den Wunsch gerichtet, sie nach der andern Flußseite übersetzen zu lassen.

»Du – Alice – nach Jacksonville!« rief Stannard.

»Vater – es muß sein!«

Daß Herr Stannard Bedenken hatte, war höchst natürlich, aber vor der Notwendigkeit, ohne Säumen zu handeln, verschwanden dieselben ebenso plötzlich. War für Gilbert Rettung möglich, dann einzig und allein durch den Schritt, den Alice wagen wollte. Vielleicht gelang es ihr, Texar zum Mitleid zu stimmen, wenn sie sich ihm vor die Füße warf? vielleicht setzte er einen Aufschub für die Hinrichtung durch? vielleicht fand sie auch Fürsprache bei der rechtschaffenen Bürgerschaft, die schließlich doch gegen die unerträgliche Tyrannei des städtischen Komitees sich selber auflehnen mußte. Mochte man auch noch so schwere Gefahr laufen, wenn man sich selber nach Jacksonville begab, so blieb doch nichts anderes übrig.

»Perry wird mich vielleicht bis zu Herrn Harveys Hause führen?« fragte das junge Mädchen.

»Auf der Stelle,« antwortete der Verwalter.

»Nein, Alice, ich werde mit dir gehen,« entschied Stannard ... »jawohl! ich selber! Brechen wir auf!«

»Sie, Stannard?« versetzte Edward Carrol – »das heißt doch, der Gefahr in den Rachen rennen – »Ihre politischen Ansichten sind doch viel zu bekannt –«

»Was tut's?« sagte Stannard ... »ich lasse mein Kind nicht allein zu diesen wilden Gesellen! Perry soll in Castle-House bleiben, Edward, da Sie selber noch nicht gehen können, denn wir müssen auch den Fall bedenken, daß auch wir zurückgehalten werden können!«

»Und wenn Frau Burbank nach Ihnen fragt,« bemerkte Edward Carrol, »wenn sie nach Fräulein Alice fragt, was soll ich antworten?«

»Daß wir uns zu James begeben haben, daß wir ihn auf seiner Suche am andern Flußufer begleiten,« antwortete Stannard; »wenn es sein muß, so sagen Sie schließlich auch, daß wir nach Jacksonville hinüber mußten – kurz und gut, sagen Sie, was Ihnen notwendig dünkt, um die arme Frau zu beruhigen – bloß sagen Sie nichts, was sie auf den Argwohn bringen könnte, daß ihrem Mann und ihrem Sohn so ernste Gefahren drohen ... Perry! lassen Sie ein Boot fertig machen!«

Der Verwalter ging und Stannard befaßte sich mit den Vorbereitungen zur Abfahrt.

Indessen schien es doch geratener zu sein, wenn Alice das Haus nicht verließe, ohne Frau Burbank gesagt zu haben, daß sie mit ihrem Vater genötigt sei, nach Jacksonville sich zu begeben. Im Notfalle solle sie schließlich sogar sagen, Texars Partei sei dort gestürzt worden, die Bundestruppen seien im Besitz der Herrschaft über den Fluß, und Gilbert müsse jedenfalls schon morgen in Castle-House wieder eintreffen ... Aber würde das Mädchen auch die Kraft haben, dies alles zu sagen, ohne zu zittern, ohne daß ihre Stimme sie verriete?

Als sie bei Frau Burbank ins Zimmer trat, schlief dieselbe oder lag vielmehr in einem Anfalle schmerzhafter Betäubung, in einer tiefen Starrsucht, aus der sie Alice nicht aufzuwecken wagte. Vielleicht war es doch auch besser, das Mädchen wurde auf diese Weise der Aufgabe ledig, die kranke Dame durch kräftiges Zureden zu beruhigen.

Am Bette der Kranken saß eine der Dienstfrauen und wachte. Fräulein Alice legte ihr ans Herz, sich auf keinen Augenblick zu entfernen und Herrn Carrol zu rufen, wenn die Kranke nach irgend etwas fragen sollte. Dann beugte sie sich zu der armen Frau nieder, berührte ihre Stirn mit den Lippen und verließ das Zimmer, um zu ihrem Vater zu eilen.

»Brechen wir auf, Papa!« rief sie, sobald sie ihn erblickte.

Nachdem sie Edward Carrol noch die Hand gedrückt hatten, schritten sie aus der Halle. In der zu dem kleinen Hafen hinunterführenden Bambusallee trafen sie den Verwalter.

»Das Boot liegt bereit,« sagte derselbe.

»Gut,« versetzte Stannard; »und nun wachen Sie mit aller Sorgfalt über Castle-House, Freund!«

»Keine Sorge, Herr Stannard! Unsere Schwarzen kommen bereits langsam wieder auf die Pflanzung zurück, und das ist auch erklärlich! was soll ihnen eine Freiheit nützen, für die ihnen alle natürliche Anlage fehlt? Bringen Sie uns Herrn Burbank wieder, und er wird sie alle an ihrem Platze finden.«

Herr Stannard bestieg mit seiner Tochter das von vier Matrosen aus Camdleß-Bai geführte Boot. Das Segel wurde gesetzt, und unter schwacher Brise aus Osten machte das Boot schnelle Fahrt. Bald war der »Pier« hinter der Spitze verschwunden, welche durch die Pflanzung nach Nordwesten hin gebildet wurde.

Es lag nicht in Herrn Stannards Absicht, im Jacksonviller Hafen ans Land zu gehen, weil er dort auf der Stelle erkannt worden wäre, sondern in einem ein Stück unterhalb des Hafens befindlichen Ufereinschnitt. Von da aus ließ sich auch das in dieser Richtung, am äußersten Ende der Vorstadt gelegene Harveysche Haus bequem erreichen. Dort könnte man sich, je nach den obwaltenden Umständen, über die weiter zu fassenden Maßnahmen schlüssig werden.

Der Fluß war um diese Zeit ohne Verkehr. Weder stromauf, woher die auf der Flucht aus Saint-Augustine nach dem Süden befindlichen Milizkorps hätten kommen können, noch stromab herrschte das geringste Leben. Das ließ vermuten, daß es noch zu keinem Kampfe zwischen den floridischen Booten und den Kanonenbooten des Kommandanten Stevens gekommen war. Nach ziemlich schneller Ueberfahrt, die noch durch Wind im Rücken begünstigt worden war, erreichte Herr Stannard mit seiner Tochter das linke Ufer. In der zur Zeit noch unbewachten kleinen Bucht konnten sie, ohne bemerkt zu werden, ans Land gehen und in wenigen Minuten befanden sie sich in dem Hause von James Burbanks Geschäftsfreund.

Herr Harvey war im höchsten Maße überrascht, aber zugleich auch beunruhigt durch ihren Besuch. Es war durchaus nicht gefahrlos für sie, mitten unter diesem über alle Maßen erregten, für Texar begeisterten Pöbel zu weilen. War es doch allgemein bekannt, daß Herr Stannard mit zu den Antisklaverei-Ideen hielt, die in Camdleß-Bai ihre Vertreter hatten. Die Plünderung seiner eigenen Besitzung in Jacksonville war ein Wink, der Beherzigung verdiente.

Daß er persönlich schwere Gefahr liefe, wenn er hier bliebe, stand ganz außer Frage. Sofortige Verhaftung als Mitschuldiger James Burbanks war, wenn er erkannt wurde, das mindeste, auf das er sich gefaßt machen mußte.

»Aber Gilbert muß doch gerettet werden!« war das einzige, was Alice auf diese Bemerkungen Herrn Harveys zu sagen vermochte.

»Freilich,« erwiderte dieser, »versucht werden muß es! Aber Herr Stannard soll sich draußen nicht zeigen! er mag hier bleiben, während wir handeln wollen.«

»Wird man mich ins Gefängnis lassen?« fragte das Mädchen.

»Das glaube ich nicht, Fräulein Alice!«

»Aber doch zu Texar?«

»Wir wollen es versuchen!«

»Sie wünschen nicht, daß ich mich Ihnen anschließe?« fragte Herr Stannard, der sich in seine passive Rolle noch nicht finden konnte.

»Nein! das hieße jeden Versuch gefährden, bei Texar und seinem Bürgerkomitee etwas zu erreichen.«

»Also kommen Sie, Herr Harvey!« sprach Alice.

Aber ehe sie das Zimmer verließen, bat Herr Stannard noch um Bescheid, ob Neuigkeiten vom Kriegsschauplatze vorlägen, die bis nach Camdleß-Bai hinüber noch nicht gelangt seien?

»Nein,« antwortete Herr Harvey, »wenigstens ist nichts passiert hinsichtlich Jacksonvilles. Die Bundesflotte ist in der Bai von Saint-Augustine erschienen, und die Stadt hat sich ergeben. Von irgend welcher Bewegung auf dem Saint-John ist nichts verlautet. Die Kanonenboote liegen noch immer unterhalb der Barre.«

»Es fehlt also noch immer an Wasser, um über die Barre zu kommen?«

»Jawohl! heut werden wir aber starke Tag- und Nachtgleichen-Flut bekommen, gegen drei Uhr wird das Meer steigen ... vielleicht gelingt es dann den Kanonenbooten, die Barre zu überwinden!«

»Ohne Lotsen? jetzt, wo Mars nicht mehr da ist, sie durch den Kanal zu steuern?« versetzte Fräulein Alice in einem Tone, der deutlich sagte, daß sie sich auch an solche Hoffnung nicht mehr halten wolle ... »nein! das ist nicht möglich! – Herr Harvey! ich muß Texar sprechen, und schlägt er mir meine Bitte ab, dann werden wir alles, alles opfern, um Gilbert die Flucht zu ermöglichen!«

»Gewiß, Fräulein Alice!«

»Haben sich die Gemüter in Jacksonville noch immer nicht beruhigt?« fragte Stannard.

»Nein,« lautete Harveys Antwort? »in Jacksonville sind die Halunken nach wie vor am Ruder, und Texar ist ihr Kommandant. Freilich zittern und beben alle anständigen Menschen vor Unwillen über die Anmaßungen und Drohungen des Bürgerausschusses. Die Föderierten auf dem Flusse brauchten sich bloß zu rühren, so würde die Sachlage sich ändern. Im Grunde genommen ist unser Pöbel ja feige. Würde ihm Furcht eingejagt, so könnte Texar mit seinen Anhängern schnell zum Tempel hinaus sein – ich hoffe auch noch immer, daß es dem Kommandanten Stevens gelingen wird, die Barre zu überwinden.«

»Abwarten wollen wir nicht!« entgegnete entschlossenen Tones Fräulein Alice – »bis dahin muß ich bei Texar gewesen sein!«

Es war elf Uhr, als Fräulein Alice mit Herrn Harvey sich nach dem Justizpalast begab, wo der Bürgerausschuß unter Texars Vorsitz in Permanenz tagte.

Nach wie vor in der Stadt wilde Erregung! Miliztruppen, durch Kommandos aus anderen Städten des Südens verstärkt, zogen durch die Straßen. Im Laufe des Tages wurden noch die durch die Uebergabe von Saint-Augustine disponibel gewordenen Mannschaften erwartet, die entweder auf dem Saint-John herauf oder am rechten Ufer durch die Wälder zu Fuß kommen, den Saint-John also erst bei Jacksonville passieren konnten. Deshalb die Unruhe unter der Bevölkerung, die den ganzen Tag auf den Beinen war. Tausenderlei Nachrichten kursierten, und wie immer solche, die im schärfsten Widerspruch zueinander standen: zufolgedessen ein Aufruhr, der an Heftigkeit ständig zunahm. Alles schien den Kopf zu verlieren, und leicht ließ sich ermessen, daß es bei der Verteidigung an jeder einheitlichen Leitung fehlen würde, sobald die Bundestruppen mit ihren Kanonenbooten im Hafen erscheinen sollten. Lange konnte es übrigens nicht mehr dauern, bis hierüber Klarheit herrschte.

Unterdessen begaben sich inmitten einer ständig dichter werdenden Menge Fräulein Alice und Herr Harvey nach dem Hauptplatze, zunächst noch ohne jede Vorstellung davon, wie sie es anfangen sollten, bis in den Saal des Justizpalastes zu dringen – und ob sie, wenn ihnen das gelang, bis zu Texar würden dringen können, wer hätte ihnen das sagen sollen?

Auf dem Platze eine noch dichtere, noch lautere Menge! Geschrei erschütterte die Luft, Flüche, Verwünschungen von allen Seiten, dazwischen die unheimlichen Rufe: »An den Galgen mit den Schuften! An den Galgen!« die sich von Gruppe zu Gruppe fortpflanzten.

Harvey erfuhr, daß der Ausschuß seit einer Stunde zu Gericht sitze. Eine schreckliche Ahnung bemächtigte sich seiner, die sich nur zu sehr bestätigen sollte. Der Ausschuß saß zu Gericht über James Burbank, der als Mitverschworener seines Sohnes Gilbert unter Anklage stand, mit den Bundestruppen landesverräterischen Verkehr unterhalten zu haben. Das gleiche Verbrechen also, wie Gilbert – mithin auch ohne Zweifel die gleiche Strafe wie sie über Gilbert verhängt, derselbe Urteilsspruch, wie er über Gilbert gefällt worden war! Texar stand im Begriff, dem Werke des Hasses gegen die Familie Burbank die Krone aufzusetzen!

»Kommen Sie, Fräulein Alice! kommen Sie!« sagte Harvey, in der Absicht, für den Augenblick sein Vorhaben aufzugeben – »wir wollen später versuchen, – wenn der Bürgerausschuß –«

»Nein!« entgegnete Alice entschieden – »ich will mich zwischen die Angeklagten und Richter stürzen!«

Harvey mußte sich sagen, daß es ihm nicht möglich sein würde, diese Entschlossenheit zu erschüttern. Alice drängte vorwärts, und er mußte ihr folgen. So dicht auch die Menge war – unter der vielleicht mancher das Mädchen erkannte, – so wich sie doch auseinander. Je weiter sie drang, desto wilder klangen ihr die Worte: »An den Galgen! An den Galgen!« in die Ohren. Aber nichts konnte sie aufhalten, und endlich stand sie vor dem Tore des Justizpalastes.

Hier tobte eine noch wildere Menge! auf und nieder wogend gleich einer Hohlsee! aber nicht gleich jener Hohlsee, die auf den Sturm folgt, sondern jener gleich, die ihm vorauseilt! von solcher Menge aus ließen sich bloß die schlimmsten Greuel befürchten.

Plötzlich stauten sich die Massen: aus dem Justizpalast drängte heraus, was der Verhandlung beigewohnt hatte ... verdoppelte Verwünschungen, verdoppelte Flüche – das Urteil war eben gesprochen worden! James Burbank war desselben Verbrechens für schuldig befunden worden wie sein Sohn Gilbert, und das gleiche Urteil war über ihn verhängt worden: Vater und Sohn sollten zusammen erschossen werden!

»An den Galgen! An den Galgen!« schrie die Menge wie rasend.

Da wurde, auf den obersten Stufen, James Burbank sichtbar. Er war ruhig und völlig Herr über sich. Ein verächtlicher Blick war alles, was er dem Gebrüll und Geheul des Pöbels entgegensetzte.

Ein Milizkommando führte ihn in seiner Mitte, führte ihn nach dem Gefängnis zurück – aber nicht ihn allein! denn neben ihm einher schritt Gilbert, sein Sohn.

Aus der Gefangenenzelle, wo er der Hinrichtungsstunde harrte, war der junge Offizier nach dem Gerichtssaal geschleppt worden, um in der Verhandlung mit seinem Vater konfrontiert zu werden. Der Vater hatte nicht anders aussagen können, als der Sohn: daß derselbe bloß nach Castle-House gekommen sei, um seine im Sterben liegende Mutter zum letzten Male zu sehen. Solchem klaren Zeugnis gegenüber hätte die Anklage unbedingt fallen müssen, wäre der Prozeß nicht schon im Voraus entschieden gewesen. Zwei Unschuldige wurden durch den gleichen Urteilsspruch getroffen, der von persönlicher Rache diktiert und durch schurkische Richter gefällt wurde.

Der Pöbel drängte sich zu den Verurteilten. Nur mit äußerster Mühe gelang es dem Milizkommando, sich den Weg über den Platz frei zu machen. Da entstand eine Bewegung. Alice hatte sich zu James und Gilbert Burbank hindurchgedrängt.

Unwillkürlich wich der Pöbel zur Seite, verdutzt durch dieses unvermutete Dazwischentreten des Mädchens.

»Alice!« schrie Gilbert.

»Gilbert! – Gilbert!« flüsterte Alice und sank dem jugendlichen Offizier in die Arme.

»Alice – warum bist du hier?« fragte streng James Burbank.

»Um Gnade will ich für Euch flehen! das Herz der Richter erweichen! – Gnade, Gnade für sie!«

Das Geschrei des Mädchens war herzzerreißend. Sie hing sich den Verurteilten, die einen Augenblick stehen geblieben waren, an die Kleider.

Auf der Schwelle des Justizpalastes war Texar erschienen. Es war ihm gemeldet worden, was sich zugetragen hatte.

Ein Wink von ihm zügelte die Menge. Ein zweiter Wink befahl dem Milizkommando, die Gefangenen abzuführen.

Das Kommando setzte sich wieder in Marsch.

»Gnade! ... Gnade!« schrie Alice und warf sich Texar zu Füßen.

Der Spanier hatte als Antwort bloß eine verneinende Gebärde.

Da sprang das Mädchen auf.

»Elender!« schrie sie ihm zu.

Sie wollte die Gefangenen einholen, um ihnen in den Kerker zu folgen, um die letzten Stunden, die sie zu leben hatten, bei ihnen zu verweilen. Aber sie waren schon über den Platz, begleitet von dem Gebrüll und Geheul der Menge.

Das ging über die Kräfte des Mädchens. Sie wankte. Sie stürzte. Ihr Bewußtsein war geschwunden, als Herr Harvey sie in den Armen auffing. Erst in dessen Hause, bei ihrem Vater, kam sie wieder zum Bewußtsein.

»Zum Kerker! zum Kerker!« flüsterte sie – »sie müssen fliehen! beide müssen fliehen!«

»Ja!« versetzte Herr Stannard, »kein anderer Versuch bleibt uns – warten wir die Nacht ab!«

Aber die Nacht kam – und als Stannard und Harvey versuchen wollten, zur Ausübung ihres Befreiungsplanes zu schreiten, da wurden sie inne, daß Harveys Haus von Milizsoldaten umstellt war, daß es nicht möglich war, den Fuß hinauszusetzen.


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