Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Am selben Abend kurz vor Mitternacht waren Gilbert und Mars zurück in Castle-House. Welche Schwierigkeiten hatten sie zu überwinden, ehe sie wieder aus der Schwarzen Krampe heraus waren!
Als sie das Blockhaus verließen, wurde es Nacht im Tale des St. John. Unter den Bäumen der Lagune herrschte schon tiefe Finsternis. Wenn nicht Mars sich von einer Art Instinkt hätte leiten lassen, während er durch die vielen Werder steuerte, so wären beide nicht wieder auf den Fluß hinausgekommen.
Die größten Schwierigkeiten boten sich, als Mars den einzigen Ausgang suchte, durch den sie das Wasser des St. John erreichen konnten. Der Mestize fand den Durchbruch im dichten Schilf nicht wieder, durch den sie vor ein paar Stunden hereingefahren waren. In drei Stunden hatten sie dann die 20 Meilen von der Schwarzen Krampe bis zur Pflanzung zurückgelegt.
In Camdleß-Bai wurde auf sie gewartet. Niemand war schlafen gegangen, diese ungewohnte Verspätung beunruhigte alle. Gilbert und Mars waren sonst alle Abend zurückgekehrt. Weshalb blieben sie heute aus?
Endlich kamen sie; alle eilten ihnen entgegen, als sie in die Halle traten.
»Vater!« sagte der junge Offizier, »Alice hat sich nicht getäuscht. Texar ist's, der meine Schwester und Zermah geraubt hat! Lies!«
Und Gilbert reichte das unförmige Blatt Papier hin, das die wenigen von der Hand der Mestizin geschriebenen Worte enthielt.
»Ja,« fuhr er dann fort, »es ist kein Zweifel mehr möglich, der Spanier hat es getan. Und er hat seine beiden Opfer nach der alten Feste in der Schwarzen Krampe gebracht oder bringen lassen! Dort hat er selber gehaust, ohne daß irgendwer darum wußte. Ein armer Sklave, dem Zermah dieses Papier anvertraut hatte, damit er es nach Castle-House gelangen ließe, und von dem sie ohne Zweifel erfahren hatte, daß Texar nach der Insel Carneral gehen wolle, hat es mit seinem Leben bezahlen müssen, daß er ihr hat helfen wollen. Wir fanden ihn im Sterben, Texar hat ihn niedergestoßen, jetzt ist er tot. Aber wenn auch Dy und Zermah nicht mehr in der Schwarzen Krampe sind, so wissen wir nun doch, in welche Gegend von Florida sie geschleppt worden sind. In den Everglades werden wir sie wiederfinden. Morgen, lieber Vater, brechen wir auf!«
»Wir sind bereit, Gilbert.«
Die Hoffnung war wieder in Castle-House eingekehrt. Nun irrte man doch nicht mehr in fruchtlosem Suchen umher. Frau Burbank, der alles mitgeteilt wurde, fühlte sich aufleben. Sie hatte die Kraft aufzustehen und niederzuknien, um Gott zu danken.
Nach Zermahs Bekundung war Texar selber es gewesen, der bei dem Raub der kleinen Dy die Hauptrolle gespielt hatte. Er war es gewesen, den Fräulein Alice in dem Boote hatte enteilen sehen. Und doch! Wie war diese Tatsache mit dem Alibi-Beweis zu vereinbaren, den der Spanier erbracht hatte? Wie hatte er in demselben Augenblick, als er dieses Verbrechen beging, als Gefangener der Unionstruppen sich auf einem der Boote des Geschwaders befinden können? Dieser Alibi-Beweis mußte falsch sein, wie alle andern! Würde man je hinter das Geheimnis kommen, wie dieses hic et ubique des Spaniers zu erklären sei?
Kein Tag durfte versäumt werden. Von Camdleß-Bai bis zu den Everglades war es ziemlich weit. Mehrere Tage mußte diese Strecke beanspruchen. Zum Glück war, wie James Burbank gesagt hatte, die von ihm organisierte Expedition zum Aufbruch bereit.
Die Insel Carneral liegt, wie die floridischen Karten angeben, im See Okeechoben.
Die Everglades bilden eine Sumpfgegend, die bis zum See Okeechoben, ein Stück unter dem 27. Breitengrad im Süden von Florida, reicht. Zwischen Jacksonville und diesem See beträgt die Entfernung etwa 400 englische Meilen. Außerdem ist es ein wenig besuchter Landstrich, der zur damaligen Zeit fast unbekannt war.
Am folgenden Tage, dem 20. März, war das Personal der Expedition auf dem Anlegesteg von Camdleß-Bai versammelt. Es setzte sich folgendermaßen zusammen: James Burbank, sein Schwager Edward Carrol, dessen Wunde völlig geheilt war, sein Sohn Gilbert, Verwalter Perry, Mars, und zwölf unter den tapfersten und treusten der Pflanzung ausgesuchten Negern.
Das Fahrzeug – eines der größten von Camdleß-Bai – war auch mit Segel versehen und hinreichend mit Waffen und Munition beladen, so daß James Burbank weder von den Seminolen-Horden im untern Florida noch von den Genossen Texars, falls dieser mehrere seiner Anhänger um sich geschart haben sollte, etwas zu fürchten brauchte.
Es wurde Abschied genommen, und gegen sechs Uhr morgens erfolgte der Aufbruch. Eine Stunde später fuhr das Boot an dem Dörfchen Mandarin vorbei und gegen zehn Uhr war man, ohne daß ein Ruderschlag zu tun gewesen wäre, in Höhe der Schwarzen Krampe.
Die erste Mahlzeit wurde gemeinsam eingenommen. Die Koffer enthielten ausreichenden Proviant für 20 Tage, auch war für eine Anzahl Säcke gesorgt, in denen alles verpackt werden konnte, für den Fall, daß der Weg über Land fortgesetzt werden mußte. Auch um ein Lager aufzuschlagen, bei Tag oder bei Nacht, in den dichten Wäldern des St. John, war alles Nötige vorhanden.
Bis gegen elf Uhr blieb der Wind günstig; dennoch mußten jetzt schon die Ruder gebraucht werden, um die Schnelligkeit beizubehalten. Die Neger setzten sich an die Riemen, und von zehn kräftigen Armen getrieben, setzte das Boot seine flotte Fahrt stromaufwärts fort.
Mars stand am Steuer und lenkte mit sichrer Hand das Boot durch die Verzweigungen, die durch Inseln und Werder gebildet wurden. Nie geriet er in einen Sackkanal, nie brachte er das Boot in Gefahr, an eine flache Stelle zu geraten, die bei der Ebbe ohne Wasser sein mußte. Bis zum George-See kannte er das Flußbett so genau, wie unterhalb von Jacksonville, und er steuerte das Boot von Camdleß-Bai ebenso sicher wie die Kanonenboote des Kommandanten Stevens, die er durch die Krümmungen der Barre gelotst hatte.
Gegen sechs Uhr abends gelangte man vor Picolata an. Eine Abteilung Unionssoldaten hatte den Landungsplatz besetzt.
Das Boot wurde angerufen und mußte am Quai Halt machen.
Gilbert Burbank stellte sich dem Offizier vor, der in Picolata befehligte, und da er einen Passagierschein vom Kommandanten Stevens hatte, durfte er seine Fahrt fortsetzen.
Kurz nach sechs hatten James Burbank und seine Gefährten hinter einem Flußknie den rötlichen Turm der alten spanischen Festung, die seit einem Jahrhundert verlassen war, aus den Augen verloren.
»Mars,« fragte nun James Burbank, »fürchtest du nicht, dich während der Nacht auf dem St. John zu verfahren?«
»Nein, Massa James,« antwortete Mars. »Bis zum George-See kenne ich mich aus. Darüber hinaus wird dann auch Rat. Wir dürfen keine Stunde versäumen und müssen es ausnutzen, daß die Flut uns noch günstig ist. Je weiter wir heraufkommen, um so schwächer wird sie und um so kürzere Zeit hält sie an. Ich schlage daher vor, des Nachts nicht Halt zu machen.«
Der Vorschlag des Mestizen war durch die Umstände diktiert. Da er seiner Sache gewiß zu sein erklärte, konnte man sich auf ihn verlassen. Das hatte man auch nicht zu bereuen. Das Boot hatte die ganze Nacht über leichte Fahrt stromauf. Die Flut kam ihm noch mehrere Stunden lang zu statten. Dann griffen die Neger wieder zu den Rudern, und man kam noch etwa 15 Meilen weiter nach Süden.
In der Nacht wurde nicht Halt gemacht, auch nicht am folgenden Tage, der ohne Zwischenfall verlief. Der Oberlauf schien gänzlich menschenleer. Man fuhr inmitten eines riesigen Waldes alter Zedern, deren Blättermasse sich manchmal zu einem dichten Gewölbe über dem Wasserspiegel zusammentat.
Dörfer waren keine zu sehen, auch keine Pflanzungen oder verlassene Wohnstätten. Auf dem Ufergelände hatte der Pflug noch nie eine Scholle urbar gemacht.
Am 23. sah man bei Tagesgrauen den Fluß zu einer breiten Wasserfläche erweitert, deren Ufer von dem schier endlosen Walde frei waren. Das flache Land erstreckte sich bis zum Horizont.
Diese Wasserfläche war der George-See, den der St. John von Süden nach Norden durchströmt.
»Wie weit,« fragte James Burbank, »sind wir jetzt von Camdleß-Bai entfernt?«
»Etwa hundert Meilen.«
»Also haben wir noch nicht ein Drittel der Strecke hinter uns,« bemerkte Edward Carrol.
»Mars,« fragte Gilbert, »wie sollen wir nun weiterfahren? Sollen wir an Land gehen und an einem der Ufer entlang marschieren? Das wäre mühsam und zeitraubend. Wäre es nicht möglich, den Fluß soweit zu befahren, wie er eben befahrbar ist? Ein solcher Versuch lohnt mindestens der Mühe. – Was meinst du dazu?«
»So wollen wir's machen, Massa Gilbert,« antwortete Mars.
Es war in der Tat das Beste, was sie tun konnten.
Zu Fuß weiterzugehen, war ja immer noch Zeit. Wenn sie zu Wasser weiterfuhren, sparten sie große Anstrengungen und Zeitverlust.
Das Boot glitt, dem östlichen Ufer folgend, über den See. Es hatte flotte Fahrt. In dem Segel saß ein strammer Nordwind. Dank dieser kräftigen Brise konnten die Ruder den ganzen Tag über ruhen, ohne daß diese Untätigkeit zu einer Verzögerung geführt hätte.
Als der Abend anbrach, waren die 30 Meilen, die der George-See in der Länge von Norden nach Süden maß, ohne Schwierigkeit rasch zurückgelegt.
Gegen sechs Uhr machte James Burbank mit seiner kleinen Truppe an dem untern Winkel Halt, wo der St. John sich in den See ergießt.
Es wurde gerastet, weil an dieser Stelle drei bis vier Häuschen einen winzigen Weiler bildeten. Es wohnten hier einige jener floridischen Nomaden, die zum Beginn der schönen Jahreszeit hauptsächlich der Jagd und der Fischerei obliegen.
Auf Edward Carrols Vorschlag hin schien es ratsam. Erkundigungen einzuziehen, ob Texar vorbeigekommen sei, und man tat recht daran.
Einer der Bewohner dieses winzigen Dörfchens wurde ausgefragt, ob er in den letzten Tagen ein Boot gesehen habe, das über den George-See in der Richtung nach dem Washington-See gefahren sei – ein Boot mit etwa acht Mann, einer farbigen Frau und einem Kinde, einem kleinen weißen Mädchen?
»Allerdings,« antwortete dieser Mann, »vor 48 Stunden habe ich ein Boot vorbeikommen sehen, auf das diese Beschreibung paßt.«
»Hat es an diesem Weiler Halt gemacht?« fragte Gilbert.
»Nein! Es ist im Gegenteil in größter Eile dem Oberlauf des Stromes zugesteuert. Ich habe ganz deutlich,« setzte der Floridier hinzu, »eine Frau mit einem kleinen Mädchen auf dem Arm an Bord gesehen.«
»Meine Freunde,« rief Gilbert, »gute Hoffnung! Wir sind Texar auf der Spur!«
»Ja!« setzte James Burbank hinzu. »Er hat nur einen Vorsprung von 48 Stunden, und wenn wir nur noch einige Tage lang mit dem Boote fahren können, holen wir ihn ein!«
»Kennen Sie den Lauf des St. John oberhalb des George-Sees?« fragte Edward Carrol den Floridier.
»Jawohl, Herr, ich habe ihn auf über 100 Meilen befahren.«
»Meinen Sie, daß er für ein Boot wie unsres befahrbar ist.«
»Was für einen Tiefgang hat es?«
»Fast drei Fuß,« antwortete Mars.
»Drei Fuß?« sagte der Floridier. »Da wird's an manchen Stellen knapp sein. Wenn Sie aber die Durchfahrten sondieren, glaube ich, können Sie bis zum Washington-See kommen.«
»Und wie weit ist's von da noch bis zum Okeechoben-See?«
»Etwa 150 Meilen.«
»Besten Dank, guter Mann.«
»Weiter!« rief Gilbert. »Wir fahren, bis wir kein Wasser mehr unter uns haben!«
Der Wind flaute gegen Abend ab, und es mußte wieder gerudert werden. Ehe es völlig Nacht geworden war, hatte man wiederum einige Meilen zurückgelegt.
Gilbert hatte die Steuerung übernommen, während Mars, mit einer langen Stange in der Hand, vorn stand. Er sondierte ohne Unterlaß, und wenn er auf Grund stieß, ließ er nach Back- oder Steuerbord halten. Kaum fünfmal lief man während dieser nächtlichen Fahrt auf, und stets war man ohne große Mühe wieder flott.
Als gegen vier Uhr morgens die Sonne wiederkam, schätzte Gilbert die während der Nacht zurückgelegte Strecke auf mindestens 15 Meilen.
Die Fahrt würde jetzt beschwerlicher. Bei den zahlreichen Windungen des Flusses streckten sich an vielen Stellen Landzungen weit in den Strom hinein. Sanddünen und seichte Stellen mußten oft umfahren werden. Dies führte zu Umwegen und Verzögerungen.
Auch der Wind war nicht immer zu benutzen. Die Neger neigten sich über ihre Ruder und entfalteten eine solche Kraft, daß sie die verlorene Zeit bald wieder eingebracht hatten.
Es boten sich auch Hindernisse, die gerade für den St. John charakteristisch waren – nämlich treibende Inseln, die durch eine eigentümliche Anhäufung einer wuchernden Pflanze namens »Pistia« gebildet wurde. Diese Teppiche von Kraut und Gras waren fest genug, um Fischottern und Reihern zur Wohnstätte zu dienen. Indessen mußte es mit größter Vorsicht vermieden werden, in diese Pflanzenmassen hineinzugeraten, da man sich nur mit vieler Mühe daraus wieder hätte freimachen können.
Der Tag verging ohne Zwischenfall, so auch die Nacht. Der Fluß war noch immer völlig verödet. Kein Boot zeigte sich auf dem Wasser. Das war übrigens nur angenehm. Es war besser, in dieser fernen Gegend keine Menschenseele anzutreffen, da Begegnungen hier doch unter Umständen übel ablaufen konnten. Die Waldläufer, die Jäger von Beruf und die Abenteurer aller Art sind sehr zweifelhaftes Gesindel.
Auch mußte stets befürchtet werden, daß man auf Milizen von Jacksonville oder St. Augustine stoßen könne, die sich vor Dupont oder Stevens nach Süden zurückgezogen hatten. Unter diesen Abteilungen waren dann sicher Leute von der Partei Texars, die an James und Gilbert Burbank gern ihr Mütchen gekühlt hätten. Die kleine Truppe mußte jedwedem Zusammenstoß aus dem Wege gehen – nur dann durfte sie sich auf einen Kampf einlassen, wenn der Spanier selber mit ihnen zusammentraf und es galt, ihm seine Gefangenen mit Gewalt zu entreißen.
Glücklicherweise vollzog sich die Fahrt unter den obwaltenden Verhältnissen immerhin noch so günstig, daß am 25. abends die Entfernung zwischen dem George-See und dem Washington-See zurückgelegt worden war. An der Grenze dieser Ansammlung stagnierenden Wassers angelangt, mußte das Boot Halt machen. Der Fluß war hier so schmal und seicht, daß man nicht weiter fahren konnte.
Zwei Drittel der Strecke waren zurückgelegt. James Burbank und die Seinen waren nur noch 140 Meilen von den Everglades entfernt.