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Am 1. Juni um acht Uhr morgens öffnete sich die Thür des Hauses South Halsted Street Nr. 3997 in Chicago vor einem jungen Manne, der Malergeräth auf dem Rücken trug und dem ein junger Neger mit einer Reisetasche in der Hand folgte.
Welches Erstaunen und welche Freude für Frau Real, als ihr geliebter Sohn ins Zimmer trat und sie ihn in die Arme schließen konnte.
»Du . . . Max . . . bist Du es wirklich? . . .«
»In eigner Person, Mutterherz!«
»Und jetzt in Chicago . . . wo Du in . . .«
»Richmond sein solltest?« vervollständigte Max Real ihre Worte.
»Jawohl . . . in Richmond! . . .«
»Beruhige Dich nur, liebe Mutter. Ich habe Zeit genug, nach Richmond zu kommen, da Chicago aber auf meiner Reiseroute lag, hatte ich – meiner Meinung nach – das Recht, hier einige Tage zu verweilen und sie mit Dir zu verleben . . .«
»Du läufst aber Gefahr, den Anschluß zu verfehlen, liebes Kind!«
»Ich würde es aber nie verfehlt haben, Dich unterwegs einmal zu umarmen, mein Mütterchen! . . . Bedenke nur, seit zwei langen Wochen hab' ich Dich nicht gesehen!«
»Ach, Max, wie sehn' ich mich danach, daß diese Partie beendigt wäre . . .«
»Und ich nicht minder!«
»Natürlich zu Deinen Gunsten!«
»Sei darüber ganz ruhig! Ist mir's doch, als hätt' ich das Schlüsselbund zu William J. Hypperbone's Panzerschrank schon in der Tasche,« antwortete Max Real lachend.
»Jedenfalls bin ich glücklich, Dich einmal zu sehen, lieber Sohn . . . recht, recht glücklich!«
Max Real befand sich in Cheyenne in Wyoming, wo er am 29. Mai, nach der Rückkehr von seinem Ausfluge nach dem Nationalpark des Yellowstone, die dritte, ihn betreffende Depesche – acht durch fünf und drei Augen – ausgehändigt bekam. Das achte Feld nach dem von Wyoming eingenommenen achtundzwanzigsten aber war Illinois. Er hatte die Zahl acht also zu verdoppeln, und die Zahl sechzehn führte den jungen Maler nach dem vierundvierzigsten Felde, nach Richmond City in Virginien.
Zwischen Chicago und Richmond liegt ein sehr verzweigtes Netz von Bahnen, die die Strecke von der einen Stadt zur andern binnen vierundzwanzig Stunden bequem zu durchmessen gestatten. Da Max Real jetzt vierzehn Tage – vom 29. Mai bis zum 12. Juni – zur Verfügung hatte, konnte er diese nach Belieben hinbringen, und es erschien ihm angezeigt, wenigstens eine Woche im Mutterhause der Ruhe zu pflegen.
Von Cheyenne am Nachmittage abgereist, war er achtundvierzig Stunden später in Omaha und den Tag darauf in Chicago ebenso in vollem Wohlsein eingetroffen, wie der für die Sclaverei schwärmende Tommy, der sich als freier Bürger des freien Amerika noch immer ebenso unbehaglich fühlte, wie ein armer Teufel in Kleidern, die ihm viel zu weit sind.
Während seines Aufenthaltes wollte Max Real zwei unterwegs angefangene Bilder vollenden, das eine die Stadt Kansas nahe dem Fort Riley, das andre die Wasserfälle des Fire Hole im Nationalpark darstellend. In der Ueberzeugung, die beiden Gemälde zu anständigem Preise zu verkaufen, sollte ihn das schadlos halten, wenn ein ungünstiges Geschick ihn etwa verurtheilte, im weitern Verlaufe seiner Fahrten wiederholt Einsätze zu entrichten.
Entzückt, den geliebten Sohn einige Tage bei sich zu haben, stimmte Frau Real dessen Absichten nach allen Seiten zu und drückte ihn nochmals stürmisch ans Herz.
Nun plauderten die beiden, erzählten allerlei und verzehrten ein gutes Frühstück, das zwischen Mutter und Sohn getheilt ja umso besser schmeckte und den jungen Mann für die Restaurants in Kansas und Wyoming reichlich entschädigte. Obgleich er mehrmals an Frau Real geschrieben hatte, mußte er doch über seine Reise vom ersten Anfang an noch einmal berichten, die verschiedenen Zwischenfälle schildern, das Abenteuer mit den Tausenden durch die Ebenen von Kansas irrenden Pferden beschreiben und seine Begegnung mit dem Titbury'schen Ehepaare in Cheyenne haarklein erzählen. Daraufhin erfuhr er durch seine Mutter erst die Unannehmlichkeiten, die das Ehepaar im Staate Maine in Calais erlebt hatte, daß Titbury auf Grund des Gesetzes bezüglich alkoholischer Getränke verurtheilt und verhaftet worden sei und welch schlimme pecuniäre Folgen das noch für ihn gehabt habe.
»Und wie steht es jetzt im Ganzen mit der Partie?« fragte Max Real.
Um ihn darüber leichter aufzuklären, führte Frau Real den jungen Mann in ihr Zimmer und wies auf eine auf dem Tische ausgebreitete Landkarte hin, die mit kleinen, verschieden gefärbten Flaggen besteckt war.
Bei seinen Fahrten durch das weite Land hatte sich Max Real nur wenig um seine Mitspieler bekümmert und in den Hôtels und Bahnhöfen die aufliegenden Zeitungen kaum angesehen. Jetzt brauchte er nur diese Karte zu besichtigen, um sofort, wenn er die Farben eines jeden der Sieben kannte, auf dem Laufenden zu sein. Seine Mutter hatte übrigens die Wechselfälle des Match Hypperbone von Anfang au gewissenhaft verfolgt.
»Wer ist nun,« fragte er zuerst, »diese blaue Flagge, die sich an der Spitze befindet?«
»Das ist die Tom Crabbe's, mein Sohn, den das gestrige Auswürfeln, das vom 31. Mai, nach dem siebenundvierzigsten Felde, dem Staate Pennsylvanien, verwiesen hat.«
»Ei, Mutterherz, da wird sein Traineur John Milner aber jubeln! Wenn aber der dumme Boxer, dieser Fabrikant von Faustschlägen, davon das Geringste begreift, soll sich der Ocker auf meiner Palette gleich in Scharlach verwandeln! . . . Und die rothe Flagge?«
»Die des X K. Z., die sich auf dem sechsundvierzigsten Felde, dem des Districts von Columbia, befindet.«
Dank der vorgeschriebenen Verdoppelung von zehn, also durch zwanzig Augen, hatte der Mann mit der Maske in der That einen Sprung über zwanzig Felder, von Milwaukee in Wisconsin bis nach Washington, dem Sitze der Regierung der Vereinigten Staaten, machen können, der ihm durch das engmaschige Bahnennetz in den betreffenden Landestheilen wesentlich erleichtert worden war.
»Man hat noch immer keine Ahnung, wer der Unbekannte ist?« fragte Max Real.
»Nicht die geringste, liebes Kind.«
»Ich bin überzeugt, Mutter, daß er in den Agenturen eine wichtige Rolle spielt und daß viele hohe Wetten auf ihn eingegangen werden.«
»Ja, viele Leute glauben an seine Gewinnaussichten, und ich gestehe, auch mir flößt er gewisse Befürchtungen ein.«
»Da sieht man, was es bedeutet, eine geheimnißvolle Persönlichkeit zu sein!« erklärte Max Real.
Auf die Frage, ob sich jener X. K. Z. augenblicklich in Chicago befinde oder bereits nach dem District Columbia abgereist sei, hätte kein Mensch antworten können. Und doch verdient es Washington, wenn es auch nur der Mittelpunkt der Bundesverwaltung und ohne Industrie und Handelsverkehr ist, ganz gewiß, ihm wenigstens einige Tage zu opfern.
In freundlicher Lage, unfern der Vereinigung des Potamac und der Anacostia, sowie durch die Chesapeakebai mit dem Ocean verbunden, zählt die Bundeshauptstadt, selbst außer der Zeit, wo die Tagung des Congresses ihre Bevölkerung fast verdoppelt, nicht weniger als zweihundertfünfzigtausend Einwohner. Zugegeben, daß der Bundesbezirk so beschränkt ist, daß er die letzte Stelle unter den Staaten der amerikanischen Republik einnimmt, so entspricht die Stadt nichtsdestoweniger ihrer hohen Bestimmung. Zuerst bestand sie eigentlich nur aus ihren größten Bauwerken, die auf den Gebieten der Tuscazoras und der Monacans errichtet worden waren; jetzt aber hat sie sich schon über mehrere benachbarte Orte hin ausgedehnt.
Der siebente Partner hätte, wenn er damit noch nicht bekannt war, die herrliche Architektur ihres Capitols auf seinem nach den Potamac zu abfallenden Hügel, die drei Gebäudetheile bewundern können, die für den Senat, die Deputiertenkammer und den Congreß bestimmt sind, worin sich also die gesammte Vertretung des Volkes vereinigt, und darüber die hohe eiserne Kuppel mit der sie krönenden Figur der Amerika, ihre Säulenringe und doppelte Colonnade mit den Basreliefs, die sie schmücken, und den Statuen, die sie beleben.
Wenn er das Weiße Haus nicht kannte, so hätte er unter den vom Capitol ausstrahlenden Alleestraßen die Pennsylvaniastraße wählen können, die graden Weges zur Residenz des Präsidenten – eine bescheidene, demokratische Wohnstätte – führt, die sich zwischen den Gebäuden des Schatzamtes und mehrerer Ministerien erhebt.
Wenn er das Denkmal Washingtons nicht kannte, so würde er den hundertsiebenundfünfzig Fuß (47,8 Meter) hohen Marmorobelisk schon von weitem inmitten der Anlagen am Potamacufer erblickt haben.
Kannte er das Bundes-Postamt noch nicht, so hätte er ein in antikem Stile gehaltenes Bauwerk aus weißem Marmor, vielleicht das schönste Gebäude der prunkreichen Stadt, bewundern können.
Und welch angenehme und belehrende Stunden hätte es geboten, durch die reichen, im Patentamt untergebrachten naturhistorischen und ethnographischen Sammlungen der Smitshonian Institution zu wandern, die Museen mit ihrer großen Anzahl von Statuen, Gemälden und Bronzen, sowie das Arsenal zu besuchen, wo sich eine Ehrensäule für die in einem Gefechte vor Algier gefallenen amerikanischen Seeleute erhebt, die die rachedrohende Inschrift: »Verstümmelt durch die Engländer!« trägt!
Jetzt erfreut sich die Hauptstadt der Vereinigten Staaten eines recht heilsamen Klimas. Das Wasser des Potamac benetzt sie in ausgedehntem Maße, ihre zusammen fünfzig Lieues (nahezu 195 Kilometer) langen Straßen, ihre Gärten und Parke werden von mehr als sechzigtausend Bäumen beschattet – darunter die, die das Invalidenhotel und die Howard-Universität, den Park des Rechtes und den Nationalfriedhof umgeben, in dem das Mausoleum William J. Hypperbone's einen ebenso schönen Platz wie in den Oakswoods von Chicago gefunden hätte.
Glaubte X K. Z. dann endlich, der Bundeshauptstadt einen größern Theil seiner Zeit widmen zu dürfen, so würde er deren Bezirk auch nicht verlassen haben, ohne die nationale Pilgerfahrt nach dem vier Lieues (15,6 Kilometer) entfernten Mount Vernon zu unternehmen, wo ein Verein von Damen für die Erhaltung des Hauses sorgt, in dem Washington einen Theil seines Lebens verbrachte und zuletzt auch aus diesem schied.
Doch wenn der letzte Partner schon in der Hauptstadt der Union eingetroffen war, hatte wenigstens noch keine Zeitung seine Anwesenheit gemeldet.
»Und diese gelbe Flagge? . . .« fragte Max Real weiter, indem er auf die wies, die inmitten des fünfunddreißigsten Feldes angebracht war.
»Das ist die Flagge Lissy Wag's, liebes Kind.«
Diese Flagge wehte nämlich vorläufig noch über Kentucky, denn am 1. Juni hatte der verderbliche Schlag, der Lissy Wag in das Gefängniß von Missouri schickte, diese noch nicht getroffen.
»Ah, eine reizende junge Dame!« rief Max Real. »Ich sehe sie noch immer verlegen und erröthend bei dem Begräbnisse William J. Hypperbone's und ebenso auf der Bühne des Auditoriums! . . . Wahrlich, wär' ich ihr begegnet, ich hätte ihr meine Glückwünsche zu ihrem schließlichen Erfolge wiederholt . . .«
»Nun, und an den Deinigen denkst Du gar nicht, Max?«
»O natürlich, auch zu dem meinigen, Mutter! . . . Wir sollten alle beide die Partie gewinnen . . . da würde ehrlich getheilt. Hurrah, das wäre ein hinlänglicher Erfolg!«
»Ja, wäre das denn möglich?«
»Nein, leider eigentlich nicht, und doch kommen in dieser Zeitlichkeit so außerordentliche Dinge vor . . .«
»Du weißt, Max, wie niemand daran glauben wollte, daß sich Lissy Wag überhaupt an der Partie betheiligen könnte.«
»Ja, das arme Mädchen war schwer erkrankt, und mehr als einer von den ›Sieben‹ freute sich wohl im stillen darüber. Ich aber nicht, Mutterherz, ich gewiß nicht! . . . Zum Glück hatte sie eine Freundin, die sie bestens gepflegt und ihre Genesung befördert hat . . . jene Jovita Foley . . . die in ihrer Art ebenso entschlossen ist, wie der Commodore Urrican. Wann wird denn zum nächstenmale für Lissy Wag gewürfelt?«
»In fünf Tagen, am 6. Juni.«
»Na, wir wollen hoffen, daß meine hübsche Partnerin den Gefahren des Weges entgeht, daß sie sich nicht in das Labyrinth von Nebraska, in das Gefängniß von Missouri oder in das Death Valley verirrt! Glück auf dem Wege! . . . Ja, das wünsch' ich ihr von ganzem Herzen!«
Entschieden dachte Max Real manchmal an Lissy Wag . . . sogar recht oft und ohne Zweifel zu oft, wie Frau Real, erstaunt über die Wärme, mit der er von dem jungen Mädchen sprach, sich vielleicht im stillen sagte.
»Und Du fragst gar nicht, wer die grüne Flagge ist, Max?« nahm sie wieder das Wort.
»Die, die auf dem zweiundzwanzigsten Felde befestigt ist, liebe Mutter?«
»Ja, das ist die Flagge des Herrn Kymbale.«
»O, ein wackrer, liebenswürdiger Mann, dieser Journalist,« bemerkte Max Real, »der, so viel ich habe sagen hören, die Gelegenheit benutzt, vom Lande zu sehen, so viel . . .«
»Ganz recht, mein Kind, und die ›Tribune‹ bringt fast täglich Berichte von seiner Feder.«
»Da werden sich seine Leser nicht zu beklagen haben, und wenn er etwa noch tief nach Oregon oder Washington hineinkäme, dürfte er diesen merkwürdige Dinge zu erzählen haben.«
»Er ist aber ziemlich weit zurückgeblieben.«
»Das hat bei unserm Spiele nicht viel zu bedeuten,« antwortete Max Real; »ein einziger glücklicher Wurf, und man überholt die andern Spieler.«
»Ja freilich, das ist wohl möglich.«
»Wer ist nun die Flagge hier, die scheinbar ganz traurig noch auf dem vierten Felde steht?«
»Das ist Hermann Titbury.«
»Ach, der schreckliche Mensch!« rief Max Real. »Der wird schön wüthen, weil er der letzte . . . und der gute letzte ist!«
»O, er ist zu bedauern, Max, wirklich zu bedauern, denn er hat auf zweimaliges Würfeln nur vier Schritte vorwärts thun können, erst weit hinein nach Maine und von da nach dem entlegenen Utah!«
Heute, am 1. Juni, konnte noch niemand wissen, daß das unbeliebte Ehepaar nach seinem Eintreffen in Great Salt Lake City alles mitgeführten Reisegeldes beraubt worden war.
»Und doch beklage ich ihn nicht!« sagte Max Real. »Nein, das geizige Paar ist zu unsympathisch, und ich bedaure nur, daß es bisher noch keinen tüchtigen Einsatz zu bezahlen gehabt hat . . .«
»Du vergißt, daß dem Manne in Calais eine hohe Geldbuße auferlegt worden ist,« bemerkte Frau Real.
»Desto besser, und diese Summe wird der Halsabschneider nicht erst haben stehlen können! Ich wünsche wahrhaftig, daß für ihn wiederum die geringste Augenzahl, eins und eins, geworfen wird. Damit käme er nach dem Niagara, wo ihm der Brückenzoll bare tausend Dollars kostete!«
»Du bist grausam gegen die Titbury's, Max.«
»Es sind auch widerwärtige Menschen, liebe Mutter, die nur durch Wucher reich geworden sind und kein Mitleid verdienen. Das fehlte grade noch, daß der Zufall sie den freigebigen Hypperbone beerben ließe!«
»Möglich ist ja alles,« antwortete Frau Real.
»Doch, sage mir, ich sehe ja die Flagge des berühmten Hodge Urrican gar nicht.«
»Die orangefarbene? . . . Nein, sie weht jetzt nirgends, denn das Mißgeschick hat den Commodore nach dem Thale des Todes verwiesen, von wo er nach Chicago zurückkehren muß, um die Partie von vom anzufangen.«
»Es ist hart für einen Seeoffizier, seine Flagge streichen zu müssen!« rief Max Real. »Da wird er gewiß geschimpft und gewettert haben, daß sein Schiff vom Kiel bis zu den Masttoppen gezittert hat!«
»Das ist wohl möglich, Max.«
»Und wann wird für den X. K. Z. gezogen?«
»Es ist doch ein närrischer Einfall des Verstorbenen gewesen, den Namen des letzten der Sieben zu verheimlichen!«
Max Real war nun über die Sachlage vollständig unterrichtet. Er wußte, daß er infolge der letzten Entscheidung durch die Würfel, wonach er Virginia aufzusuchen hatte, die dritte Stelle einnahm, und ihm Tom Crabbe als erster und X. K. Z, als zweiter voraus waren. Freilich sollte für diese erst noch zum drittenmale gewürfelt werden.
Darüber ließ er sich, was seine Mutter und Tommy davon auch denken mochten, jedoch kein graues Haar wachsen. Die Zeit des Aufenthalts in Chicago verbrachte er meist in seinem Atelier, wo er die beiden Landschaften vollendete, die in den Augen eines amerikanischen Bilderliebhabers mit Rücksicht auf die besonderen Verhältnisse, unter denen sie entstanden waren, einen um so hohem Werth gewinnen mußten.
So kam es, daß Max Real in Erwartung seiner Wiederabreise sich ebenso um den Match selbst, wie um die Personen, die als daran Betheiligte im Lande hin und her fuhren, blutwenig kümmerte. Er selbst spielte in der Partie ja eigentlich nur eine Rolle, um seiner vortrefflichen Mutter kein Herzeleid zu bereiten, verhielt sich der ganzen Geschichte gegenüber aber ebenso gleichgültig wie Lissy Wag, die nur um Jovita Foley's willen an dem Spiele theilnahm.
Nichtsdestoweniger bekam er während seines Aufenthalts doch Kenntniß von dem Ausfall des dreimaligen Würfelns im Auditorium. Für Hermann Titbury war das wirklich am 2. Juni ein Unglückswurf gewesen, denn dieser nöthigte ihn, sich nach dem neunzehnten Felde, dem Staate Louisiana zu begeben, wo sich das Gasthaus befand, in dem er bleiben mußte, bis für die andern zweimal gewürfelt worden war. Mit dem Würfelfall am 4. konnte Harris T. Kymbale sehr zufrieden sein, denn dieser führte ihn nach dem dreiunddreißigsten Felde, Norddakota, und stellte dem Reporter damit eine höchst interessante Reise in Aussicht.
Am 6. Juni um acht Uhr früh würfelte der Notar Tornbrock endlich für Lissy Wag. An diesem Morgen begab sich Max Real, getrieben von dem Interesse an dem Schicksale des jungen Mädchens, selbst nach dem Auditorium, von dem er höchst niedergeschlagen wieder heimkam.
Durch den Wurf von sieben, hier auf vierzehn zu verdoppelnden Augen war Lissy Wag vom achtunddreißigsten Felde, dem Staate Kentucky, nach dem zweiundfünfzigsten gewiesen worden. Hier, im Staate Missouri, mußte die unglückliche Partnerin aber im »Gefängnisse« warten, bis ein andrer, zufällig hierher verschlagener Partner ihre Stelle einnahm.
Selbstverständlich blieben die Ergebnisse des dreimaligen Würfelns nicht ohne Rückwirkung auf die Kreise der Spieler oder Wettenden. Tom Crabbe und Max Real wurden schärfer als je verlangt. Für sie eröffneten sich die besten Aussichten, und es war wirklich schwierig, zwischen den beiden Günstlingen des Glücks zu wählen.
Wie bekümmert fühlte sich Max Real, als er, zu seiner Mutter zurückgekehrt, die gelbe Flagge nach Missouri verpflanzen mußte, das nach dem Willen des excentrischen Verstorbenen und für Lissy Wag nach der Laune des Geschicks zum Gefängnisse der Spieler verwandelt war. Er suchte seinen Kummer darüber auch gar nicht zu verhehlen. Das Gefängniß und der Schacht waren die unglücklichsten Plätze, die einem Theilnehmer am Match nur zufallen konnten . . . sogar noch unglücklicher als der im Thale des Todes, dessen Opfer Hodge Urrican geworden war. Der Commodore erlitt ja nur eine Verzögerung, konnte dann sofort aber weiter mitspielen; wer konnte dagegen wissen, ob der Match Hypperbone nicht überhaupt zu Ende ging, ehe die Gefangene wieder befreit wurde?
Am 7. Juni schickte sich Max Real endlich an, Chicago zu verlassen. Seine Mutter wiederholte alle ihre Ermahnungen und warnte ihn besonders, sich unterwegs irgendwo aufhalten zu lassen.
»Und wenn die Depesche,« sagte sie, »die Du in Richmond erhalten wirst, liebes Kind, Dich nicht grade ans Ende der Welt hinausschickt . . .«
»Davon kehrt man doch zurück, Mutter, kehrt man allemal zurück, doch aus dem Gefängnisse! . . . Gestehe nur, daß die ganze Sache höchst lächerlich ist. Wie ein gewöhnliches Rennpferd Gefahr zu laufen, um eine halbe Nasenlänge geschlagen zu werden . . . wahrlich, das ist albern!«
»Nein, mein Kind, o nein! Reise nur ab und Gott sei mit Dir!«
Die würdige Dame, die sich jetzt tief erregt fühlte, sagte diese Dinge in vollem Ernst.
Selbstverständlich hatte es Max Real während seines Aufenthalts in Chicago kaum abwenden können, von Maklern, Reportern und Wettlustigen ausgesucht zu werden, die sich nach dem Hause in der South Halsted Street drängten. Das war ja auch gar nicht zu verwundern; man taxierte ihn ja gleich hoch mit Tom Crabbe . . . Welche Ehre!
Seiner Mutter gegenüber hatte sich Max Real natürlich verpflichtet, nach Virginia den kürzesten Weg zu wählen. Doch wenn er nur am 12. in Richmond war – wer hätte ihn getadelt, wenn er jetzt der gradesten Linie eine gebrochene oder gebogene Bahnlinie dahin vorzog? Jedenfalls hatte er sich aber vorgenommen, die Staaten, die er berühren mußte, um Virginia und dessen Hauptstadt Richmond zu erreichen, nämlich Illinois, Ohio, Maryland und Nordvirginia, dabei nicht zu verlassen.
Wir geben hier den vom 11. Juni, vier Tage nach der Abfahrt, datierten Brief wieder, den Frau Real erhielt und der sie kurz mit den Vorfällen auf der Reise bekannt machte. Abgesehen von persönlichen Bemerkungen über die berührten Länder, die flüchtig besuchten Städte und zufällige Begegnungen, gab dessen weiterer Inhalt ihr doch manches zu denken und erfüllte sie mit einiger Unruhe über die Seelenverfassung ihres Sohnes.
»Richmond, Va., am 11. Juni.
Meine liebe, gute Mutter!
Da bin ich denn am Ziele angelangt – nicht an dem des großen Ochsenkopfes von Partie, doch an dem, das mir der dritte Würfelfall zuwies. Nach dem Fort Riley in Kansas, nach Cheyenne in Wyoming, Richmond in Virginia! Beunruhige Dich also nicht über das Wesen, das Du auf Erden am meisten liebst und das Deine Liebe aufrichtig erwidert . . . ich bin wohl und munter an meinem Posten!
Oh, könnte ich doch dasselbe von der armen Lissy Wag sagen, die das feuchte Stroh des Kerkers in jener Stadt Missouris erwartet. Wenn ich in ihr, liebe Mutter, auch nur eine Rivalin, doch eine reizende und interessante Rivalin zu sehen habe, so verhehle ich Dir doch nicht, daß mich ihr trauriges Los aufs tiefste betrübt. Je mehr ich an den beklagenswerthen Würfelfall – sieben durch drei und vier, und diese zu verdoppeln – denke, desto schmerzlicher fühl' ich mich davon berührt, desto mehr beklage ich, daß die gelbe Flagge, die von der unerschrockenen Jovita Foley für ihre Freundin bisher so tapfer hoch getragen worden war, auf der Mauer jenes Gefängnisses aufgepflanzt werden muß! . . . Und für wie lange wird sie dort wohl wehen? . . .
Ich bin also am Morgen des 7. abgefahren. Die Bahn verläuft am Südufer des Michigan und gewährt oft einen hübschen Ausblick nach dem See. Doch, unter uns, unsern See kenne ich ja genügend und das Land in seiner Umgebung nicht minder. In diesem Theile der Vereinigten Staaten, ganz wie in Canada, ist es übrigens gestattet, etwas blasiert zu denken über die Seen, über ihr blaues Wasser, das nicht immer blau ist, wie über ihren schlummernden Spiegel, der keineswegs immer schlummert! Wir können einige davon abgeben, und ich frage mich, warum das an Binnenseen so arme Frankreich uns nicht einen nach seiner Wahl abgekauft hat, wie wir 1803 Louisiana von ihm erstanden haben.
Immerhin hab' ich nach rechts und links durch das Loch in meiner Palette hinausgeguckt, während das Murmelthier von Tommy neben mir in tiefem Schlafe lag.
Sei getrost, liebste Mutter, ich habe Dein Negerbürschchen nicht geweckt. Vielleicht hat er geträumt, ich gewönne genug Millionen Dollars, um ihn in die härteste Sclaverei zurückzustoßen. Stören wir ihn also nicht in seinem Glücke.
Ich folge zum Theil demselben Wege, den Harris T. Kymbale eingehalten hat, als er sich von Illinois nach New York, von Chicago nach dem Niagara begab. In Cleveland City in Ohio eingetroffen, verlasse ich ihn aber und weiche nun nach Südwesten davon ab. Eisenbahnen giebt es übrigens überall. Ein Wandrer wüßte kaum, wohin er neben ihnen den Fuß setzen sollte.
Verlange nicht von mir, liebe Mutter, die Abfahrts- und Ankunftszeiten bei dieser Reise aufzuzählen. Das hätte für Dich kein weiteres Interesse. Ich werde einige Oertlichkeiten anführen, wo unsre Lokomotive stillstehend ihre Dampfwolken ausgestoßen hat. Natürlich nicht alle Orte. In dieser industriereichen Gegend giebt es deren so viele wie Zellen im Bienenstocke. Also nur die bedeutendsten.
Von Cleveland aus hab' ich mich nach Warren begeben, einem wichtigen Platze Ohios, der an Petroleumquellen so reich ist, daß selbst ein Blinder, wenn er nur eine Nase hätte, sie an ihrem widerlichen Geruche erkennen müßte. Hier kann man fürchten, daß die ganze Luft anbrennt, wenn einer nur ein Zündhölzchen anstreicht. Und dann, welches Land! So weit das Auge reicht, nichts als Pumpengerüste und überbaute Quellenmündungen, selbst auf den Hügelabhängen und den Ufern der Creeks. Alles das sind Lampen, Lampen von fünfzehn bis zwanzig Fuß Höhe, denen es nur an einem Dochte fehlt.
Du siehst, liebe Mutter, das Land hier hält mit unsern poesievollen Prairien des Fernen Westens keinen Vergleich aus, noch weniger mit dem wilden Thalgelände von Wyoming, den ausgedehnten Fernsichten von den Felsenbergen und nicht mit den tiefen Horizonten der großen Seen und der Oceane. Industrielle Schönheiten . . . recht gut; künstlerische Schönheiten . . . noch besser, natürliche Schönheiten aber gehen doch über alles!
Ich gestehe Dir jetzt, liebe Mutter, daß ich, hätte mich beim letzten Auswürfeln das Glück begünstigt . . . begünstigt durch die Wahl des Landes . . . Dich so gern mitgenommen hätte. Ja, verehrte Frau Real, zum Beispiel nach dem Far West. Ich sage nicht, daß mir die Alleghanykette nicht das und jenes hübsche Bild vor Augen geführt hätte, doch vom Standpunkte des Malers betrachtet läßt sich das nicht mit Montana, mit Colorado, Oregon oder Californien vergleichen.
Ja, wir wären zusammen gereist, und wenn wir unterwegs zufällig – wer kann das wissen? – Lissy Wag getroffen hätten . . . Nun, Du hättest sie wenigstens kennen gelernt. Freilich sitzt das arme Mädchen jetzt im Gefängnisse oder ist wenigstens dahin auf dem Wege.
O, wenn sie doch schon beim nächsten Auswürfeln ein Titbury, ein Crabbe oder ein Urrican entsetzen müßte! Müßte der schreckliche Kommodore nach so vielen Prüfungen gar noch das zweiundfünfzigste Feld einnehmen . . . ich glaube, sogar den getreuen Turk verschonte er nicht in seiner Tigerwildheit! . . . Eine Lissy Wag, liebe Mutter, hätte doch – und auch das wäre noch schlimm genug – höchstens nach dem Gasthause oder dem Labyrinth verwiesen werden sollen, jedoch der Schacht, der schreckliche Schacht . . . das Gefängniß, das entsetzliche Gefängniß, solche Plätze schickten sich blos für das stärkere Geschlecht! Nein, das Schicksal hat ihr gegenüber entschieden alle Galanterie vergessen.
Doch wir wollen nicht umherirren und nicht abschweifen, sondern weiterfahren. Von Warren sind wir längs des Ring River und nach Überschreitung der Grenze von Ohio in Pennsylvanien angelangt. Die erste bedeutende Stadt war hier Pittsburg am Ohio mit ihrem Nebenorte Alleghany, der Eisen- – oder wie man sie zu nennen pflegt – der Rauchstadt, trotz der Tausende von Meilen unterirdischer Rohre, durch die ihr Naturgas zugeführt wird. Sie ist nämlich erschreckend schmutzig. In wenigen Minuten bekommt man daselbst ein schwarzes Gesicht und schwarze Hände . . . Hände und Gesicht eines Negers! . . . O, die frischen, klaren und saubern Landschaften von Kansas!
Ich habe ein Glas mit etwas Wasser vor mein Fenster gestellt, und am nächsten Tage hatte ich darin . . . Tinte, dieselbe chemische Brühe, womit ich Dir, liebe Mutter, heute schreibe.
Aus einer Zeitung ersehe ich, daß das Auswürfeln für Urrican am 8. unsern Blitze schleudernden Commodore nur nach Wisconsin verweist. Leider kann er durch den nächsten Wurf, selbst wenn dabei zwölf Augen herauskämen und diese obendrein zu verdoppeln wären, noch nicht bis zum zweiundfünfzigsten Felde gelangen, wo die junge Gefangene schmachtet . . .
Nun, ich bin also weiter südöstlich gefahren. An jeder Seite der Bahnlinie lagen zahlreiche Stationen . . . Städte, Flecken und Dörfer, in der ganzen Gegend aber kein Stückchen Erde, wo die liebe Natur allein geherrscht hätte. Ueberall die Hand des Menschen und seine geräuschvolle Werkstatt! In unserm Illinois ist das ja nicht viel besser, und selbst Canada leidet keine Ausnahme. Es wird noch die Zeit kommen, wo die Bäume aus Metall, die Wiesen aus Filz und der Sand am Meere aus . . . Feilspänen besteht. Das nennt man dann ›Fortschritt‹.
Bei der Fahrt durch die gewundenen Pässe der Alleghanyberge hab' ich indeß auch einige angenehmere Stunden genossen. Hier erblickt man eine malerische, launische, zuweilen wilde Bergkette mit dunkeln Nadelwäldern, steilen Wänden, tiefen Abgründen und gewundenen Thälern neben rauschenden Bergbächen, die die Industrie noch nicht in ihr Joch gespannt hat und die in voller Freiheit herabstürzen.
Weiterhin haben wir die vom obern Potamac durchflossene kleine Ecke von Maryland gestreift, um nach Cumberland zu kommen, das bedeutender ist, als der bescheidene Regierungssitz Annapolis, der gegenüber dem lebenskräftigen und mächtigen Baltimore, wo sich der gesammte Handelsverkehr des Staates concentriert, gar nicht in Betracht kommen kann. Hier erscheint das Land frischer und mehr geeignet für den Ackerbau als für die Industrie. Auch dieses ruht freilich auf einer Unterlage von Eisen und Steinkohle, und mit einigen Schaufeln Erde hat man das fruchtbare Erdreich bis auf die Mineralienschicht entfernt.
Wir sind nun in Westvirginien; Du kannst also ohne Sorge sein, liebste Mutter, Virginia ist nicht mehr fern von hier. Ich wäre eigentlich schon in diesem Lande, wenn die leidige Sclavenfrage den Staat nicht getrennt gesehen hätte, so daß man ihn im Secessionskriege in zwei Theile zerlegen mußte. Während der Osten nämlich mit aller Macht an der menschenunwürdigen Sclaverei festhielt – Tommy schläft; er hört nichts – trennte sich der Westen von den Conföderierten, um unter dem Banner der Föderierten zu kämpfen.
Hier zeigt sich ein welliges, hügeliges, wenn nicht bergiges Land, das in den östlichen Theilen von einzelnen Ketten der Appalachen durchzogen wird. Es enthält Ackerboden, Eisen- und Kohlengruben, und auch Kochsalzlager, die alle Küchen der Bundesstaaten Jahrhunderte hindurch mit Salz versorgen könnten.
Ich bin nicht bis Charleston, der Hauptstadt von Ostvirginien, gegangen – nicht zu verwechseln mit dem andern großen Charleston in Südcarolina, wohin sich mein Kamerad Kymbale begeben hat, und auch nicht mit dem ähnlich lautenden Charlestontown, von dem ich noch sprechen werde. Dagegen hab' ich mich in Martinsburg, der wichtigsten Stadt des Staates an der Atlantischen Küste, einen Tag aufgehalten.
Ja, einen ganzen Tag, und grolle nur deshalb nicht, liebe Mutter, wenige Stunden Bahnfahrt konnten mich von hier ja nach Richmond bringen. Warum ich in Martinsburg Halt gemacht hatte? . . . Einzig und allein einer Art Wallfahrt wegen, zu der ich Tommy nicht mitgenommen habe, weil dieser nur einen Abscheu gegen den Helden empfinden kann, den ich ehren wollte.
Das war John Brown, liebe Mutter, John Brown, der als erster die Fahne der Antisclaverei im Anfange des Secessionskriegs schwenkte. Die virginischen Pflanzer haben ihn wie ein Raubthier behandelt. Nur mit einigen zwanzig Mann an seiner Seite, wollte er sich des Arsenals von Harpers Ferry bemächtigen. Das ist der Name einer kleinen Befestigung auf der Böschung eines Hügels zwischen dem Potamac und dem Shenandoah, die durch ihre reizende Lage, weit mehr aber noch durch die Ereignisse berühmt ist, die sich hier abgespielt haben.
Hierher hatte sich 1859 also der heldenmüthige Vertheidiger der großen und gerechten Sache zurückgezogen. Die Miliz begann sofort ihn anzugreifen. Nachdem er Wunder der Tapferkeit verrichtet, eine schwere Verwundung erlitten hatte und keinen Widerstand mehr möglich sah, wurde er gefangen, nach der nahen Veste von Charlestontown geschleppt und hier am 2. December 1859 gehenkt. – Hier erlitt er einen Tod, der durch keinen Strick ehrlos gemacht werden konnte, sondern den Ruhm des Mannes allezeit nur weiter und weiter verbreitete.Wir schalten hier ein, was der große französische Geograph Élisée Reclus über diese Vorgänge gesagt hat, und es steht zu hoffen, daß seiner edelmüthigen Anregung doch noch einmal Rechnung getragen wird.
»Es giebt keinen noch so untergeordneten Führer förderalistischer Truppen, die in dem großen Kriege gekämpft haben, der auf den Plätzen von Washington oder von andern Städten des Nordens nicht sein Ehrendenkmal hätte; die Stelle aber, wo John Brown fiel, dessen ›Seele vor den Armeen marschierte‹ und der durch sein Beispiel für den schließlichen Sieg mehr gethan hat, als alle Berechnungen der Generale, diese Stelle bleibt, der Menge fast unbekannt, noch immer ein Haufe wüster Trümmer.«
Diesem Märtyrer der Freiheit, der Erlösung der Menschheit aus der Schmach der Sclaverei, wollte ich als Patriot meine Ehrerbietung bezeugen.
Jetzt bin ich endlich in Virginien, liebe Mutter, in dem früher ausgesprochensten Sclavenstaate, der zuerst zum Schauplatz des Secessionskrieges wurde. Ich möchte es den Geographen überlassen, Dir – wenn es Dich interessiert – zu sagen, daß er der Ausdehnung nach unter den Staaten der Union die dreiunddreißigste Stelle einnimmt, daß er in hundertneunzehn Grafschaften zerfällt, daß er ferner, trotz der an der Westseite erlittenen Amputation, noch immer einer der mächtigsten in der Nordamerikanischen Republik ist, daß Damwild und Oppossums hier immer seltener werden, daß Kraniche, Wachteln und Geierbussarde häufig darüber umherflattern, und er im Ueberfluß Weizen und Korn, Mais und Buchweizen, vorzüglich aber Baumwolle erzeugt, was mir lieb ist, weil ich Hemden trage, aber auch viel Tabak, was mich wenig kümmert, da ich nicht rauche.
Was Richmond selbst angeht, so ist es eine hübsche Stadt, die Ex-Hauptstadt des separatistischen Amerika, der Schlüssel Virginiens, den die Bundesregierung erst zuletzt in ihre Tasche steckte. Es liegt, von sieben Hügeln beherrscht, am Ufer des Jamesflusses und streckt, auf dem andern Ufer, Manchester die Hand entgegen, eine Doppelstadt, die es in Amerika, wie die Doppelsterne am Himmel, so vielfach giebt. – Die Stadt ist jedenfalls sehenswerth, vor allem ihr Capitol, eine Art griechischen Tempels, dem freilich der Himmel Attikas und der athenische Hintergrund der Akropolis ganz ebenso fehlen, wie dem Parthenon in Edinburg. Leider giebt es hier, wenigstens für meinen Geschmack, zu viele Fabriken und Werkstätten, z. B. allein hundert für Bearbeitung des Tabaks. Daneben besteht aber auch ein vornehmes Viertel, die Leonard Height, wo sich ein Denkmal zu Ehren des Conföderiertengenerals Lee erhebt, der diese Ehrung zwar nicht wegen der von ihm vertheidigten Sache, doch wegen seiner persönlichen Eigenschaften recht wohl verdient hat.
Im übrigen, liebe Mutter, kann ich Dir nur sagen, daß ich die andern Städte des Staates nicht besucht habe. Sie ähneln sich, wie die amerikanischen Städte überhaupt, auch mehr oder weniger alle. Ich kann Dir also nichts über Petersburg mittheilen, das die Stellung der Separatisten im Süden ebenso vertheidigte, wie Richmond im Norden, nichts über Yorktown, wo vor achtzig Jahren der Unabhängigkeitskrieg durch die Capitulation des Lord Cornwallis sein Ende fand, und ebensowenig von den Schlachtfeldern, wo Mac Clellan weniger glücklich als Grant, Sherman und Sheridan gegen Lee gekämpft hatte. Ich übergehe ferner Lynchburg, heute eine recht lebhafte Fabrikstadt, wohin die secessionistischen Heere flüchteten und von wo sie sich nach den Appalachenbergen zurückziehen mußten, was am 9. April 1865 das Ende des Bürgerkriegs herbeiführte. Ich spreche nicht von Norfolk, Roanoke, Alexandria, der Chesapeakebai und den zahlreichen Badeorten des Staates, und kann auch nur sagen, daß zwei Fünftel der virginischen Bevölkerung zwar farbige, doch recht ansehnliche Leute sind, und daß sich nahe der kleinen Stadt Luray unterirdische Höhlen befinden, die vielleicht schöner sind als die Mammoth Caves von Kentucky.
Dabei fällt mir ein, daß die arme Lissy dort die ungerechte Entscheidung des Schicksals erfahren hat, die sie nach Missouri, man kann fast sagen, deportierte, und ich frage mich, wie es ihr werde möglich gewesen sein, den dreifachen Einsatz mit dreitausend Dollars zu entrichten. Das verursacht mir wirklichen Kummer, und Du wirst das ja wohl begreifen . . .
Eben hab' ich in Richmond auf einem Placat den Ausfall des Würfelns vom 10. Juni gelesen. Die fünf Augen – durch zwei und drei – verweisen den berühmten, unbekannten X. K. Z. nach Minnesota. Vom sechsundvierzigsten Felde gelangt er damit nach dem einundfünfzigsten und gleichzeitig an die Spitze der Partner. Doch wer zum Teufel ist nur dieser Mann? Er scheint mir die besten Aussichten zu haben, und ich zweifle sehr, daß ich ihn morgen, wenn die Würfel für mich fallen, überholen werde.
Hiermit, liebste Mutter, schließ' ich diesen langen Brief, der Dich nur interessieren kann, weil er von Deinem Sohne kommt. Ich umarme Dich inniglich, indem ich meinen Namen unterzeichne, der eigentlich nur noch der eines Rennpferdes ist, das auf dem Turf Hypperbone läuft.
Max Real.«