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»Erhalten von Herrn Hermann Titbury die Summe von dreihundert Dollars Strafgelder, wozu er durch den Entscheid vom 14. dieses Monats wegen Uebertretung der Alkoholgesetze verurtheilt worden war.
Calais, Maine, am 19. Mai 1897.
Der Gerichtsschreiber
Walter Hoek.«
Hermann Titbury hatte sich also, nicht ohne langes, bis zum 19. Mai anhaltendes Widerstreben zur Zahlung dieser Summe entschließen müssen. Als dann die Identität des dritten Partners zweifellos festgestellt und nachgewiesen war, daß es Herr und Frau Titbury waren, die unter dem Namen Herr und Frau Field reisten, hatte der Richter R. T. Ordak dem Verurtheilten nach dreitägiger Haft die weitere Strafe erlassen.
Es war auch die höchste Zeit.
An diesem Tage, dem 19., hatte der Notar Tornbrock zum sechstenmale gewürfelt und dem betreffenden Spieler telegraphisch nach Calais darüber Nachricht gegeben.
Beleidigt, daß sich einer der Theilnehmer am Match Hypperbone in ihrer Stadt unter falschem Namen verborgen hatte, zeigten sich die Bewohner des Ortes jenem wenig entgegenkommend und lächelten sogar über sein Mißgeschick. Waren sie zuerst hoch erfreut gewesen, daß in Maine vom seligen Hypperbone Calais als entscheidender Punkt ausgewählt worden war, so konnten sie es jetzt der blauen Flagge nicht verzeihen, sie von deren Eintreffen nicht benachrichtigt zu haben. Die Folge davon war denn auch, daß der richtige Name des Partners, als er nun bekannt geworden war, keinerlei Aufsehen verursachte. Sobald der Gefängnißwärter ihn in Freiheit gesetzt hatte, schlug Hermann Titbury den Weg nach seinem Gasthause ein. Doch kein Mensch gab ihm das Geleit, keiner wendete bei seinem Vorüberkommen nach ihm den Kopf um. Das würdige Ehepaar liebte auch das Zujubeln der Menge, worüber Harris T. Kymbale sich so sehr freute, ganz und gar nicht und hatte nur den einen Wunsch, Calais so bald wie möglich zu verlassen.
Es war jetzt neun Uhr morgens und somit fehlten noch drei Stunden bis zu dem Augenblicke, wo Titbury im Postamte erscheinen mußte. Beim Thee und kalten Braten ihres Frühstücks beschäftigten sich die Ehegatten auch damit, über ihre Geldverhältnisse ins Reine zu kommen.
»Wieviel haben wir seit unsrer Abfahrt von Chicago schon ausgegeben?« fragte der Gatte.
»Achtundachtzig Dollars und siebenunddreißig Cents,« antwortete die Gattin.
»Wirklich . . . so viel? . . .«
»Und dabei haben wir unterwegs kein Geld zum Fenster hinausgeworfen.«
Wer kein Titbury'sches Blut in den Adern hatte, hätte im Gegentheil erstaunen müssen, daß die bisherigen Ausgaben nicht mehr betrugen. Dazu kamen freilich noch die dreihundert Dollars Strafgelder, womit der der Titbury'schen Casse widerfahrene Aderlaß schon zu einem recht ausgiebigen wurde.
»Und wenn uns die Depesche, die wir von Chicago erhalten sollen, nur nicht etwa verpflichtet, nach dem andern Ende des Landes zu reisen!« seufzte Herr Titbury.
»Wir müßten uns aber doch dazu entschließen,« erklärte Frau Titbury mit Entschiedenheit.
»Ich verzichtete lieber auf die ganze Geschichte . . .«
»Schon wieder!« rief die rechthaberische Matrone. »Ich rathe Dir, lass' es das letztemal sein, daß Du davon sprichst, auf die Aussicht, sechzig Millionen Dollars zu gewinnen, voreilig zu verzichten!«
Endlich vergingen die drei Stunden, und zwanzig Minuten vor zwölf Uhr stellte sich das Ehepaar im Schalterraume des Postamtes ein und wartete hier ungeduldig der Dinge, die da kommen sollten. Außer den beiden Titbury's hatten sich kaum ein halbes Dutzend Neugierige mit hier eingefunden.
Welcher Unterschied gegenüber dem Andrange zur Zeit, wo die andern Partner zu gleichem Zwecke in Fort Riley, in Austin, in Santa-Fé, in Milwaukee und in Key West vor den Schaltern der Telegraphenbureaus standen!
»Ein Telegramm für Herrn Hermann Titbury aus Chicago,« rief jetzt der Beamte.
Die angerufene Persönlichkeit erblaßte in dem Augenblicke, wo sich ihr weiteres Schicksal entscheiden sollte. Die Beine des Mannes knickten zusammen und seine Zunge unterlag einer Halblähmung, so daß er augenblicklich nicht sprechen konnte.
»Hier!« antwortete Frau Titbury, die ihren Mann an den Schultern schüttelte.
»Das ist der berechtigte Empfänger dieser Depesche?« fragte der Beamte.
»Das will ich meinen! . . . Ob er es ist!« rief Frau Titbury.
»Ob ich es bin!« meldete sich endlich der dritte Partner. »Erkundigen Sie sich nur bei dem Richter Ordak! . . . Es hat mir schon mehr als genug gekostet, mich wegen meiner Identität nicht weiter drangsalieren zu lassen!«
In dieser Beziehung konnte also kein Zweifel obwalten. Das Telegramm wurde daraufhin der Frau Titbury ausgehändigt und von dieser erbrochen, denn der zitternden Hand ihres Mannes wäre das unmöglich gewesen.
Da las sie denn mit immer schwächer werdender Stimme, die bei den letzten Worten fast ganz versagte:
»Hermann Titbury, zwei Augen durch eins und eins. Great Salt Lake City, Utah.
Tornbrock.«
Das Ehepaar wurde durch die schlecht verhehlten Spötteleien der übrigen Anwesenden beinahe ohnmächtig. Sie mußten sich auf einer Bank des Vorraums niederlassen.
Das erstemal durch eins und eins nach dem zweiten Felde tief im Staate Maine geschickt zu sein, und das zweitemal, wieder durch eins und eins, nach dem vierten Felde im fernen Utah gehen zu sollen . . . vier Augen durch zweimaliges Würfeln . . . das war doch gar zu arg! Und obendrein sollten die Pechvögel, die sich zuerst von Chicago nach dem einen Ende der Union begeben hatten, nun fast deren andres Ende im fernen Westen aufsuchen!
Nach einigen Minuten gewiß verzeihlicher Schwäche raffte Frau Titbury sich wieder auf, wurde wieder das entschlossene Mannweib, das die Zügel führte, packte ihren Gatten am Arme und schleppte ihn nach dem Gasthause Sandy Bar.
Nein, das war doch ein gar zu ausgesprochenes Pech! Welchen Vorsprung hatten schon die andern Partner, Tom Crabbe, Max Real, Harris T. Kymbale und Lissy Wag, vom Kommodore Urrican ganz zu schweigen! Sie flogen wie Hasen übers Feld, und sie . . . sie krochen wie Schnecken dahin! . . . Zu den Tausenden von Meilen zwischen Chicago und Calais kamen nun für sie wiederum zweitausendzweihundert Meilen, die Strecke von Calais bis zur Great Salt Lake City . . .
Entschlossen sich die Titbury's jetzt nicht zum Austritt aus dem Match, so durften sie sich, wollten sie in Chicago einige Tage rasten, in Calais nicht länger aufhalten, da ihnen, sich nach Utah zu begeben, nur der Zeitraum vom 19. Mai bis zum 2. Juni zur Verfügung stand. Und da Frau Titbury nicht zustimmte, die Partie aufzugeben, verließ das Ehepaar Calais noch am nämlichen Tage mit dem ersten geeigneten Zuge, begleitet von den Glückwünschen der ganzen Einwohnerschaft für . . . für die andern Partner. Nach einem solchen Unglück sank der Curs des dritten Partners, wenn dieser überhaupt einen gehabt hatte, jedenfalls auf einen lächerlich tiefen Stand hinunter. Die blaue Flagge wurde nicht mehr zur »Classe« gerechnet; sie konnte unmöglich »placiert« werden.
Das unglückselige Paar brauchte sich über den jetzt einzuschlagenden Reiseweg nicht erst den Kopf zu zerbrechen, denn das war derselbe, auf dem sie nach Maine gekommen waren. In Chicago angelangt, standen ihnen dann die Züge der Union Pacific zur Verfügung, die über Omaha, Granger und Ogden nach der Hauptstadt von Utah laufen.
Am Nachmittage wurde die kleine Stadt befreit von der Gegenwart der wenig sympathischen Leute, die hier eine so traurige Rolle gespielt hatten. Man hoffte, daß die Wechselfälle des Edeln Vereinigte Staatenspiels sie nicht noch einmal hierher verschlüge, und sie selbst hegten natürlich denselben Wunsch.
Nach achtundvierzig Stunden trafen die beiden Titbury's in Chicago ein; sie fühlten sich aber recht erschöpft von den Anstrengungen der Reise, denen ihr Alter nicht mehr recht gewachsen war und die ihrer Lebensgewohnheit ganz und gar nicht entsprachen. Sie mußten sich sogar einige Tage ausschließlich in ihrem Hause in der Robey Street aufhalten. Herr Titbury hatte nämlich grade einen Anfall von Rheumatismus der Fünfzigjährigen erlitten, den er gewöhnlich mittelst . . . Nichtbeachtung behandelte – eine billige Behandlungsweise, die seines filzigen Geizes würdig war.
Jetzt versagten ihm aber die Beine thatsächlich den Dienst, so daß er vom Bahnhofe nach seinem Hause geschafft werden mußte.
Selbstverständlich verkündeten die Zeitungen sein Eintreffen. Die Berichterstatter der »Staatszeitung«, die bisher etwas auf ihn gehalten hatten, machten ihm auch einen Besuch. Als sie ihn aber in so elendem Zustande antrafen, verlor er selbst bei ihnen an Werth, und in den Wettagenturen gab es für ihn keine Nehmer, nicht einmal zum Satze von sieben zu eins.
Dabei rechnete man freilich ohne Kate Titbury, die hier die erste Geige spielte und das auch handgreiflich bewies. Sie behandelte den Rheumatismus ihres Mannes nicht mit Nichtbeachtung, sondern mit Gewalt. Unterstützt von ihrem Drachen von Dienstmädchen frottierte sie den Rheumatiker mit solcher Kraft, daß dieser darüber fast die Haut von den Beinen einbüßte. Kein Pferd, kein Maulesel war je so energisch gestriegelt worden. Es bedarf natürlich keiner Erwähnung, daß hier weder ein Arzt noch ein Apotheker etwas drein zu reden hatte, und vielleicht befand sich der Patient darum umso besser.
Kurz, dieser Zwischenfall führte nur eine Verzögerung von vier Tagen herbei. Am 23. waren alle Anstalten zur Weiterreise getroffen. Dazu mußten dem Geldschranke freilich einige Tausenddollarsscheine entnommen werden, und am Morgen des 24. machten sich Mann und Frau wieder auf den Weg, obwohl sie noch reichlich Zeit hatten, die Mormonenstadt bis zum nächsten entscheidenden Termin zu erreichen.
Die Eisenbahn von hier geht nämlich direct nach Omaha; von diesem Punkte aus schließt sich die bis Ogden reichende Union Pacific an und dehnt ihre Geleise unter dem Namen Southern Pacific bis San Francisco aus.
Alles in allem erschien es noch als ein Glück, daß das Titbury'sche Ehepaar nicht nach Californien gewiesen worden war, denn die Reise dahin wäre noch um tausend Meilen länger gewesen.
Am Nachmittage des 28. kamen sie in Ogden an – eine wichtige Station, von der sich eine Nebenlinie nach Great Salt Lake City abzweigt.
Hier kam es zu einem Zusammenstoß – doch nicht etwa zwischen zwei Zügen – sondern zwischen zweien der Partner, einem Zusammentreffen, das recht eigentümliche Folgen haben sollte.
An jenem Nachmittage war nämlich Max Real auf dem Rückwege vom Nationalpark ebenfalls in Ogden eingetroffen. Von hier wollte er sich am nächsten Tage, dem 29., nach Cheyenne begeben, um dort den Ausfall des dritten, ihm geltenden Würfelns zu erfahren. Als er da seelenvergnügt auf dem Bahnsteige des Stationsgebäudes umherwandelte, sah er sich plötzlich Auge in Auge jenem Titbury gegenüber, mit dem er den Leichenzug William J. Hypperbone's begleitet und während der Verlesung des Testaments des excentrischen Verstorbenen auf der Bühne des Auditoriums gesessen hatte.
Diesmal hatte sich das Paar weislich gehütet, unter angenommenem Namen zu reisen; es wollte sich nicht wieder Unannehmlichkeiten, wie den in Calais erlebten, aussetzen. Wenn die Ehegatten es auch unterließen, sich unterwegs zu erkennen zu geben, so wollten sie wenigstens in dem von ihnen zu wählenden Hôtel von Great Salt Lake City den richtigen Namen ins Fremdenbuch eintragen. Es erschien ihnen ja unnütz, unterwegs schon als die zukünftigen Erben von sechzig Millionen aufzutreten, und es genügte gewiß, wenn sie das erst in der Hauptstadt von Utah bekannten, wo Titbury, wenn man ihn daraufhin etwa auszubeuten versuchte, sich schon vertheidigen zu können hoffte.
Nun vergegenwärtige man sich die unangenehme Ueberraschung der blauen Flagge, als diese sich in Gegenwart zahlreicher, dem Zuge entstiegener Personen von der violetten Flagge plötzlich anrufen hörte.
»Wenn ich nicht ganz irre, ist das ja Herr Hermann Titbury aus Chicago, mein Mitbewerber im Match Hypperbone, den ich vor mir zu sehen die Ehre habe? . . .«
Das Ehepaar erzitterte wie Espenlaub. Offenbar höchst verlegen, zum Gegenstand der öffentlichen Aufmerksamkeit zu werden, drehte sich Titbury einfach um, als könne er sich nicht im mindesten erinnern, den lästigen Menschen jemals gesehen zu haben, obgleich er ihn übrigens recht wohl erkannte.
»Ich weiß nicht, mein Herr . . .« antwortete er, »haben Sie Ihre Worte etwa zufällig an mich gerichtet? . . .«
»Ah, bitte um Verzeihung,« erwiderte der junge Maler, »es ist aber doch ganz unmöglich, daß ich mich täuschen sollte. Wir waren zusammen bei dem weltberühmten Begräbniß . . . ich bin Max Real . . . der zuerst abgereist war . . .«
»Max Real? . . .« wiederholte Frau Titbury, als ob sie diesen Namen zum erstenmale nennen hörte.
Der junge Mann fing an, etwas ungeduldig zu werden.
»Was da, mein Herr, sind Sie Herr Hermann Titbury aus Chicago oder sind Sie es nicht?«
»Wie kommen Sie dazu,« erhielt er in scharfem Tone zur Antwort, »sich anzumaßen, mich hier ausfragen zu wollen?«
»Ah, in dieser Weise fassen Sie meine Worte auf!« sagte Max Real, indem er den Hut wieder auf den Kopf stülpte. »Sie wollen Herr Titbury nicht sein, nicht einer der Sieben, nicht der, der zuerst nach Maine und dann nach Utah geschickt wurde. Na, meinetwegen, das ist ja Ihre Sache. Ich bin und bleibe aber Max Real, der aus Kansas und aus Wyoming zurückkehrte! Im übrigen . . . Guten Abend!«
Da der Zug nach Cheyenne sogleich abgehen sollte, sprang er mit Tommy in einen der Wagen und ließ das Ehepaar verdutzt stehen, das seinem Ingrimm über die Taugenichtse von Künstlern nach Belieben Luft machen mochte.
In diesem Augenblick näherte sich ein Herr, der dem kleinen Auftritte mit sichtlichem Interesse gefolgt war. Das etwas gesucht gekleidete, ungefähr vierzigjährige Individuum hatte so offene Gesichtszüge, daß auch der Argwöhnischste zu ihm Vertrauen fassen mußte.
»Das war ja,« begann er mit einer Verbeugung gegen Frau Titbury, »ein recht ungezogener Mensch, der für seine Rücksichtslosigkeit einen derben Denkzettel verdient hätte. Ich mußte nur an mich halten, mich nicht in Dinge zu mischen, die mich nichts angingen . . .«
»Ich danke Ihnen, mein Herr,« antwortete Titbury, geschmeichelt, sich von einem so vornehmen Herrn vertheidigt zu sehen.
»Doch, bitte sagen Sie mir,« fuhr der vornehme Unbekannte fort, »war das wirklich Ihr Partner Max Real? . . .«
»Ich glaube, er war es,« erwiderte Titbury, »obgleich ich ihn kaum kenne.«
»Nun,« setzte der Fremde hinzu, »ich wünsche ihm alles mögliche Mißgeschick, weil er sich unterstanden hat, so hochachtbare Personen wie Sie mit solcher Rücksichtslosigkeit öffentlich anzusprechen, und an Ihnen, mein Herr, ist es nun, jenen – und natürlich auch alle übrigen – in der Partie gründlich zu besiegen!«
Es hätte einer ein ganz ungebildeter Tropf sein müssen, die guten Wünsche eines so höflichen, so zuvorkommenden Herrn nicht freundlich aufzunehmen, die Theilnahme eines Gentlemans, der sich für den Erfolg des Herrn und der Frau Titbury so sichtlich interessierte, abzulehnen.
Wer war denn der Mann? . . . Ein gewisser Robert Inglis aus Great Salt Lake City, der am nämlichen Tage dahin zurückkehren wollte, ein Handelsagent, der von dem Lande, das er viele Jahre nach allen Seiten bereist hatte, gründliche Kenntniß hatte. Nachdem er seinen Namen und Beruf genannt hatte, erbot er sich sehr höflich, das Titbury'sche Ehepaar zu führen und ihm auch ein passendes Hôtel nachzuweisen.
Wie hätten sie die guten Dienste des Herrn Robert Inglis abweisen sollen, zumal da dieser erklärte, daß er eine große Summe auf den Sieg des dritten Partners gesetzt habe. Er ergriff das Handgepäck der Frau Titbury und brachte es in einen der Waggons, die nach Ogden abgehen sollten. Herr Titbury fühlte sich sehr angenehm berührt, vorzüglich auch, weil Herr Robert Inglis den Galgenstrick von Maler gern nach Gebühr behandelt gesehen hätte. Im übrigen konnte er sich nur beglückwünschen, einen so liebenswürdigen Reisegenossen, der ihm auch in der Hauptstadt von Utah als Führer dienen wollte, so unerwartet gefunden zu haben.
Alles ließ sich also aufs beste an. Die Reisenden nahmen zusammen in einem Waggon Platz, und niemals war ihnen die Zeit so schnell vergangen, wie bei dieser, freilich nur fünfzig Meilen (80 Kilometer) langen Fahrt.
Herr Inglis war ebenso interessant wie unerschöpflich. Der vortrefflichen Dame schien es vorzüglich zu gefallen, daß er das dreiundvierzigste Kind einer Mormonenfamilie war, wohl zu merken, vor der Zeit, wo der Präsident der Vereinigten Staaten die Vielweiberei gesetzlich verboten hatte.
Das darf nicht wundernehmen, da z. B. der Apostel Herbert Kimball, der erste Kirchenrath, bei seinem Ableben dreizehn Frauen und vierundfünfzig Kinder hinterlassen hatte. Hoffen wir nur, daß der Berichterstatter der »Tribune«, Harris T. Kymbale, wenn ihn der Zufall je nach Utah verschlug, sich an seinem Namensvetter kein Beispiel nehmen möchte. Uebrigens schreiben sich beide Namen ja nicht gleich, und außerdem ist es in Great Salt Lake City verboten, Polygame zu sein, selbst wenn man ein »Korangläubiger« wäre.
Wenn die Unterhaltung den Titbury's gefiel, lag es daran, daß man sich einen liebenswürdigeren Erzähler als Herrn Inglis gar nicht denken konnte. Offenbar wünschte er die Zeit zurück, wo die Mormonenkirche noch in vollem Glanze strahlte. Er pries die Vorzüge dieser Religion, der »besten«, die durch »den Geist Gottes« je offenbart worden sei. Er sprach von Joseph Smith, der 1830 seinen Prophetenberuf erkannte, die goldenen Tafeln mit den göttlichen Gesetzen des Mormonismus entdeckte und der später unter ruchloser Mörderhand endete. Er schilderte greifbar den Auszug der »Heiligen der letzten Tage«, die zuerst in New York, dann in Illinois, später in Ohio und endlich in Missouri gesiedelt hatten. Dann verbreitete er sich mit tiefempfundenen, begeisterten Worten über Brigham Young, den Papst und Vorsitzenden der Kirche, der, allen Mühen, allen Gefahren trotzend, die Gemeinde in die Nachbarschaft des Großen Salzsees führte und hier 1847 Neu-Jerusalem gründete.
Verdiente die heilige Stadt denn nicht diesen Namen ebenso wie den Namen Jordan der Fluß, an dessen Ufern sie, etwa zehn Meilen (16 Kilometer) vom Salzsee, erbaut ist? Zur Zeit seiner Blüthe zählte der Staat ja nicht weniger als hundertfünfundvierzigtausend Gläubige, von denen heute freilich der größte Theil nach einem ihnen von Mexiko überlassenen Gebiete ausgewandert ist. Die Verfolgungen wurden nämlich immer schlimmer, denn die Bundesregierung – Herr Inglis äußerte sich darüber freilich nicht – erkannte recht wohl, daß Utah mehr darauf ausging, ganz unabhängig zu werden, als grade nach den Regeln des Mormonismus zu leben. Darum ließ der General Grant 1871 auch den Papst und die Apostel der Kirche verhaften, stellte das alte Land der Utahs wieder unter die Verwaltungsbehörden der Union und untersagte gleichzeitig im Namen der öffentlichen Moral die Polygamie, selbst wo diese sich nur auf eine Doppelehe beschränkte. Jetzt wird das Neue Zion durch das Fort Douglas in Schach gehalten, das die Bundesregierung drei Meilen (5 Kilometer) östlich von der Stadt errichten ließ, um diese zur Einhaltung der Gesetze der nordamerikanischen Republik zu nöthigen.
»O, werthe Freunde,« rief Robert Inglis in so ergreifendem Tone, daß er den Augen der Frau Titbury Thränen entlockte, »hätten Sie nur Brigham Young gekannt, ihn, unsern hochverehrten Papst mit dem üppigen Haar, dem melierten, Wangen und Kinn umrahmenden Barte und mit seinen Luchsaugen, und George Smith, den Vetter des Papstes und Geschichtschreiber der Kirche, ferner Hunter, den Oberbischof, sowie Orson Hyde, den Vorsitzenden der zwölf Apostel, Daniel Wels, den zweiten Rath, und Elisa Snow, eine der geistigen Frauen des Papstes . . .«
»War sie hübsch?« fragte sofort Frau Titbury.
»Abscheulich häßlich, Madame, doch was kommt es bei einer Frau auf Schönheit an? . . .«
Frau Titbury ließ auf diese Bemerkung ein leichtes Lächeln der Zustimmung sehen.
»In welchem Alter steht denn jetzt der berühmte Brigham Young?« erkundigte sich Herr Titbury.
»In gar keinem, weil er todt ist. Wenn er aber heute noch lebte, wär' er hundertzwei Jahre alt.«
»Und Sie, mein Herr,« begann Frau Titbury etwas zögernd, »sind Sie auch verheiratet?«
»Ich? . . . geehrte Frau? . . . Wozu soll man denn heiraten, wenn die Polygamie abgeschafft ist? Mit einer einzigen Frau hat man mehr Noth als mit fünfzigen!«
Inglis lachte unbefangen über seine schlagfertige Antwort und das Ehepaar theilte seine Heiterkeit.
Das Gebiet, das die Zweiglinie von Ogden her durchschneidet, ist flach und dürr, mit sandigem und thonigem Boden, der alkalische Salze enthält, die ihn, ganz wie die große Wüste im Westen des Sees, mit weißlichen Krystallgebilden bedecken. Hier gedeiht weiter nichts als Thymian, Salbei, Rosmarin neben wildem Buschwerk und große Mengen von gelben Sonnenrosen. Im fernen Osten davon erheben sich Hügelketten, die von den nebeligen Gipfeln der Wahsatchberge überragt werden.
Genau halb acht Uhr hielt der Zug im Bahnhofe von Great Salt Lake City.
Eine prächtige Stadt, hatte Robert Inglis gesagt, und sicherlich ließ er seine neuen Bekannten nicht eher weiterreisen, als bis sie sie besucht hatten – eine Stadt von fünfzigtausend Einwohnern – er übertrieb hiermit um fünftausend – eine prächtige Stadt, im Osten umrahmt von prächtigen Höhenzügen und durch den prächtigen Jordan in bequemer Verbindung mit dem prächtigen Salzsee, eine vor allen andern gesunde Stadt mit ihren in dichtem Grün versteckten Häusern und Villen, ihren Weinbergen und mit ihren Obstgärten mit Apfel-, Birnen-, Aprikosen- und Pflaumenbäumen, die die schönsten Früchte der Erde liefern. Und längs der Straßen prächtige Läden, steinerne Gebäude von prächtigem Aussehen! Hierzu kommen noch ihre Monumentalbauten, prächtige Muster mormonischer Architektur, die prächtige »Residenz«, wo Brigham Young einst wohnte, der prächtige Mormonentempel, das prächtige Tabernakel, ein Wunderwerk der Holzbaukunst, worin achttausend Gläubige Platz finden. Und was gab es früher für prächtige Ceremonien, wenn der Papst und die Apostel auf einer prächtigen Tribüne saßen und rund umher eine gläubige Gemeinde, Männer, Frauen und wer weiß wie viele Kinder, die der Vorlesung der von der prächtigen Hand Mormon's selbst geschriebenen Bibel lauschten! Kurz, hier war nach des Herrn Inglis Aussage alles »prächtig«.
In Wahrheit ließ sich der gute Mann indeß durch seinen Localpatriotismus zu arger Übertreibung verleiten. Der Stadt am Großen Salzsee gebühren keine solchen Lobpreisungen. Für ihre Volkszahl ist sie zu ausgedehnt, und wenn sie keine natürlichen Schönheiten besitzt, so weist sie auch keinerlei künstliche auf. Das berühmte Tabernakel ist in Wahrheit nur ein ungeheurer Kasseroldeckel, der flach auf die Erde gelegt ist.
Jedenfalls konnte nicht davon die Rede sein, Great Salt Lake City noch am heutigen Abend zu besichtigen; zunächst galt es ja, ein Hôtel aufzusuchen, und da es Titbury darauf ankam, eins mit sehr mäßigen Preisen zu wählen, schlug sein Führer das außerhalb der Stadt gelegene Cheap Hotel (früher Hôtel du bon marché) vor.
Schon dieser Name allein verführte und beruhigte das Ehepaar. Ihr Gepäck ließen sie auf dem Bahnhofe zurück, um es holen zu lassen, wenn das Cheap Hotel ihnen gefiele, und folgten dem Herrn Inglis, der den Handkoffer und die Reisedecke der »vortrefflichen, hochachtbaren Dame« mit Gewalt hatte selbst tragen wollen.
Der Weg führte durch die niedriger gelegenen Theile der Stadt, von der die Titbury's bei der schon herrschenden tiefen Dunkelheit nichts sehen konnten, hinunter nach dem rechten Ufer eines Flusses, nach der Angabe des Herrn Inglis des Crescent River, und zog sich etwa drei Meilen (fünf Kilometer) weit hin.
Die Titbury's mochten ihn wohl etwas lang finden; in der Erwartung aber, daß das Hotel umso billiger sein werde, je weiter es von der Stadt läge, fiel es ihnen gar nicht ein, sich darüber zu beklagen.
Halb neun Uhr endlich und, wegen des bedeckten Himmels, in vollständiger Finsterniß langten die Reisenden vor einem Hause an, dessen Aussehen sie jetzt nicht zu beurtheilen vermochten.
Bald darauf führte sie der Gastwirth – ein Mann mit recht wildem Gesichtsausdruck – in ein Zimmer des Erdgeschosses, das weiß ausgetüncht und nur mit einem Bett, einem Tische und zwei Stühlen ausgestattet war. Das genügte ihnen jedoch vollständig, und sie bedankten sich noch bei Herrn Inglis, der sich mit dem Versprechen, sie am kommenden Morgen abzuholen, verabschiedete.
Sehr ermüdet, und nachdem sie etwas von den in der Reisetasche mitgeführten Mundvorräthen verzehrt hatten, legten sich Herr und Frau Titbury zu Bett. Bald Seite an Seite eingeschlafen, träumten sie davon, daß die Vorhersage des freundlichen Herrn Inglis in Erfüllung ging und sie durch den Ausfall des nächsten Würfelns um zwanzig Felder vorwärts kämen.
Sie erwachten nach erquickender Ruhe erst gegen acht Uhr und erhoben sich langsam, da sie ja nichts andres vorhatten, als ihren Führer zu erwarten, um mit ihm die Stadt zu besuchen. Die Neugierde trieb sie dazu freilich nicht im geringsten, doch glaubten sie das Anerbieten des Herrn Inglis, ihnen die Merkwürdigkeiten der großen Mormonenstadt zu zeigen, nicht abschlagen zu dürfen.
Um neun Uhr war noch niemand da. Fertig zum Ausgehen, sahen Herr und Frau Titbury zum Fenster hinaus, das nach der Landstraße vor dem Cheap Hotel zu lag.
Diese Straße, so hatte ihnen ihr zuvorkommender Cicerone gesagt, war die alte »Emigrants road«, die sich am Crescent River hinzog. Hier rollten einst die großen Frachtwagen mit allerlei Waaren hin, die nach den Lagern der Pionniere bestimmt waren und die der Bull-waker (der Ochsentreiber) führte . . . zu jener Zeit, wo man noch mehrere Monate brauchte, von New York aus die westlichen Gebiete der Union zu erreichen.
Cheap Hotel mußte recht vereinzelt liegen, denn als sich Herr Titbury zum Fenster hinausbog, gewahrte er kein Haus weder auf dieser, noch auf der andern Seite des Flusses. Nur eine dunkle Masse grünenden Fichtenwaldes zog sich an den Abhängen eines hohen Berges hinauf.
Auch um zehn Uhr hatte sich noch niemand blicken lassen. Herr und Frau Titbury fingen an ungeduldig zu werden, und auch der Hunger machte sich bei ihnen fühlbar.
»Wir wollen nun allein ausgehen,« sagte der eine.
»Ja . . . wozu noch warten? . . .« sagte die andre.
Die Thür ihres Zimmers aufstoßend, betraten sie einen Mittelraum, ein richtiges Schankzimmer, das den Eingang gleich von der Straße aus hatte.
Hier auf der Schwelle standen zwei schlecht gekleidete Männer von wenig Vertrauen erweckendem Aussehen und mit vom Alkoholgenuß gläsern erscheinenden Augen, die offenbar die Thür bewachten.
»Hier kommt niemand heraus!«
Dieser Zuruf war in grobem Tone an Herrn Titbury gerichtet.
»Wie? . . . Man darf hier nicht hinaus? . . .«
»Nein . . . erst bezahlen!«
»Bezahlen? . . .«
Dieses Wort war von allen Wörtern der englischen Sprache grade das, das Herrn Titbury am wenigsten gefiel.
»Bezahlen? . . .« wiederholte er. »Bezahlen, um ausgehen zu dürfen? . . . Das ist wohl nur ein Scherz!«
Frau Titbury dagegen faßte, von einer plötzlichen Unruhe ergriffen, die Sachlage nicht in gleicher Weise auf, sondern fragte:
»Wieviel?«
»Dreitausend Dollars!«
Diese Stimme erkannte sie sofort . . . es war die des gefälligen Robert Inglis, der jetzt am Eingange des Gasthauses auftauchte.
Herr Titbury wollte, weniger scharfsinnig als seine Frau, die Sache noch immer von der heitern Seite nehmen.
»Ah,« rief er, »das ist ja unser Freund von gestern!«
»In Person vor Ihnen,« antwortete dieser.
»Und immer noch in vortrefflicher Laune . . .«
»Immer.
»Wahrhaftig, diese Forderung von dreitausend Dollars ist doch gar zu drollig!«
»Ich bitte Sie, lieber Herr,« erwiderte Inglis, »das ist der Preis für ein Nachtlager im Cheap Hotel.«
»Sprechen Sie im Ernst?« fragte Frau Titbury erbleichend.
»Ganz im Ernst, Madame.«
In einer Aufwallung gerechten Zornes wollte Herr Titbury hinausdringen.
Da legten sich ihm zwei kräftige Arme auf die Schultern und hielten ihn an der Stelle fest.
Dieser Robert Inglis war ganz einfach einer jener Spitzbuben, die stets auf jede – übrigens nicht seltene – Gelegenheit passen, einen Schurkenstreich auszuführen und die man in den entlegneren Gebieten der Union recht häufig antreffen kann. Mehr als einmal waren schon Reisende durch dieses angeblich dreiundvierzigste Kind aus einer Mormonenehe ausgeplündert worden, und dazu liehen ihm Spießgesellen wie die beiden Individuen in dem verwünschten Gasthofe, dem Cheap Hotel, das schon mehr eine Mördergrube, wenigstens eine Börsenfalle war, hilfreiche Hand. Durch das Auftreten Max Real's auf eine gute Fährte gebracht, hatte er dem Titbury'schen Ehepaare seine Dienste angeboten, und nachdem er erfahren hatte, daß die Leute noch dreitausend Dollars bei sich führten – welche Thorheit, das zu verrathen! – hatte er sie nach dem ganz vereinzelt gelegenen Gasthofe geleitet, wo sie völlig in seiner Gewalt waren.
Herr Titbury sah das ein . . . leider erst zu spät.
»Mein Herr,« sagte er, »ich erwarte, daß Sie uns sofort ausgehen lassen werden . . . ich habe in der Stadt zu thun . . .«
»Nicht vor dem 2. Juni, dem Tage, wo die bewußte Depesche eintreffen soll,« antwortete Inglis lächelnd, »und heute ist erst der 29. Mai.«
»Sie beabsichtigen also, uns fünf Tage lang hier zurückzuhalten? . . .«
»Noch länger und noch mehr als länger,« erwiderte der gefällige Gentleman, »wenigstens wenn Sie sich nicht um dreitausend Dollars in guten Chicagoer Bankbillets erleichtern.«
»Elender!«
»Ich bin höflich gegen Sie,« bemerkte Inglis, »wollen Sie es auch gefälligst gegen mich sein, Herr Blauflagge!«
»Doch diese Summe . . . das ist ja alles, was ich habe . . .«
»Es wird dem reichen Hermann Titbury ein leichtes sein, sich von Chicago so viel Geld kommen zu lassen, wie er braucht. Der Panzerschrank des reichen Hermann Titbury ist wohlgefüllt. Bedenken Sie, mein verehrter Gast, daß Sie die dreitausend Dollars ja bei sich haben und daß ich sie Ihnen einfach aus der Tasche holen könnte. Doch, beim großen Jonathan! – wir sind keine Diebe. Ich rechne Ihnen nur die herkömmlichen Preise des Cheap Hotel an, und Sie werden sich wohl dazu bequemen . . .«
»Nimmermehr!«
»Wie es Ihnen beliebt.«
Damit wurde die Thür zugeworfen und die Eheleute sahen sich in dem niedrigen Raume eingesperrt.
Da regnete es nun grimmige Auslassungen über diese verwünschte Reise, über die Drangsalierungen – von den Gefahren gar nicht zu reden – die das Ehepaar verfolgten: nach der Geldstrafe in Calais der Diebstahl in Great Salt Lake City! . . . Und welches Pech, diesem Banditen Inglis in die Hände gefallen zu sein!
»An dem ganzen Unheil ist der Schlingel, der Max Real, schuld!« rief Herr Titbury. »Wir wollten ja unsern Namen erst nach der Ankunft bekannt werden lassen, und der Schurke schreit ihn schon auf dem Ogdener Bahnhofe vor allen Leuten aus! Und dann mußte ihn obendrein auch noch dieser Räuber hören! Was beginnen wir nun?«
»Ja, wir müssen eben die dreitausend Dollars opfern . . .« sagte Frau Titbury.
»Nun und nimmermehr!«
»Hermann!« antwortete darauf nur die rechthaberische und störrische Gattin. Selbst wenn Titbury bei seiner Weigerung blieb, mußten die Spitzbuben ja im Stande sein, ihn auszubeuteln. Und wenn sie nun sein Geld wegnahmen und ihn dann sammt Frau Titbury in den Crescent River warfen, würde wohl, da kein Mensch etwas von ihrer Anwesenheit in der Stadt wußte, auch nur ein Hahn darum krähen?
Titbury blieb jedoch hartnäckig. Vielleicht erschien ihm Hilfe . . . eine Abtheilung Miliz, die auf der Straße hinmarschierte, oder wenigstens einzelne Passanten, die er anrufen konnte. Vergebliche Hoffnung! Eine Minute später wurden beide in ein Zimmer geführt, dessen Fenster nach einem geschlossenen Hofe zu lag. Der grimmige Gastwirth brachte ihnen dann etwas zu essen. Es war gewiß nicht zu viel verlangt, im Cheap Hotel für einen Tagespreis von tausend Dollars nicht blos beherbergt, sondern auch verpflegt zu werden.
Unter diesen Verhältnissen verstrichen vierundzwanzig, vergingen achtundvierzig Stunden. Wie die Gefangenen vor Wuth schäumten, läßt sich gar nicht beschreiben. Uebrigens fanden sie nie Gelegenheit, Inglis wieder zu sehen; dieser hielt sich ohne Zweifel discret zur Seite, um nicht den Schein einer Erpressung gegen seine Gäste aufkommen zu lassen.
Endlich verzeichneten die Kalender der Union den 1. Mai. Morgen, noch am Vormittage, sollte sich der dritte Partner in Person im Telegraphenamte der Great Salt Lake City melden. Verfehlte er diesen Zeitpunkt, so verlor er alles Recht auf Fortsetzung der Partie, die sich für die blaue Flagge schon bisher so unheilvoll erwiesen hatte.
Doch nein! . . . Titbury wollte nicht nachgeben, heute und niemals! Bei der nur noch kurz bemessenen Frist ging Frau Titbury aber mit aller Kraft daran, ihren Willen durchzusetzen. Sie hätte es auch gethan, wenn die Laune der Würfel ihren Gatten in das Gasthaus, das Labyrinth, den Schacht oder ins Gefängniß verwiesen hätte, wo doppelte und dreifache Einsätze zu erlegen waren. Nun, heute lag die Sache ganz ähnlich, und wenn es recht gut ist, sein Geld zu behalten, so ist es doch wohl noch besser, sein Leben zu behalten . . . und jetzt waren beide auf Gnade oder Ungnade in der Gewalt dieser Schurken. Kurz, hier hieß es: zahlen!
Titbury widerstrebte, in der Hoffnung auf eine unvorhergesehene Hilfe, die freilich ausblieb, noch bis sieben Uhr des Abends.
Genau halb acht Uhr ließ sich Herr Inglis, liebenswürdig und höflich wie immer, anmelden.
»Morgen ist der große Tag,« begann er. »Es wäre gut, verehrter Herr, wenn Sie sich noch heut Abend nach Great Salt Lake City begäben . . .«
»Wer anders hindert mich daran als Sie?« rief dem Ersticken nahe Herr Titbury.
»Ich?« antwortete Herr Inglis immer lächelnd. »Sie brauchen sich ja nur zu entschließen, Ihre Rechnung zu begleichen . . .«
»Hier!« sagte Frau Titbury, während sie Herrn Inglis ein Bündel Banknoten hinhielt, das ihr Gatte ihr übergeben hatte.
Herr Titbury wäre bald gestorben, als er sah, wie der Schurke das Bündel ergriff und es gemächlich durchzählte. Keines Wortes war er mächtig, als der Räuber dann sagte:
»Es ist wohl unnöthig, daß ich Ihnen eine Quittung hierüber ausstelle, nicht wahr? . . . Doch seien Sie unbesorgt, ich werde Ihnen die Summe gutschreiben. Und jetzt hab' ich Ihnen mit einem freundschaftlichen Guten Abend nur noch zu wünschen, daß Sie die Millionen des Match Hypperbone gewinnen!«
Die Thür stand offen, und ohne sich weiter aufzuhalten, stürmte das Ehepaar hinaus.
Schon war es fast Nacht und nicht einmal die nächste Umgebung zu erkennen, so daß es kaum möglich war, der Polizei den Schauplatz dieses tragikomischen Auftrittes zu beschreiben. Vor allem galt es jetzt aber, schnellstens nach Great Salt Lake City zu kommen, dessen Lichter man in der Entfernung von drei Meilen (5 Kilometer) den Crescent River stromaufwärts schimmern sah. Herr und Frau Titbury erreichten denn auch nach einer Stunde das Neue Zion, wo sie in dem ersten Hôtel, auf das sie trafen, abstiegen. So theuer wie im Cheap Hotel konnte es hier gewiß nicht sein!
Am nächsten Tage, dem 2. Juni, begab sich Hermann Titbury nach dem Bureau des Sherifs, um seine Klage anzubringen und um die Verfolgung des Robert Inglis anzusuchen. Vielleicht gelang es jetzt noch, diesem die dreitausend Dollars wieder abzunehmen.
Der Sherif – ein recht intelligenter Beamter – hörte aufmerksam die Mittheilungen des Bestohlenen über den Dieb an. Leider konnte Herr Titbury über das »Gasthaus« nur sehr unbestimmte Angaben machen. Er war des Abends dahin geführt worden . . . des Abends auch von dort fortgegangen. Als er vom Cheap Hotel am Ufer des Crescent River sprach, antwortete ihm der Sherif, daß er ein Gasthaus dieses Namens nicht kenne und daß es einen Crescent River im Lande überhaupt nicht gebe. Es werde also schwierig sein, sich des Uebelthäters zu bemächtigen, zumal da dieser sammt seinen Helfershelfern inzwischen schon entflohen sein dürfte. Selbst wenn man den Burschen eine ganze Compagnie Geheimpolizisten in das berg- und walderfüllte Land nachschicken wollte, werde das sicherlich fruchtlos sein.
»Sie sagten, Herr Titbury,« fragte der Sherif, »jener Mann heiße . . .?«
»Inglis . . . der elende Wicht . . . Robert Inglis . . .«
»Ja, ja, das ist der Name, den er Ihnen genannt hat; in Anbetracht aller Umstände zweifle ich aber nicht, daß es sich um den berüchtigten Bill Arrol handelt. Ich kenne seine Methoden schon längst . . . das war auch nicht sein erster Versuch . . .«
»Und Sie haben ihn gleichwohl noch nicht verhaftet?«
»Noch nicht,« erklärte der Sherif; »vorläufig lassen wir ihn nur sorgsam beobachten . . . eines schönen Tages werden wir ihn schon fassen.«
»Für mich wäre es die höchste Zeit!«
»Ja freilich, doch auch für ihn wird die Zeit kommen, wo man ihn elektrokutiert oder am Galgen aufknüpft . . .«
»Und mein Geld, Herr Sherif, mein Geld . . .«
»Ich bitte Sie, da müßte man den Teufelskerl von Bill Arrol erst erwischen, und das ist kein so leichtes Ding! Ich kann Ihnen, Herr Titbury, nur versprechen, daß Sie ein Endchen von dem Strick, womit er gehenkt wird, erhalten sollen, und wenn die Partie dann noch nicht beendigt wäre, würden Sie sicher sein, sie mit Hilfe eines solchen Talismans zu gewinnen!«
Das war alles, was Titbury bei diesem Original von Sherif der Mormonenhauptstadt erreichen konnte.