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Als Stütze der Hausfrau.

Während Marlene begeisterte Karten heimsandte und all die aufnahmefähigen Fasern ihrer schönheitsdurstigen Seele mit überwältigenden Eindrücken vollsaugte, hatte Lotte eine schwere Schule durchzumachen.

Sie war nicht schlecht zu ihr, die Familie Doktor Mertens, durchaus nicht; die Kinder hingen sogar mit Liebe an ihr, und die gnädige Frau hatte das frische Mädel gern. Aber die »gnädige Frau«, darin lag all das Schwere, Zurücksetzende, was Lotte in ihrer neuen Umgebung das Leben verbitterte. Das junge Mädchen konnte sich nicht daran gewöhnen, in abhängiger Stellung zu sein; sein stolzes, freies Wesen bäumte sich immer wieder gegen den Zwang und die Unterdrückung seiner Persönlichkeit auf. Sobald es einen neuen Schritt in das ihm fremde Leben hineintat, stieß es sich an den engen Mauern, die es umschlossen, die Stirn wund, und Lotte war kein Mensch, der schweigend entsagte. Lotte wollte mit dem Kopf durch die Wand.

Bei dem Großonkel hatte sie gewiß nicht viel Freiheit genossen; sie hatte dort schwerere Arbeit verrichten müssen als hier. Aber dort war sie jetzt daheim; sie fühlte sich doch immerhin als Kind des Hauses und wurde für ihre Dienste nicht – bezahlt. Das war der Kernpunkt. Bei jeder Arbeit, welche die gnädige Frau verlangte, hörte Lotte den ungesprochenen Nachsatz »denn du erhältst einen hohen Lohn«. Ja, Lohn, nicht Gehalt! Sie war in ihren eigenen Augen nichts anderes als ein besserer Dienstbote!

Mit allzu großen Erwartungen war Lotte nicht hingegangen; aber ein sechzehnjähriges Mädchenherz hofft doch im geheimen, es wird besser werden, als man denkt. Die Enttäuschungen jedoch hatten sich zu ihrem Empfang aufgestellt und grinsten das junge Ding schadenfroh an.

In dem hellen freundlichen Kinderzimmer hockten sie auf der weißen Wickelkommode und auf dem spitzenbesetzten Bett der wie am Spieße brüllenden kleinen Margot.

»Hier ist Ihr neues Reich, Fräulein; Sie schlafen natürlich mit den Kindern zusammen,« sagte die gnädige Frau.

»Natürlich« fand Lotte das gar nicht; sie hatte bestimmt auf ein eigenes Zimmer gerechnet. Die erste Enttäuschung huschte über ihr hübsches Gesicht, daß sie sich nicht so freundlich, wie sie es sonst wohl getan hätte, zu dem kleinen Schreihals niederbeugte; daß sie Bubis zerfetzten Hampelmann, der ihr voll Stolz gewiesen wurde, kaum eines Blickes würdigte und den neugierigen Augen der siebenjährigen Edith möglichst schnell den Rücken wandte.

»Sie sind doch kinderfreundlich, Fräulein?« erkundigte sich die Mutter, ebenfalls ein wenig enttäuscht.

Lotte bejahte beschämt, insgeheim aber dachte sie: »Ich bin doch nicht als Kindermädel da, sondern als Stütze.«

Noch an demselben Tage hatte Lotte es heraus, daß der Name »Stütze« in nur noch umfassenderem Sinne »Mädchen für alles« bedeutete.

»Bitte, Fräulein, waschen Sie Bubi und bringen Sie ihn ins Bett! Achten Sie auch darauf, daß Edith inzwischen ihre Abendmilch austrinkt, und Baby aufhört zu schreien und einschläft,« sagte die gnädige Frau im Hinausgehen. Wenn man eine Stütze hatte, konnte man natürlich das Kinderfräulein entbehren.

Lotte rubbelte in ihrem ersten Ärger auf Bubi los, daß er sich schreiend und stoßend zur Wehr setzte. Baby brüllte mit ihm um die Wette und dachte gar nicht an Einschlafen, trotzdem Lotte hin und wieder ein empörtes »Schscht« hören ließ. Edith benutzte die gute Gelegenheit, um die unbeliebte Milch inzwischen über ihren Kindertisch zu gießen. Die sonst so umsichtige Lotte wußte nicht, zu wem sie zuerst hinspringen sollte.

Endlich – endlich lagen sie alle drei in ihrem Bett! Mit einem Seufzer der Erlösung wollte Lotte nun an das Auspacken ihrer paar Habseligkeiten gehen. Da erschallte es schon wieder, das ihr durch Mark und Bein dringende »Fräulein«.

Die Benennung, auf die sie früher so stolz gewesen war, wurde ihr jetzt eine Quelle der verschiedensten Kränkungen. Wie eine namenlose Sache kam sie sich vor; sie war nicht mehr Lotte Elmert, sondern einfach »Fräulein«.

»Bitte, Fräulein, decken Sie den Tisch; dann bereiten Sie den Tee und machen Sie Rührei zum Abendessen! Sie können doch kochen?«

Lotte nickte bloß, aber in ihren offenen Zügen stand so sprechend zu lesen, ob sie denn etwa auch als Köchin gemietet sei, daß Frau Doktor Mertens rasch hinzusetzte: »Anna hat mich gebeten, heute abend zu ihrer Schwester gehen zu dürfen.«

»Für wieviel Personen soll ich decken?« fragte Lotte, die sich schnell und gewandt in der neuen Häuslichkeit zurechtfand, so daß die gnädige Frau wieder an ihren »guten Griff« zu glauben begann.

»Nur für meinen Mann und mich.« Frau Doktor hatte sich auf die Chaiselongue gelegt, da ihre Nerven ihr wieder einmal viel zu schaffen machten.

»Und ich?« Lotte hatte es eigentlich bloß gedacht, aber Denken und Sprechen war immer eins bei ihr.

Die gnädige Frau blickte überrascht auf.

»Sie essen abends im Spindenzimmer, Fräulein, mittags natürlich, wenn die Kinder bei Tische sind, mit uns.«

Knacks, da hatte Lotte in unterdrücktem Grimm einem der feinen Gläser den geschliffenen Fuß abgedreht.

Sie hörte nicht das »Sie müssen sich aber mehr vorsehen, Fräulein!« Von allen Seiten, aus allen Ecken krochen die Enttäuschungen wieder auf sie zu, preßten ihr den Hals zusammen, und woben einen dichten Tränenschleier vor die klaren jungen Augen.

Das hieß »Familienanschluß«? Nicht eine Stunde blieb sie länger in diesem Hause! Aber wohin? Ins Schwalbennest mochte sie nicht ein zweites Mal als Ausreißer hineinschneien – und wenn man sie am Ende mit der Polizei zurückholen ließ? Sie hatte keine Ahnung, ob sie das Recht besaß, ihre Stellung ohne vorherige Kündigung zu verlassen.

So saß sie allein in dem schmalen, mit gewaltigen Schränken angefüllten Spindenzimmer vor der, wie sie trotz aller Empörung zugeben mußte, reichlich bemessenen Mahlzeit und wartete auf den Klingelruf zum Abräumen des Tisches. Voll Sehnsucht gedachte sie ihrer Zelle, die ihr jetzt mit Hannis lustigem Kindergesicht und Marlenes treuen Schwesteraugen wie ein Paradies erschien.

Das Essen besänftigte stets ihre aufrührerischen Geister und ließ die Vernunft zu Wort kommen. Sie betrachtete die Sachlage nicht ausschließlich mehr von ihrem eigenen Standpunkte, sondern auch von dem der anderen. Eigentlich war es der Frau Doktor nicht zu verdenken, da sie den ganzen Tag über ihren Gatten entbehrte und ihn nur während des Abendbrots für sich hatte – denn auch nach dem Essen pflegte er, wie sie bereits gehört, noch zu arbeiten –, daß sie während dieser Zeit keinen wildfremden Menschen dabei haben wollte. Verletzen wollte sie Lotte also wohl nicht.

Das junge Mädchen vermochte es über sich, als es mit dem Tablett hineintrat, dem Hausherrn freundlich »Guten Abend« zu wünschen.

Das flüchtige »Guten Abend, liebes Kind« des bereits wieder zwischen Akten vergrabenen Advokaten tat ihr wohl. Sie erfüllte die Obliegenheiten zur Zufriedenheit der gnädigen Frau.

»Sie sind doch gewöhnt, früh aufzustehen, Fräulein? Baby muß nach sechs sein Fläschchen haben, und Bubi aufgenommen werden. Um halb acht trinkt der Herr Kaffee, den Sie hier in der Kaffeemaschine bereiten; auch Frühstücksbrötchen müssen vorher für ihn belegt sein. Dann ist Edith anzuziehen und zur Schule zu bringen; wenn Sie zurückkommen, bin ich wohl schon auf und kann Ihnen weitere Anweisungen geben.«

Lotte schwirrte der Kopf von all dem Aufgetragenen, aber am meisten reizte sie »der Herr«. Sie war doch kein Sklave, daß sie einen anderen Herrn als den lieben Vater im Himmel über sich anerkannte! Den Großonkel hatte sie als höhere Gewalt geachtet – ja wohl, das war eben der Großonkel! Aber ein Fremder?

Doch als sie nun, ehe sie ihr neues Lager aufsuchte, noch einmal an die Betten ihrer drei kleinen Pflegebefohlenen trat und in die holden, sanft geröteten Kindergesichter schaute, die der Schlaf mit überirdischer Reinheit übergoß, da fühlte sie ihr liebebedürftiges Herz sich weiten. Leis breitete sie die Decke wieder über Babys runde Strampelbeine, legte den heruntergerutschten Bubi aufs Kopfkissen zurück und strich Edith über die hellen Locken, wie sie Hannis dunkle Zöpfchen allabendlich streichelte.

»Jetzt sitzen sie mit Heinz in München zusammen, während ich bei Fremden mich ducken muß,« dachte sie aber gleich darauf, als sie das Licht löschte, wieder nichts weniger als sanft. Dann malten ihr die Traumgötter Kaffeemaschine, Spindenzimmer, die auf der Chaiselongue ruhende gnädige Frau und große Fässer Münchner Bier, aus denen Heinz als Rokokoherr lugte, bis – Baby sie aus dem Schlaf schrie.

Ja, Lotte war gewöhnt, früh aufzustehen, aber nach ungestörter Nachtruhe. Bald hatte Baby geweint, bald Bubi gehustet, oder Edith rief aus dem Schlaf. Wie eine Nachtwandlerin hatte sich Lotte drei- bis viermal aus dem festen Jugendschlummer gerissen. Unbarmherzig schrillte um sechs Uhr die Weckuhr aus der Kammer der Köchin, auch für Lotte das Zeichen zum Aufstehen.

Es war viel zu tun in diesen Morgenstunden; aber Lotte arbeitete gern, und den ausgeschlafenen Kleinen gefiel das hübsche neue Fräulein, das heute solch liebes Gesicht machte, gar sehr. Auch der Hausherr war erfreut, daß der Tisch pünktlich und zierlich gedeckt war, und der Kaffee einladend duftete. Lotte war dazu angehalten worden, für den Großonkel alles mit größter Sorgfalt zu bereiten.

»In welche Schule gehst du?« fragte sie Edith, während sie acht gab, daß die Kaffeemilch bis zum Grund ausgetrunken wurde.

»In die Liesenschule; fünf Minuten vor drei Viertel muß ich fortgehen,« erklärte die Kleine wichtig.

Die Liesenschule! Lachende Kindheitsbilder stiegen vor Lotte auf. Sie sollte wieder den großen, baumbestandenen Hof mit dem Fliederbusch und den Turngeräten sehen, die Lehrer – ach, und Hanni und Schwälbchen! Die neue Stellung erschien mit einem Male in schönem Licht; solcher Wechsel der Ansichten geht ja kaleidoskopartig schnell bei jungen Menschen.

Sie machte sich mit ihrem kleinen Zögling gleich nach halb neun auf den Weg; sie konnte die Zeit gar nicht erwarten.

Aber der Schulhof war leer; Lotte hatte nicht mehr daran gedacht, daß man in der Neunuhrpause oben blieb. Weder Hannis brauner Kopf noch Schwälbchens lachendes Gesicht wurde sichtbar.

Sehnsüchtig starrte Lotte zu dem weitgeöffneten Selektafenster empor, hinter dem die Freundinnen jetzt das letzte Schuljahr verbrachten. Sie stand am Fuße der breiten Steintreppe und traute sich nicht weiter. Sie gehörte ja nicht mehr hierher! Sie lauschte auf die jubelnden Kinder- und hellen Mädchenstimmen, die vom Korridor in der Freiviertelstunde an ihr Ohr summten, bis der brave Schnutke, der jetzt tief die Mütze vor ihr zog, mit schrillem Gebimmel den ohrenzerreißenden Lärm noch übertönte. Da schlich sich Lotte betrübt hinweg von der Stätte ihrer Kindheit zu dem neuen Pflichtenkreis.

Draußen am Eingang traf sie Fräulein Pietsch; die nickte ihr so herzlich zu, daß all ihre Locken und Löckchen mitnickten. Lotte empfand es warm und dankbar.

»Heute mittag um eins, wenn ich Edith abhole, treffe ich sie alle!« Halb getröstet eilte Lotte wieder an die Arbeit.

Baby war bald gebadet, die Besorgungen für die Küche gemacht, und überall von den kostbaren Nippsachen der Staub abgewischt. Lottes derbe Finger hatten Mühe, die zierlichen Sächelchen nicht zu zerbrechen. Frau Doktor Mertens, die heute mal zur Abwechslung Migräne hatte, war mit ihrer neuen Stütze durchaus zufrieden.

Aber Lotte murrte. »Wenn ich nur wüßte, warum ich Stütze der Hausfrau heiße, wenn ich doch alles allein machen muß,« dachte sie.

Anna, die Köchin, hatte das neue Fräulein gleich vertraulich in die schlechten Eigenschaften der »Herrschaft« einweihen wollen; doch Lotte wies sie in bestimmtem Tone zurück. Nun stand es ja fest, die Küchenfee hielt sie für ihresgleichen, sonst hätte sie schwerlich mit ihr klatschen wollen!

Aber als man ihr zumutete, mit dem Kinderwagen auszufahren, da war das Gefäß zum Überlaufen voll.

»Ich bin als Stütze der Hausfrau hier, nicht als Kindermädchen,« sagte sie mit vor Erregung zitternder Stimme.

Die gnädige Frau griff sich an ihre schmerzenden Schläfen. Was man doch für Ärger mit den Dienstboten hatte!

»Die Fräulein, die ich bisher hatte, taten es alle gern; ein solch süßes Kind wie Baby! Aber wenn es Ihnen nicht paßt, Fräulein, müssen wir uns eben zum Ersten wieder trennen.«

Passen tat es der eitlen Lotte durchaus nicht, aber was sollte sie tun? So zog sie wenigstens, um die Schmach etwas wieder gutzumachen, den guten dunkelblauen Rock an, den Marlene vor der Abreise noch »schwungvoll« geschneidert hatte.

Den Kinderwagen mit dem rosigen Baby vor sich, an der Linken Bubi, der fortwährend Miene machte auszukneifen, so schob Lotte die Linden entlang. Bloß niemand von den Bekannten treffen! das war ihr einziger und auch begreiflicher Wunsch.

Es war ein entzückendes Bild, das blühend schöne Mädchen mit den allerliebsten Kleinen. Aber Lotte war viel zu sehr in die Entwürdigung ihrer Persönlichkeit vertieft, um neben dem dunklen Schatten auch die Lichtseiten zu sehen.

In die Universität strömten die Musensöhne. Da – Totila und Teja, die beiden Waffenbrüder! Man hatte sie bereits gesehen.

»Ei nei, Freileinchen, missen Sie sich jetzt mit fremden Kindern abjeben?« fragte Teja teilnahmsvoll.

Nichts war Lotte gräßlicher, als bemitleidet zu werden. »Es macht mir ungeheuren Spaß,« schwindelte sie.

Totila schloß inzwischen Freundschaft mit Bubi. »Gib die Patschhand, mein Sohn; du bist ja ein Prachtkerlchen!«

Auch Teja nahm einen Anlauf, Babys Zuneigung mittels seiner Ticktack zu erringen. Aber Lotte machte dem unerwünschten Aufenthalt schnell ein Ende.

»Sie wollen wohl das Kolleg schwänzen? Jawoll!« Damit schob sie ihre Equipage davon.

»Reizendes Mariellchen.« Teja sah ihr bewundernd nach; auch Totila fand, daß sie ein nettes Mädel sei.

Lottes Stimmung hatte sich durch diese Begegnung nicht gebessert. Bubi, der mit der zähen Ausdauer des künftigen Mannes durchaus jetzt im August einen Maikäfer fangen wollte, wurde zweimal geknufft, weil er zu diesem Behufe auskratzte.

Der ehemalige Lehrer trat lächelnd zu Lotte heran.

Je näher ein Uhr rückte, um so bedauernswerter kam sich Lotte vor. Als sie jetzt in die wenig belebte Straße einbog, durch die sie oft Arm in Arm mit Schwälbchen gegangen war, und die Liesenschule erstaunt auf sie und ihr Fuhrwerk herabzublicken schien, hielt sie sich für das bemitleidenswürdigste Geschöpf auf der weiten Welt. Hin und her fuhr sie vor dem Portal, denn auf dem Schulhof mochte sie sich in ihrer Kindermädchenrolle nicht blicken lassen.

Der Türflügel öffnete sich knarrend. Professor Hartmann, ihr einstiger »Schwarm«, wurde als erster sichtbar. Solch eine Beschämung!

Der ehemalige Lehrer trat lächelnd zu der puterroten Lotte heran.

»Nanu, sind Sie verheiratet?« Professor Hartmann hatte bei den vielen sich folgenden Generationen nie eine Ahnung, wie lange eine Schülerin von der Schule fort war.

Lotte wäre noch röter geworden, wenn das möglich gewesen wäre.

»Ach wo –« stieß sie hervor, und »es sind mir anvertraute Pfleglinge«, murmelte sie beschämt nach einer Pause.

»Das ist recht, Lotte, daß Sie sich nützlich machen und nicht Ihr Leben in nichtigem Tagewerk hinbringen,« sagte der kluge Lehrer anerkennend, denn ihm war die falsche Scham des jungen Mädchens nicht entgangen.

Lotte sah nachdenklich hinter ihm drein. Ja, wenn man ihre Tätigkeit so auffaßte! Sie begann sich jetzt wieder ein kleines bißchen auf Hanni und Ilse zu freuen.

Da strömten sie wie gefangene Vögelchen, die ihre Schwingen wieder regen dürfen, ins Freie, die Liesenschülerinnen, mit schiefem Hut, Wuschelhaaren und Tintenfingern, in den freudig glänzenden oder verweinten Gesichtern die Zensur des Tages. Hanni flog der Schwester so ungestüm um den Hals, daß der Wagen zu schaukeln begann, und Baby ein Freikonzert erschallen ließ. Ach, wie sich Lotte schämte! Sie wäre davongefahren, sogar ohne Schwälbchen zu sehen; aber Edith wollte und wollte noch nicht kommen.

Nun trat Ilse mit Käthe und Valli auf die Straße; sie stutzte. Dann aber kam Babys Wagen ein zweites Mal in Gefahr.

»Lotte – das ist ja fein – einfach himmlisch – sind das deine neuen Pfleglinge – die sind süß!« Schwälbchen ergriff den Kinderwagen und begann das heulende Baby durch Hin- und Herfahren in menschenfreundlichere Gemütsverfassung zu bringen.

Valli hatte sich naserümpfend mit flüchtigem Gruß abgewandt, aber der »Große Kurfürst« stürzte sich auf die Kleinen.

»Bubi – Margot – nanu, Lotte, bist du jetzt etwa bei meinen Verwandten Kinderfräulein?«

Käthes Gesicht zeigte solch eine spöttische Überlegenheit, daß Lotte sie auf offener Straße hätte verprügeln können.

»Ich habe während der Reise meines Onkels eine Stelle als Stütze der Hausfrau angenommen, um mein Leben nicht in nichtigem Tagewerk hinzubringen.« Sie hatte gut behalten, was Professor Hartmann gesagt hatte, und der »Große Kurfürst« bekam gleich dabei einen Stich.

»Stütze – also noch nicht mal Kinderfräulein?« Käthes Mundwinkel zogen sich verächtlich herab.

Lotte hatte genug. Sie ließ der endlich auf der Bildfläche erscheinenden kleinen Edith und Bubi nicht einmal mehr Zeit, »Tante Käthe« Lebewohl zu sagen; es war ihr unglaublich gleichgültig, daß Doktor Wenzel jeden Augenblick kommen mußte. Nur fort!

Ilse und Hanni trabten getreulich ihr zur Seite.

»Ich zahl's dem ›Großen Kurfürst‹ schon wieder; ich räche dich, Lotte!« Schwälbchen sah fast noch zorniger aus als die Freundin.

Diese hatte kaum Interesse dafür, daß es Hanni in ihrem neuen Heim so gut gefiel, und daß sie von allen dort verhätschelt wurde. Auch Ilses Einladung zum nächsten Sonntag, dem zwanzigsten August, vermochte nicht die häßliche Kränkung zu tilgen.

»Hanni kommt auch, und dann feiern wir zusammen deinen Geburtstag, ja?«

Aber Lotte sah ingrimmig vor sich nieder auf den quietschenden Kinderwagen. Sie wünschte augenblicklich, überhaupt nicht geboren zu sein.

Als sie mit den Kindern heimkam, lag für sie die Karte von »Onkel Heinz« da. Was Ilses freundschaftliches Zureden und Hannis liebevolles Geplauder nicht vermocht hatten, das brachten die paar Zeilen zuwege. Lotte fühlte sich wieder als Mensch. Wenn sie zehnmal Stütze der Hausfrau war, der Onkel Heinz hatte sich doch ihrer erinnert!

Tagelang hielt ihre gute Laune vor; Lotte ließ sich in ihrer gehobenen Stimmung jetzt durch nichts mehr unterkriegen. Wenn sie mittags auch kaum zum Essen kam, weil Edith kleckerte und Bubi gefüttert werden mußte, wenn auch Baby, das gerade zahnte, sie kaum eine Nacht schlafen ließ! Selbst daß Anna sie für ein »hochnäsiges Ding« erklärte, wie ihr Bubi strahlend überbrachte, vermochte daran nichts zu ändern.

Sie hatte ja so viel, um dankbar zu sein! Da war Marlenes eiliger Brief, in dem nur von Rudi die Rede war und der goldenen Medaille, und wie nett der Großonkel zu ihm gewesen war. Der schwere Druck, der seit Jahren durch des Onkels Feindseligkeit gegen den Namen Elmert auf den jungen Gemütern gelastet hatte, begann zu weichen. Es war doch immerhin ein winziges Fädchen, an das man die Hoffnung auf Besserwerden knüpfen konnte ...

Lotte saß wieder einmal neben Edith am Kindertisch, die Fibel in der Hand, und kommandierte wie ein General die ungeschickten Übungen der exerzierenden Feder auf dem Papier. Es handelte sich um das kleckslose Zustandekommen des letzten Wortes.

»Fein herauf, stark herunter, kleine Brücke, stark herunter, fein herauf, stark herunter, kleiner Berg, umgebogen, hoch hinauf, Mauseschwänzchen, Pünktchen!« Da – ein umfangreicher Klecks verdarb zum viertenmal statt des gewünschten Pünktchens das Schlußwort! Lotte hätte am liebsten das Schreibheft in die Ecke gepfeffert; aber sie begann, ohne das Gesicht zu verziehen, aufs neue ihr geistvolles Kommando. Das war eine gute Schule für die hitzige Lotte.

»Darf ich morgen fortgehen, gnädige Frau?« fragte sie, als Frau Doktor Mertens, zum Ausgehen gerüstet, jetzt noch einmal in die Kinderstube trat. Sie hielt es zwar für ihr gutes Recht, Sonntags fortzugehen, wollte aber der Sicherheit halber doch lieber fragen.

»Was – morgen? Aber Fräulein, ich habe ja morgen abend Besuch, sechzehn Personen zu Tisch! Da werden Sie selbstverständlich gebraucht; Sie sind ja auch eben erst zugezogen.« Damit gab die Mutter ihren Lieblingen den Abschiedskuß.

Lotte saß mit einem Gesicht da, länger als der Tag vor Johanni. Sie dachte nicht daran, Edith, die mit gezückter Feder auf das Kommando »Mauseschwänzchen – Pünktchen« wartete, weiterzudiktieren. Sie verbiß sich wieder mal in das Gefühl der Zurücksetzung und Enttäuschung. Ärgerte sie sich mehr über das Wort »zugezogen« oder darüber, daß sie ihren Geburtstag nun nicht im Schwalbennest begehen konnte? Empörend war es, wie man sie behandelte! Sollte sie sich vielleicht den ganzen Geburtstag über herumrackern müssen? Aber wenn man sie morgen abend wieder nicht bei Tische, sondern im Spindenzimmer essen ließ, dann – Lotte wußte nicht ganz genau, was dann geschehen würde. Jedenfalls etwas »Furchtbares«!

Edith hatte die gute Gelegenheit, Fräuleins Augen zu entweichen, nicht unbenutzt gelassen. Sie spielte bereits mit Bubi Seiltänzer; die Dielenritze stellte das Seil vor. Fräulein ließ sie gewähren; die philosophierte, während sie sich daran machte, Babys Jäckchen mit rosenroten Bändchen zu durchziehen, in nicht gerade rosenroter Laune über die Schlechtigkeit der Welt. So wanderte Ediths Schreibheft ohne Mauseschwänzchen und ohne Pünktchen am Montag in die Liesenschule.

Hatte Lotte, als sie im vorigen Jahre in Marienbad ihre Augen am Geburtstagsmorgen aufschlug, nicht geglaubt, niemals verlassener an ihrem Wiegenfeste gewesen zu sein? Und da hatte sie doch noch den Großonkel gehabt, und gute liebe Briefe von den Schwestern und Freundinnen! Aber heute hatte sie nichts, auch rein gar nichts, was den in der Kindheit so wichtigen Tag über das Alltägliche erhob. Marlenes Brief war ausgeblieben, vielleicht des Sonntags wegen; Hanni und Ilse bekamen erst heute morgen ihre Bleistiftkarte mit der niederschmetternden Mitteilung, daß aus der Geburtstagsfeier nichts würde, und sie auch ums Himmelswillen nicht zu ihr kommen sollten. Von der Familie Mertens konnte natürlich niemand etwas von diesem bedeutungsvollen Tage wissen, und doch – als die gnädige Frau sie mit den Worten begrüßte: »Aber Fräulein, Baby hat jetzt ja schon die rosa Strümpfe an; die werden bis zum Spazierengehen noch zehnmal wieder schmutzig,« da hätte Lotte am liebsten losgeheult, und dabei war sie keineswegs sentimental!

Es war ein eigentümliches Wiegenfest; das Geburtstagskind blieb heute in fortwährendem Traben. Zehnmal mußte es treppauf, treppab, weil immer noch etwas zum Abend vergessen war. Das Silber sollte es noch einmal überreiben und zog sich zu diesem Zweck Handschuhe an. Denn wenn Lottes Hände auch noch immer recht kräftig gerötet waren, mit grauen Fingern mochte sie am Abend doch nicht erscheinen. Edith und Bubi lachten sie aus, und die gnädige Frau ärgerte sich über die verwöhnte Stütze, die sich wie eine Dame aufspielte.

»Fräulein« hier und »Fräulein« dort; Lotte kam gar nicht zur Besinnung. Cremespeisen mußte sie bereiten, denn Anna hatte mit dem anderen genug zu tun. Aber der Küchenfee war Lottes Gesellschaft in ihrem Reiche nicht erwünscht; sie brummte. Das Tischdecken machte Lotte Spaß; sie hatte viel Schönheitssinn, und die kostbaren Geräte, die sie aufstellen durfte, erregten ihre Begeisterung. Jedermann hat es gern, wenn seine Sachen bewundert werden; so waren Frau Doktor Mertens und ihre Stütze während dieser Stunde recht befreundet. Obst- und Blumenkörbe hatte Lotte geradezu künstlerisch mit grünen Ranken zusammengestellt. Aber Frau Doktor Mertens mochte ihre antiken Schalen nicht verdecken lassen; Lotte mußte ihren Aufbau, auf den sie ungeheuer stolz war, wieder einreißen. Aufs neue empfand sie bitter den Mangel der Bewegungsfreiheit und das Gefühl der Abhängigkeit.

Die Kinder, die heute geradezu aus dem Häuschen waren, lagen endlich im Schlummer. Erschöpft setzte sich Lotte einen Augenblick nieder. Rief man sie da nicht schon wieder? Ja, die gnädige Frau brauchte sie bei ihrer Toilette.

»Machen Sie sich dann auch fertig, Fräulein; die Gäste werden bald kommen.«

Lotte eilte strahlend in die Kinderstube. Nun war es sicher, sie brauchte nicht im Spindenzimmer einsam zu speisen; sie saß mit an der Tafel! Umsonst brauchte sie sich doch nicht anzukleiden.

Wenn es sich zu putzen galt, fühlte Lotte keine Müdigkeit mehr. Heinzens Spitzenbluse sollte sie heute am Geburtstag schmücken; zwischen die goldbraune Flechtenkrone steckte Lotte ein mattblaues Schleifchen. Einen Spiegel gab es nicht in der Kinderstube; nur einen zerbrochenen Handspiegel besaß Lotte. Aber wenn er auch unvollkommen ihr Bild zurückstrahlte, sie konnte dennoch damit zufrieden sein.

»Fräulein, wo bleiben Sie denn? Ich will Ihnen noch schnell Bescheid sagen.«

Trotzdem die Stimme der gnädigen Frau ziemlich ungeduldig klang, mußte doch noch schnell der Ring vom Onkel Heinz an den Finger gesteckt werden.

»Nanu?« Frau Doktor maß ihre hübsche Stütze vom Kopf bis zu den Füßen. »In solchem Aufputz? Sie sehen ja beinahe feiner aus als ich; das ist durchaus ungehörig, Fräulein. Wie wollen Sie in dieser Bluse die Bratenschüssel servieren? Sie verderben sich ja das gute Kleidungsstück,« setzte sie freundlicher hinzu. »Vor allen Dingen aber eine Schürze! Die ist beim Aufwarten unbedingt notwendig.«

»Die Bratenschüssel – aufwarten?« Lotte machte ein so verstörtes Gesicht, daß sie der Dame leid tat.

»Sie haben wohl noch nicht serviert, Fräulein? Das werden Sie schon lernen! Immer von links die Schüssel anbieten; Sie sind ja nicht ungeschickt.«

»Reicht Anna denn nicht herum?« Lotte war wie vor den Kopf geschlagen.

»Wo denken Sie hin, Fräulein! Die hat doch in der Küche gerade genug zu tun. Ich mag auch gern ein nett aussehendes Mädchen bei der Tafel bedienen lassen; es schmeckt den Gästen dann besser. Meine Fräulein haben es immer getan,« setzte sie rasch hinzu, da Lottes Mienen deutlich Widerspruchsgeist spiegelten.

Lotte riß sich die Spitzenbluse förmlich vom Leibe. Nett aussehen sollte sie, damit es den Gästen besser schmeckte? Nein, nun gerade nicht! Die älteste weiße Kattunbluse kramte sie hervor; sie wetterte ihre Sachen hin, daß Baby sich zu werfen begann und Bubi im Schlafe grunzte. Wenn sie sich nun einfach weigerte aufzutragen, dann würde sie am Ende sofort entlassen?

Ach, wie sie sich nach Freiheit sehnte! Aber wohin? Die häßlichste Schürze band sie um; es sollte den Gästen nicht schmecken bei ihrem Anblick.

Nein, ein neuer Gedanke kam der verärgerten Lotte. Frau Doktor Mertens hatte am Ende nur Angst, daß ihre Stütze sie ausstechen würde? O, sie wollte ihr zeigen, daß sie das auch ohne Spitzenbluse konnte! Die alte Kattunbluse wurde eilig mit einer Batistbluse vertauscht, darüber das zierliche weiße Stickereischürzchen gebunden, das ihr Frau Schwalbe einst geschenkt hatte. Den Ring aber ließ sie am Finger; jedermann mochte es beim Auftragen sehen, daß sie kein Dienstbote war.

Da klingelte es bereits. Lotte hatte nicht mehr Zeit, ihre Sachen fortzuräumen; sie mußte öffnen.

»Bleiben Sie auf dem Korridor, Fräulein! Sie können nicht jedesmal die weite Reise von den Hinterzimmern nach vorn machen; es dauert zu lange,« gebot die gnädige Frau.

Lotte half den Damen beim Ablegen, und da man freundlich mit dem reizenden Mädchen sprach, war es ihr unmöglich, ihr zorniges Gesicht beizubehalten. Sie ließ die Herrschaften in das Empfangszimmer treten; sie selbst aber blieb draußen. Grübelnd stellte sie Vergleiche zwischen dem Spindenzimmer und dem Korridor an; auch das Wort »Familienanschluß« machte ihr viel Kopfzerbrechen. Der einzige Trost war der bis zum Fußboden reichende Spiegel, in dem man sich nach Herzenslust beschauen konnte. Zwischen den einzelnen Klingelzeichen studierte sie angelegentlich ein möglichst vornehmes, abweisendes Gesicht; das wollte sie beim Servieren aufsetzen. Beinahe gelang es zur Zufriedenheit, da klingelte es schon wieder.

Lotte wäre vor Schreck und Scham fast davongelaufen. Herr und Frau Möller, Käthes Eltern, und dahinter der »Große Kurfürst« selbst mit gewickelten Locken und in einem weißen Stickereikleide! Nicht im geringsten hatte Lotte an die Möglichkeit ihres heutigen Erscheinens gedacht.

Sie machte eine verlegene Verbeugung und dachte dabei: »Wenn die ganze Gesellschaft hungrig vom Tisch aufsteht, ich trage nicht auf!«

»Ei sieh da, Lotte,« sagte Frau Möller freundlich. »Ich habe schon von Käthe gehört, daß Sie jetzt im Hause meiner Cousine sind; das ist ja nett, daß man Sie mal wiedersieht.«

»Die Lotte wird doch jeden Tag häßlicher,« fügte Herr Möller hinzu und strich sich schmunzelnd seinen grauen Kotelettenbart. Der »Große Kurfürst« warf einen stirnrunzelnden Blick zum Vater hin; Lotte war doch gerade eitel und eingebildet genug!

Sie hatte ihr die Fingerspitzen zum Empfang gereicht und »Ich gratuliere dir« gemurmelt. Den Geburtstag ganz zu vergessen, das war ihr doch nicht möglich.

Der erste Glückwunsch, den Lotte heute erhielt! Aber sie hätte gern auch auf den verzichtet. Der »Große Kurfürst« beschäftigte sich angelegentlich mit dem Ordnen seiner Locken; es war der aufgeblasenen Käthe geradezu »gräßlich«, daß die Stütze hier im Hause einst ihre Freundin und Kränzchenschwester gewesen war. Hoffentlich hatte sie so viel Taktgefühl, nicht etwa bekannt zu tun und sich mit ihrer Freundschaft zu brüsten!

Lotte war lange nicht so feinfühlig wie Marlene; aber Käthes Gedanken sprachen sich nur zu deutlich in ihrem hochmütigen Gesicht aus. Selbst wenn Lotte nicht ganz und gar in die Schrecken der Zukunft vertieft gewesen wäre, hätte sie keine Annäherung versucht.

Auch der »Große Kurfürst« stolzierte in den Empfangsraum. Lotte ballte die Hände; ach, daß sie draußen bleiben mußte! Fest entschlossen war sie, die Speisen nicht herumzureichen.

Da trat die gnädige Frau zu ihr. »Fräulein, wir sind vollzählig; richten Sie den Fisch an!«

Ehe Lotte ihr die wohlgesetzte Rede entgegenschleudern konnte, war die Dame schon wieder bei ihren Gästen.

Unschlüssig stand das junge Mädchen da. Frau Doktor verließ sich auf sie, und Lotte war zu gutherzig, trotz aller Zurücksetzung, um der Dame einen solchen Streich zu spielen. Mit den verzweifeltsten Gefühlen im Herzen begann sie also den zierlich mit grüner Petersilie und Zitrone geschmückten Fisch herumzureichen.

Oft hatte sie Ilse im Schwalbennest, wenn das Hausmädchen fortgegangen war, beim Auftragen der Platten geholfen; unglaublichen Spaß hatte ihr das stets gemacht. Ja, im Schwalbennest! Da hatte auch der gotische Feldherr Totila Bier verschenkt, und Teja hatte neulich, als urplötzlich getanzt werden sollte, höchst eigenhändig das Sofa hinausbefördern helfen. Da legte eben jeder unbefangen Hand an, wenn es not tat, um die Gemütlichkeit zu vergrößern.

Aber hier? Käthes spöttisches Lächeln, so oft sie dem empört-trotzigen Auge der aufwartenden Lotte begegnete, zeigte ihr deutlich, wie man sie gesellschaftlich für »ausgelöscht« erachtete. Manch bewundernder Blick folgte dem holden Mädchen, das so anmutig und geräuschlos seines Amtes waltete. Aber Lotte war heute blind dagegen. Selbst die Ermunterungsworte, welche die Hausfrau ihr befriedigt zuflüsterte, empfand sie als Spott.

»Nun, Lotte, wann werden Sie denn essen, wenn Sie uns so freundlich bedenken?« fragte Frau Möller, ganz das Gegenteil von ihrer hochmütigen Tochter; zugleich blickte sie die Tafel entlang. Es war für das junge Mädchen nicht mitgedeckt? Ihre Cousine hatte aber wirklich einen Sparren im Kopf! Sie konnte doch ihre Stützen nicht alle über einen Kamm scheren, mußte sich die Menschen auch ansehen!

Lotte hatte sich bereits darein gefunden, wieder im Spindenzimmer zu »soupieren«; aber was sie nicht verwand, das war, daß man sie nicht einmal vorgestellt hatte, wenn auch nur als Stütze. Man hielt sie allgemein für das Kinderfräulein. Soeben klemmte sogar Käthes Tischherr das Einglas ins Auge, musterte sie erstaunt und machte den »Großen Kurfürst« dann mit einem anerkennenden »Nettes Ding!« auf sie aufmerksam.

Käthe zuckte beleidigend die Achsel; kein Wort, daß sie Lotte kannte, kam über ihre schmalen Lippen.

»Weißt du wohl noch, wie du damals im Waschkeller zum Fünfuhrtee bei mir gewesen bist?« hätte ihr Lotte am liebsten über den Tisch zugerufen. Aber sie unterdrückte diesen Wunsch, so schwer es ihr auch wurde.

Stumm bot sie Käthe die Bratenschüssel. Der »Große Kurfürst« hielt es nicht einmal für nötig, sein schön frisiertes Lockenhaupt zu wenden, sondern unterhielt sich ruhig weiter. Da stieg Lotte das vom Großonkel ererbte Blut in den Kopf.

»Willst du nichts mehr, Käthe?« fragte sie laut und deutlich.

Der »Große Kurfürst« machte ein Gesicht, wie in der Schlacht von Fehrbellin, als die Schweden auf den kurfürstlichen Schimmel zielten; dann aber sagte Käthe eisig: »Danke, Fräulein!«

Fräulein – auch von Käthes Lippen das verhaßte Wort? Lottes Hände zitterten; ein großer Bratenfleck prangte auf Käthes neuem Stickereikleide.

»Sei doch nicht so ungeschickt!« Käthe dachte in ihrem Ärger nicht mehr an »Sie« und »Fräulein«.

Frau Doktor Mertens aber wandte sich unangenehm berührt an die mit der Bratenschüssel in der Hand noch immer bestürzt dastehende Lotte: »Waschen Sie der Dame den Fleck aus und nehmen Sie sich mehr in acht, Fräulein!«

Mit fest zusammengekniffenen Lippen stellte Lotte im Spindenzimmer warmes Wasser und ein frisches Tuch vor die »Dame«.

»Da,« sagte sie, »mach dir's selbst; ich bin nicht dein Bedienter!« Damit war der Bruch zwischen den einstigen Kränzchenschwestern besiegelt.

Während im Salon musiziert wurde, hatte Lotte die Tafel abzudecken. Die gnädige Frau kam heraus, um nach dem Rechten zu sehen.

»Haben Sie denn auch gegessen, Fräulein?« fragte sie, die Türklinke schon wieder in der Hand.

»Nein – ich habe keinen Hunger!«

Es war nicht nur Trotz. Lotte, die einst so »gefräßige«, hätte die guten Sachen hier heute nicht anrühren mögen.

Sie reichte Bier und Limonaden herum; dann saß sie gähnend im Spindenzimmer. Niemand hatte sie zum Drinbleiben aufgefordert.

Ob sie ins Bett ging? Müde genug war sie; aber ohne daß Frau Doktor darum wußte, wagte sie es nicht.

»Muß ich aufbleiben?« fragte sie, als die gnädige Frau wieder erschien und fragte, wo denn der Kaffee blieb.

»Selbstverständlich, Fräulein; was Sie auch immer für törichte Fragen stellen!« Sie rauschte davon.

Lotte mußte wieder hinein und Käthes spöttischen Blick aushalten.

Man unterhielt sich glänzend bei Doktor Mertens; bis halb zwei saß Lotte mit hintenübergesunkenem Kopf, geschlossenen Augen und geöffnetem Mund hinten im Spindenzimmer. Da rief man nach ihr. Ganz steif war sie, konnte sich gar nicht ermuntern.

Die Gäste waren schon im Korridor. Sie half den Damen beim Anlegen der Garderobe und sah mit ihren roten Schlafwangen so entzückend aus, daß Käthe, die etwas abgespannt schien, im Spiegel heimlich Vergleiche anstellte.

»Bitte, leuchten Sie hinunter und schließen Sie auf, Fräulein.« Frau Doktor nahm geschmeichelt die Versicherungen in Empfang, daß es wieder mal ganz reizend gewesen sei.

Lotte stand, die brennende Lampe in der Rechten, unten an der Haustür.

Da fühlte sie plötzlich etwas Kaltes, Metallisches in der Hand; die Herren hatten ihr das übliche Trinkgeld zwischen die Finger gedrückt. Es war ihr erstes Geburtstagsgeschenk heute! Wie Feuer brannte es ihr in der Hand, und wie Feuer loderte es auch in ihren dunkelblauen Augen, als sie jetzt voll Empörung das Trinkgeld den nichtsahnenden Spendern vor die Füße schleuderte. »Ich bin kein Dienstbote!« rief sie mit flammendem Blick.

Wie gejagt eilte sie die Treppe hinauf, ließ die Gäste im Dunkeln und die Haustür sperrangelweit offen.

»Hier bleibe ich nicht länger!«

Lotte brach in wildes Weinen aus. Herr Doktor Mertens mußte hinunter, sich bei den Gästen entschuldigen und das Haustor schließen.

Die gnädige Frau jammerte über den Ärger, den ihr die Stütze bereitete, und bestand doch auf ihrem Recht, sie nicht vor dem ersten Oktober zu entlassen.

Anna wollte durchaus die Hälfte von dem empfangenen Trinkgeld haben und hielt Lotte für verrückt, daß sie es nicht genommen hatte. Sie schimpfte tagelang.

Das Geburtstagskind aber lag weinend in seinem Bett und dachte an das vorige Jahr. Da hatte es den stolzesten Augenblick seines Daseins durchlebt und heute den erniedrigendsten. Eine Bonbonniere von einer Erzherzogin und eine Mark Trinkgeld! Lotte lernte schon früh die entgegengesetzten Pole des menschlichen Lebens kennen. Wohl ihr!


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