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Marienbad.

Der Tag neigte sich zur Rüste, als die weißen, lieblich in sattes Waldesgrün geschmiegten Villen rings an den dunklen Berglehnen auftauchten. Marienbad war erreicht. Es hatte aufgehört zu regnen; die flammende Abendsonne verjagte siegreich die dräuenden Wolkenriesen. Lotte nahm es für ein gutes Vorzeichen. An Baum und Busch hingen blinkende Regentropfen; wie Tausende und aber Tausende von Brillanten sprühten sie im Sonnenlicht.

Lotte hatte unterwegs Zeit zum Nachdenken gehabt. Wie manches Mal hatte sie gemurrt und gemeint, daß es kein Mensch auf der Welt so schlecht habe wie sie! Nun zeigte ihr der liebe Gott, wie viel ihr noch geblieben war, jetzt, da sie um Marlenchen bangte.

»Bitt' scheen, wenn S' an Wagen brauchen?«

Das junge Mädchen stieg aus, setzte seinen Koffer vor sich hin und hielt Umschau. Daß der Großonkel nicht auf der Bahn sein konnte, war ja selbstverständlich; aber Frau Tann hatte gemeint, er würde einen Hotelbedienten zur Abholung seiner jungen Nichte entsenden. Die Mitreisenden hatten fast alle schon Hotelwagen oder Landauer bestiegen; man lud bereits das Gepäck auf.

Kurz entschlossen faßte Lotte ihren Koffer bei dem altersschwachen Bügel und trabte hinter den die lange Kaiserstraße entlang rasselnden Wagen her. Aber schon nach einigen Minuten mußte sie den Koffer absetzen. Der Lederriemen schnitt trotz der Arbeitschwielen in die Hand; auch fühlte sie jetzt erst die Aufregung der Nacht, verbunden mit der Anstrengung des Reisetages, in den jungen Gliedern.

»Bitt' scheen, wenn S' an Wagen brauchen?« Neben ihr hielt ein netter kleiner Einspänner; der Kutscher grüßte freundlich.

Lotte griff nach ihrer Tasche, wo in der geheimsten Falte des Geldtäschchens, der Sicherheit halber nochmals in Zeitungspapier eingewickelt, ein Goldstück sein beschauliches Dasein führte. »Für alle Fälle« hatte Frau Tann es ihr noch mitgegeben. Sollte sie einsteigen?

Aber die Erinnerung an zwei strafend blitzende Augen unter graubuschigen Brauen ließ sie von dem vermessenen Beginnen Abstand nehmen.

Wieder mußte sie nach wenigen Minuten verschnaufen. Ob sie den halbwüchsigen Jungen da drüben ansprach, der so breitspurig einen fortgeworfenen Zigarrenstummel weiterschmauchte?

»Willst du mir meinen Koffer zum ›Erzherzog Joseph‹ tragen, Junge?«

»Bitt' scheen, Freilein!« Er nahm ihr bereitwillig den Koffer ab.

Lotte war glücklich, ihrer Bürde ledig zu sein. Eifrig Umschau haltend, schritt sie hinter ihrem barfüßigen Führer her. Die Kaiserstraße war so belebt, wie die Straße Unter den Linden in Berlin. Die Abendbrotzeit war vorüber; feine Damen in spitzenrauschenden Gewändern schritten an der Seite ihrer weißgekleideten Kavaliere die ziemlich ausgetrocknete Straße hin und her.

Mit strahlenden Fenstern schaute das stattliche Hotel, in dem der Onkel wohnte, auf den Platz heraus. Schüchtern drückte sich das Backfischchen mit seinem wenig standesgemäßen Begleiter in den hellerleuchteten Vorraum. Der braunlivrierte Hausmeister sah so ungeheuer vornehm auf sie herab, daß sie sich wie ein Eindringling vorkam.

Auf seine ziemlich barsche Frage, was sie wünsche, wagte die meist so kecke Lotte kaum den Namen des Großonkels zu nennen. Die blumendurchduftete große Halle mit den schön geschmückten Damen und Herren, die sie durch Kneifer und Lorgnetten hochmütig betrachteten, drückte das Backfischchen förmlich nieder. Das Gesicht des Hausmeisters jedoch war um einige Linien höflicher geworden; mit spitzen Fingern griff er nach Lottes Koffer und übergab ihn einem Hausdiener mit grüner Schürze.

Lotte zog ihr Geldtäschchen, um ihren Begleiter abzulohnen. Außer dem Goldstück hatte sie nur noch fünf einzelne Groschen. Großmütig nahm sie einen davon und überreichte ihn mit möglichst erwachsenem Kopfnicken dem Jungen.

»Bitt' scheen, Freilein, dös is nix – haben S' koan anders Geld?« Der Bursche wies den Groschen geringschätzig zurück.

Das junge Mädchen stand in tödlicher Verlegenheit. Es hatte ja noch kein österreichisches Geld eingewechselt.

»An Viertelguld'n, geben S' an Viertelguld'n,« verlangte der Junge.

Der sonst so dreisten Lotte traten Tränen der Beschämung in die Augen; sie sah die Herren und Damen lächeln. Da nahm sich der Hausmeister des armen Backfischchens an.

»Lassen S' nur, gnä' Freilein! Ich will's schon verauslegen – ich setz' es dem Herrn Onkel auf Rechnung.« Damit gab er dem Jungen zehn Kreuzer.

»Ein allerliebstes Backfischchen,« hörte Lotte hinter sich her flüstern; da lief sie, was sie nur konnte, den langen Gang hinunter.

An Nummer fünfzehn klopfte sie bescheiden.

»Herein,« rief es ziemlich knurrig.

Lotte öffnete die Türspalte und quetschte sich hindurch.

»Nanu – – –?« Der Großonkel, der auf der Chaiselongue lag, schob die Brille hoch.

»Guten Tag, lieber Onkel!« Lotte empfand hier in der Fremde plötzlich ein warmes, heimatliches Gefühl, als sie den schönen alten Mann nach so langer Zeit wieder erblickte. Herzlich eilte sie auf ihn zu.

»Nanu – was hast du denn hier zu suchen?«

Lotte ließ sich von dem grimmigen Ton nicht einschüchtern. Sie hörte trotz allen Polterns daraus eine heimliche Freude, die Nichte bei sich zu haben. Und da tat sie, was sie noch nie getan – sie wußte selbst nicht, wie es geschah – aber sie hatte dem Großonkel plötzlich wahr und wahrhaftig einen Kuß gegeben!

Sie blinzelte durch die langen Wimpern ein wenig beklommen zu Onkel Heinrich hin, was der wohl für ein Gesicht dazu machte. Dann riß sie die Blauaugen auf, so weit sie nur konnte. Täuschte sie sich? Nein – es lag wirklich ein weicher Schimmer über dem sonst wie aus Stein gemeißelten Gesicht!

Lotte berichtete nun von Marlenes Krankheit, und all die Angst, die Sorge, die von den neuen Eindrücken für eine Weile verscheucht waren, brachen jetzt wieder hervor. Du lieber, einziger Vater da oben, wie mochte es ihrem Marlenchen gehen!

»Hm – na – wird sich schon durchrappeln – aber es ist brav, daß du trotzdem gekommen bist!«

Lotte wurde krebsrot; das glänzendste Lob in der Schule hatte sie nie so stolz gemacht, wie hier das karge des Großonkels. Dann begann er von sich zu erzählen, eine endlose Leidensgeschichte. Immer brummiger und bärbeißiger wurde er dabei. Als er schließlich mit einem kräftigen »Der Kuckuck hol' die ganze Blase hier!« sein Genörgel schloß, da meinte das junge Mädchen seufzend, daß er doch noch ganz der alte geblieben sei.

Im Verlauf des Abends kam sie immer mehr zu dieser Überzeugung.

»Die Abendbrotzeit ist hier schon vorüber; du hast doch sicher unterwegs gegessen,« sagte der Onkel ziemlich bestimmt.

»Ich habe zum Mittagbrot Leberwurschtstullen mitgehabt.« Das »Wurscht« bedeutete, daß es die billige Sorte gewesen war.

»Wenn du wirklich noch Hunger hast, will ich dir ein Butterbrot kommen lassen,« bequemte sich der alte Herr schweren Herzens einzuräumen.

Lotte schüttelte beleidigt den Kopf. Nein – zur Strafe aß sie gar nichts! Es war Onkel Heinrich ganz recht, daß sie hungerte und ihm mit knurrendem Magen Umschläge von essigsaurer Tonerde auf seinen geschwollenen Fuß machte! Ach, ihre Träume von Table d'hote, von Speisekarte und großartigem Menü!

Eine gähnende Leere im Magen, lag Lotte in dem fremden, ungewohnten Bett, weil sie es nicht über sich gebracht hatte, den Großonkel noch nachträglich um ein Brot zu bitten. Ihre Gedanken wanderten über Höhen und Täler, sie durcheilten Wiesengelände und Kornwogen und zogen wie Handwerksburschen durch das Tor der steinernen Riesenstadt. Aber es waren keine fröhlichen, leichtbeschwingten Gesellen; je näher sie dem grauen Haus kamen, um so mehr verlangsamte sich ihr Schritt. Wie mochte es dort ausschauen?

»Ach Gott, wer wird nur heute bei meinem Marlenchen wachen – ach, hoffentlich bin ich morgen früh, wenn ich aufwache, nicht verhungert –« und dann schlief Lotte.

Sie hatte sich allmählich unter Frau Tanns Regiment daran gewöhnt, um halb sechs Uhr aufzustehen. So war sie ziemlich ausgeschlafen, als der Großonkel in aller Frühe gegen die Wand klopfte. Jetzt erst sah sie, was sie hier für ein wunderhübsches Zimmer hatte; das war freilich anders als die »Zelle« daheim.

Der Großonkel hatte wieder einmal schlecht geschlafen. Er nahm das Frühstück im Zimmer ein und gab dabei seiner Entrüstung Ausdruck, daß das Stubenmädchen immer erst gegen Mittag aufräume.

Lotte begann in ihrer umsichtigen Art, ein wenig Ordnung zu schaffen. Sie öffnete die Fenster und atmete mit weiter Brust den würzigen Duft ein, den die Waldbäume ihr entgegenströmten. Dann machte sie mit gewandter Hand Onkel Heinrichs Bett und ordnete das Frühstücksgerät, das der Kellner brachte, zierlich auf dem Tisch.

»Hm – solch Frauenzimmer versteht das doch besser als eine Mannsperson,« brummte der Großonkel. Es sollte anerkennend sein, klang aber nicht gerade freundlich.

Das Frühstück hatte recht wenig Ähnlichkeit mit Frau Tanns dünner Zichorienbrühe und der zähen Schrippe. Aus einem silbernen Kännchen durfte Lotte sich Tee eingießen; knusprige Stangen und Kipferl gab es dazu mit Butter, Honig und Marmelade.

»Iß nur,« nötigte der Onkel, ganz gegen seine sonstige Gewohnheit, »bezahlen muß ich es doch.«

Das war was für das Schleckmäulchen! Trotzdem wollte es nicht so recht rutschen; da hatte die trockene Schrippe daheim sogar besser gemundet. Lotte lernte schon wieder etwas. Nicht darauf kam es an, was man aß, sondern daß man es mit leichtem, frohem Herzen verzehrte. Sie lauschte auf jedes Geräusch – kam noch immer keine Post? Der Hals war ihr wie zugeschnürt, wenn sie daran dachte, was sie ihr bringen konnte. Dem Onkel mußte ihr unstetes Wesen schließlich auffallen.

»Eine nette Krankenpflegerin habe ich mir verschrieben! Statt für ihren Patienten zu sorgen, hat sie Allotria im Sinn,« rief er schließlich, als Lotte vergaß, die Umschläge zu wechseln.

Das junge Mädchen sah dem Großonkel frei in die Augen. »Ich denke an Marlene.«

»Hm – ja – hm – sieh mich nicht so keck an,« fuhr er plötzlich ganz unvermittelt auf.

Sie schürzte trotzig die Lippen. Das Backfischchen war zu wenig Menschenkennerin, um zu fühlen, daß der alte Mann seine mitleidige Regung hinter diesem plötzlichen Ausbruch zu verbergen trachtete.

Endlich klopfte es. Lotte stürzte zur Tür.

»Eine Karte – eine Karte von Ilse!«

Aber sie hielt die Postkarte feige ein Stück von sich ab; sie traute sich nicht zu lesen.

Ilse schrieb nur wenig Zeilen. »Fieber gesunken, Schmerz nachgelassen, Gefahr ziemlich ausgeschlossen. Sei ganz ohne Sorge –«

Mehr las Lotte nicht; die Buchstaben tanzten plötzlich vor ihrem Blick einen wilden Reigen.

»Es geht besser, Onkel Heinrich – es geht besser!« Die Spannung löste sich in wohltuende Tränen; Lotte schluckte und schluchzte.

»Dummes Mädel, darüber weint man doch nicht! Nimm dich lieber zusammen; für eine nervöse Mondscheinprinzessin bedanke ich mich.«

»Der Großonkel hat kein Herz – keine Spur von Herz hat er,« dachte Lotte und grub den Kopf tiefer in das Taschentuch.

Da fuhr plötzlich eine knochige Hand über ihr Haar – einmal – zweimal. Sie hielt den Atem an.

Als sie ihr Taschentuch sinken ließ, lag der Onkel mit ärgerlich gefurchter Stirn neben ihr. Lotte betrachtete ihn voll Neugier. Nein, es mußte eine Täuschung gewesen sein; Onkel Heinrich sah nach allem anderen eher aus als nach einer Liebkosung.

Drei Tage lang hatte Lotte zunächst Stubenarrest; des Großonkels Fuß wollte nicht besser werden. Sie war keine hervorragende Krankenpflegerin; es fehlte ihr zu dieser schwierigen Aufgabe vor allem an Geduld und Selbstverleugnung. Aber sei einer mal geduldig und liebevoll, wenn das Sonnengold so verlockend in dem Zimmer umherschwirrt, wenn die Bergföhren wehen und rauschen: »Komm hinaus!« und die Kurmusik ihre bestrickenden Weisen erklingen läßt! Dazu wurde der Onkel von Tag zu Tag ungeduldiger und griesgrämiger.

Über Marlenes Befinden liefen täglich zufriedenstellende Nachrichten ein; sie war bereits fieberfrei. Trotzdem war Lotte nicht vergnügt. Manchmal kam sie sich selbst recht undankbar vor. Doch so ist nun mal der Mensch; wird ihm das gewährt, was er noch eben heiß gewünscht hat, im nächsten Augenblick streckt er die Hand schon wieder begehrend nach etwas Neuem aus.

Lotte hatte sich ihren Marienbader Aufenthalt denn doch anders gedacht! Von morgens bis abends im Zimmer hocken, bei dem verdrießlichen alten Herrn, dem nichts recht war – das glänzende Hotel bekam eine verzweifelte Ähnlichkeit mit dem grauen Haus, in dem sie bisher »gefangen« gesessen. Frau Schwalbes Worte klangen ihr öfters im Ohr, daß sie sich die Liebe des Großonkels verdienen müsse. Dann nahm Lotte jedesmal einen Anlauf, blieb freundlich und sanft, auch wenn der Onkel die Fenster, durch die der Wald dem Backfischchen seine Grüße ins Zimmer sandte, luftdicht verschließen ließ; auch wenn ihm die Umschläge bald zu trocken, bald zu naß waren, und Lotte ganz allein schuld daran sein sollte, daß der Fuß noch immer rot aussah.

Endlich hatte der gichtkranke Fuß ein Einsehen mit dem Freiheitsdrang des eingesperrten Backfischchens; er schwoll ab. Lotte war darüber fast noch froher als der Onkel selbst. Aber als sie mit ihm zum erstenmal in das buntflutende Badeleben hinausdurfte, da – ja, da hatte sie sich auch so manches anders gedacht.

Das putzsüchtige Backfischchen hatte geglaubt, in Marlenchens neuem Kreppkleid Aufsehen zu erregen. Nun mußte es gewahr werden, daß nicht einmal der Onkel bemerkte, daß sie ein neues Kleid trug.

»Wie eine Wärterin des Onkels sehe ich aus,« dachte sie entrüstet. Trotzdem folgte dem hochgewachsenen Paar, dem schönen grauhaarigen Mann und dem blühenden jungen Mädchen an seiner Seite, mancher Blick der Bewunderung. Das war dann Balsam für die eitle Lotte.

Aber nicht immer war Lotte so äußerlich. Die bezaubernde Natur predigte auf Schritt und Tritt, wie schön das Leben ist; welches fünfzehnjährige Mädchenherz kann sich dem verschließen?

Nach der Brunnenkur ging es in die Berge, weit hinauf; der Morgenkaffee wurde in einem der reizend gelegenen Höhenrestaurants eingenommen. Hier in der Einsamkeit, bei dem täglichen Spaziergange vergaß Lotte manchmal ganz die Scheu vor dem Großonkel. Der Wind strich so leis durch die Blätter und wiegte die Zweige, wie eine Mutter ihr Kind; der Waldbach murmelte so friedlich, und die Blümlein nickten so farbenfreudig, daß es einem weit und frei ums Herz wurde. Unwillkürlich begann Lotte dann ein Lied zu trällern, und plötzlich verstummte sie erschreckt. Sie hatte ganz vergessen, daß der Großonkel ihr folgte.

»Sing weiter,« brummte seine Stimme hinter ihr; sein Gesicht schien freilich unbewegt wie stets.

»Das Leben besteht doch nur aus Opfern,« philosophierte das Backfischchen, als sie einmal beim »Egerländer« ihren Nachmittagskakao tranken. Trotz der farbenfrohen Umgebung ging Lotte mit ernsten Märtyrergedanken um. Sie hielt einen Brief von Ilse in der Hand. Schwälbchens muntere Zeilen, in denen diese von allem plauderte, was ihr gerade durch den lustigen Kopf spukte, waren eigentlich recht wenig dazu angetan, Schwermut bei der Freundin auszulösen. Und trotzdem! Ilse schrieb, daß Marlenchen schon aufgestanden sei, aber noch mächtig blaßschnäbelig aussehe. »Ich hole sie, wenn der Drachen, der die schöne Prinzessin bewacht, auch grimmig dreinschaut, jeden Tag zum Spazierengehen ab. Das arme Wurm ist aber noch so matt, daß sie von einer Bank zur anderen kriecht. Und dabei soll sie schon wieder in der Wirtschaft helfen! Muttchen hat mit dem Arzt gesprochen, und der hat Eurer Duenna mitgeteilt, daß Rekonvaleszentinnen der Schonung bedürfen.« So schrieb Ilse; dann kam gleich dahinter eine ergötzliche Schulgeschichte.

Lotte saß und sann; sie bohrte mit ihren Blicken förmlich ein Loch in die Luft. Ihre Gedanken belebten den sonnendurchströmten Äther. Da zog es wie in einem Wandeltheater an ihr vorüber: ihr reizendes Zimmer mit den drei Spiegeln, der Morgentee aus dem silbernen Kännchen, Waldspaziergänge und Promenadenkonzert, und zum Schluß etwas Düsteres, Nüchternes, Häßliches – das war das graue Haus. Lotte schloß die Augen; das wollte sie nicht sehen.

»Onkel Heinrich,« stieß sie schnell heraus, damit ihr das, was sie sagen wollte, nur ja nicht wieder leid wurde, »ich habe eine Riesenbitte an dich.«

Der Großonkel runzelte die Stirn. Bitten hatte er nicht gern und noch dazu »Riesenbitten«; die waren sicher unbequem.

»Ilse Schwalbe schreibt mir, daß Marlene noch immer sehr elend ist. Wie gut würde es ihr tun, Waldluft zu atmen und sich in dieser herrlichen Umgebung zu erholen. Darf ich nicht nach Hause reisen, Onkel Heinrich, und für die letzten vierzehn Tage noch Marlene herschicken?«

Ihre tiefblauen Augensterne hingen bittend an des Onkels undurchdringlichen Gesichtszügen. Der starrte jetzt in die Luft. Aber die Bilder, die er erblickte, waren wohl weniger verlockend als jene, die Lotte vorhin vorgeschwebt; da stand vor allem mit großen schwarzen Buchstaben »Reisegeld« in dem goldenen Sonnengeflimmer.

»Nein,« sagte er dann brüsk, »ganz ausgeschlossen! Abgesehen von den doppelten Kosten bin ich selbst ein leidender Mann und kann als Gesellschafterin nicht jemand brauchen, der ebenfalls der Pflege bedarf. Ich habe mich nun langsam an dich gewöhnt; Marlene kann sich in Berlin auch erholen, wenn sie nur will.«

Lotte biß sich auf die Lippen, daß sie bluteten. Nur nichts antworten! Was sie auch entgegnete, würde bitter und unehrerbietig klingen, das fühlte sie.

So genoß sie die letzten vierzehn Tage ihres Marienbader Aufenthalts nur halb. Wenn der Wind ihre Goldhaare zauste und ihr Duftwellen der heudurchtränkten Atmosphäre entgegenfächelte, dann mußte sie denken: »Wie würde er Marlenchens blasse Wangen röten!« Während des guten Abendessens sah sie die Schwester mit ihrem Radieschenbrot auf dem Küchenfensterbrett sitzen, und bei der süßen Speise wurde sehnsüchtig klein Hannis gedacht.

Dem letzten Sonntag ihres Dortseins sah Lotte mit gemischten Gefühlen entgegen. Es war der zwanzigste August, ihr Geburtstag. Solch ein Jahr zählt in dem glücklichen Alter von vierzehn bis achtzehn doppelt. Lotte fühlte sich ungeheuer erhoben in dem Gedanken: »Nun kann ich sagen, ich werde sechzehn!« Aber daß sie den Tag diesmal fern von den Schwestern und den Freundinnen verleben sollte, beeinträchtigte die Freude. Auf Onkel Heinrichs Geburtstagspenden setzte sie, seit den trüben Erfahrungen mit Marlene, keine rechte Hoffnung mehr.

Ihr Vertrauen wurde nicht getäuscht. Als Lotte dem Onkel Mitteilung davon machte, daß morgen ihr Geburtstag sei, sagte er: »Nun, ich denke, du feierst hier alle Tage Geburtstag.«

Lotte war so überrascht von dieser Neuigkeit, daß sie nichts einzuwenden wußte.

Mit trübseligem Gesicht öffnete das Geburtstagskind am nächsten Morgen sein Fenster, denn es sehnte sich heute ganz besonders nach den Schwestern. Da schickte der liebe Herrgott ihm seine Gratulanten zu. Zuerst kam die goldene Sonne und sah ihm so hell in die jungen Augen, daß es ihm bis ins Herz hinein warm wurde. Dann brachten die Vöglein in den Zweigen jubelnd ein Ständchen dar. Der Wald sandte ihm seinen süßesten Duft als Geburtstagsgruß, und zuletzt flog der Morgenwind herzu und küßte es so recht übermütig auf die blühenden Wangen. Mit frohen Augen trat das Geburtstagskind beim Großonkel ein.

»Ich gratuliere dir!« Es klang ziemlich unverständlich von den Lippen des Onkels. Aber Lotte war so gerührt darüber, daß er überhaupt geruhte, an ihr Vorhandensein zu denken, daß sie sich über seine Hand neigte und diese küßte. Er sah überrascht darauf und dann auf die errötende Lotte. In seinen scharfen blauen Augen spiegelten sich die warmen Strahlen der Sonne. Schon wollte er mit der geküßten Hand in die Tasche greifen, um dem Backfischchen einen Gulden zu verehren, da fiel ihm zum Glück noch etwas ein. Um Himmels willen, er durfte das Mädchen ja nicht verwöhnen! Die warmen Sonnenstrahlen huschten traurig weiter.

Von allen Seiten liefen heute Glückwünsche ein. Marlene hatte das erstemal seit ihrer Krankheit wieder selbst geschrieben. Die Freude, ihre Lotte nun bald wiederzuhaben, mache sie vollends gesund, stand in dem Brief. Dann kam Hannis große Kinderschrift; sogar Frau Tann hatte einen Glückwunsch angefügt. Ilse schrieb das kunterbunteste Zeug durcheinander. Lotte mußte beim Lesen laut lachen. Frau Schwalbe wünschte in mütterlich warmen Worten der lieben Lotte reiches Glück, und alle Kränzchenschwestern sandten eine Blumenkarte.

»Ein Geschenk erhalte ich erst später von Marlene und Ilse wegen der Zollrevision,« seufzte Lotte, die Briefe doch ein wenig enttäuscht zusammenfaltend.

»Hm – wir könnten heute mal zum Sonntagskonzert an die Waldquelle gehen,« schnitt der Großonkel das ihm unbehagliche Thema ab.

Das war zwar kein Geschenk, aber immerhin auch nicht zu verachten. Lotte machte sich so fein als möglich, denn zum Konzert an der Waldquelle mittags um zwölf fand sich die feine Welt von ganz Marienbad zusammen.

In der linken Hand trug sie das kleine braune, von Marlene geerbte Ledertäschchen. Das mußte sie stets begleiten, denn der Onkel verlangte, daß sie in allen Kaffeehäusern den übriggelassenen Zucker mitnahm, wenn es ihr auch noch so peinlich war. Sein Grundsatz hieß: »Was ich bezahle, gehört mir.« Er fühlte keine Veranlassung, jemand etwas zu »schenken«. Zwei große Tüten Zucker standen bereits im verschlossenen Kleiderschrank des Hotels.

»Von Ihrer Kaiserlichen Hoheit der Frau Erzherzogin!«

Lotte riß heute Mund und Augen vor Staunen auf. So etwas von Staat und Eleganz hatte sie selbst hier in Marienbad nicht gesehen.

»Das ist die Erzherzogin Stephanie – hier – dicht neben dir – die im mattblauen Kleid,« flüsterte ihr plötzlich der Großonkel leise zu.

Lotte blickte die junge Fürstin weltversunken an und achtete nicht auf ihr braunes Täschchen, dessen Schloß nicht mehr ganz in Ordnung war. Sie wurde erst aufmerksam, als sie die Herren sich ringsum zur Erde bücken sah.

Himmlischer Vater, da sprangen die weißen Zuckerstückchen, die sich seit mehreren Tagen angesammelt hatten, fürwitzig aus ihrer Tasche und hüpften nach allen Seiten, bis zu den Füßen der Erzherzogin. Die sah auf die Bescherung und lachte, und all die Damen und Herren im Umkreis lächelten und schmunzelten. Es war einfach fürchterlich! Lotte wäre am liebsten in ein Mauseloch gekrochen, und auch der Onkel schien ähnliche Absichten zu hegen. Er verschwand so schnell als möglich von der Bildfläche.

Aber als Lotte ihm folgen wollte, trat eine vornehme Dame auf sie zu und forderte sie auf, ihr zur Erzherzogin zu folgen. Die Kaiserliche Hoheit wollte das allerliebste Backfischchen, das eine so arge Niederlage erlebt hatte, durch ihre Gunst trösten.

Lotte machte eine Verbeugung fast bis zum Erdboden.

»Wie heißen Sie, liebes Kind?« fragte die Erzherzogin mit gewinnender Freundlichkeit.

Lotte nannte mit der ihr eigenen Unbefangenheit ihren Namen.

»Und wie alt sind Sie?« führ die Fürstin fort, der die frische Art des jungen Mädchens gefiel.

»Ich werde sechzehn,« war die stolze Antwort; nun konnte sie es doch zum erstenmal anbringen, und noch dazu vor einer Prinzessin.

»Wann denn?« erkundigte sich die Erzherzogin belustigt weiter.

»Heute übers Jahr,« gab Lotte ziemlich kleinlaut zur Antwort.

Da lachte die Erzherzogin Stephanie wieder; es klang so hell und herzlich, daß auch ihre Begleitung einstimmte, und all die Zuschauer, die einen engen Ring um das bevorzugte Backfischchen bildeten, lachten ebenfalls.

»Nun, da gratuliere ich dem Geburtstagskind schön,« sagte die liebenswürdige Fürstin und streckte der beglückten Lotte leutselig die Hand hin. Dann schritt sie weiter. Lotte aber stand wie betäubt mit ihren entlaufenen Zuckerstückchen da.

Onkel Heinrich mußte danach bis zur Erschlaffung jedes Wort und jedes Lächeln der Erzherzogin über sich ergehen lassen; irgendwo mußte Lotte ihr übervolles Herz erleichtern.

Am Nachmittag – der Onkel hatte gerade seine Augen geschlossen – da klopfte es so laut, daß Lotte erschreckt zur Tür lief und der Onkel empört im Halbschlummer murrte.

Ein galonierter Diener stand vor dem jungen Mädchen.

»Fräulein Lotte Elmert?« fragte er.

Herzklopfend bejahte Lotte seine Frage.

»Von Ihrer Kaiserlichen Hoheit der Frau Erzherzogin Stephanie!« Damit überreichte er Lotte ein ziemlich umfangreiches Paket.

Mit fliegenden Händen öffnete Lotte. Auch der Großonkel war plötzlich ganz munter geworden; sogar zu einem Scherz schwang er sich auf. »Am Ende bekommst du einen Orden!«

Nein, eine Riesenbonbonniere kam zum Vorschein, und Lotte sprang jubelnd damit im Zimmer umher. Ach, was würde Marlenchen sagen, und Ilse – na, und Käthe Möller, die ein Autogramm von irgendeinem Schauspieler als das höchste der Gefühle betrachtete! Eine Bonbonniere von einer Prinzessin, das überstieg alles, alles!

Kein Stück rührte das Naschmäulchen von seinem Heiligtum an, trotzdem es ihm schwer genug wurde. Es mußte das Geschenk in seiner ganzen Glorie mit heimbringen!

So ging Lotte an ihrem fünfzehnten Geburtstag doch nicht ganz leer aus. Ein Glückstag war er für sie geworden!


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