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Schneeweiß und Rosenrot.

Der Novembersturm entriß den ächzenden Bäumen ihre letzten dürren Blätter. Er pfiff durch die Straßen und rüttelte an den Fenstern. Er heulte im Ofen und wehklagte in den Lüften. Wenn man nur richtig zuhörte, konnte man seinen wilden Sang verstehen: »Hurra! Nun streckt bald der Winter sein Flockenhaupt zur Wolkentür hinein – der See schnallt seinen Eispanzer um – horch, Mädchenlachen, Tanzstundenmusik!«

So pfiff der Herbststurm um das Dach des Schwalbennestes. Ilse saß vor ihren Büchern, hob mit strahlenden Augen das Näschen von der französischen Übersetzung und lauschte der lustigen Weise.

Der Sturm aber brauste weiter über den weiten Platz bis zu dem grauen Hause, wo mißmutig und fröstelnd ein alter Mann in das Novembergrau hinausblickte. »Hu, der Winter kommt, der häßliche, mürrische Geselle! Wie kalt sein Atem ist – wie er alles Leben erstarren läßt – hu!«

So winselte der Sturm mit eintöniger Stimme durch die Fensterritzen. Dann flog er zum Küchenbrett und schaute durch die beschlagenen Scheiben auf die kartoffelnschälende Lotte.

»Vorbei – vorbei,« so sang er, »Sonnenschein und Vogellaut, Badeleben und Prinzessinnengunst! Nun heißt es wieder grobe Küchenarbeit tun – vorbei – vorbei!« Schadenfroh lachte er, daß die Fenster erdröhnten.

Jetzt sprang er in den Schornstein, sang der am Herd beschäftigten Frau Tann eine ächzende Melodie von teuren Kohlenpreisen und größerem Petroleumverbrauch, und hui! – da wirbelte er schon wieder durch die Straßen und Gäßchen und riß den schreienden Buben die Mützen vom Kopf.

Klirr, pochte er am anderen Ende der Stadt mit knochigem Finger gegen die wackligen Scheiben der überheizten Schneiderstube, daß das bleiche junge Mädchen, das da so emsig an seinem Probekleid stichelte, erschreckt den Blondkopf hob.

»Weißt du wohl noch, wie die kahlen Bäume, die ich jetzt unbarmherzig zause, ihren süßen Blütenhauch ausströmten?« hörte Marlene ihn durch die Fugen der Fenster klagen. »Wie du noch nicht jeden Abend heimfuhrst, und Vetter Rudi dir bisweilen einen Gruß zuwinkte?« Marlenchen saß still und lauschte.

Der Novembersturm aber war längst auf und davon. Der zuckte schon übermütig in der grünbeschirmten Gasflamme, die das Kontorpult des Bankgeschäftes bestrahlte. Rudi kaute am Federhalter.

»Surr – surr,« summte es in den tanzenden Flämmchen, »München – Kunst – Schaffen, Ringen und Ruhm – ade Kontorschemel!« Da klappte Rudi Elmert das Kontobuch mit lautem Knall zu.

So sang der Novembersturm einem jeden sein eigenes Lied, nur verstehen mußte man ihn.

»Aber Fräulein, was haben Sie denn bloß mit Ihrem Probekleid gemacht? Das ist ja viel zu eng!« Fräulein Fischer versuchte vergebens, Marlene die Taille des dunkelblauen Meisterstückes zu schließen.

Marlene stand entsetzt da, die Arme wie eine Vogelscheuche steif vom Leibe gestreckt. Heute mittag, ehe die Ärmel eingenäht waren, hatte es doch noch so wunderschön gepaßt; ordentlich stolz war Marlene gewesen, wie tadellos das erste selbstgefertigte Kleid ihrem schlanken Körper sich anschmiegte. Nun, da es fix und fertig war, klaffte es mindestens zwanzig Zentimeter auseinander. Der schöne Stoff, zu dem sich der Großonkel zuerst gar nicht entschließen wollte – wenn sie das teure Kleid verdorben hätte!

Hilflos blickte das junge Mädchen auf sein Machwerk. Das kleine Schneiderfräulein drehte es mit kundigen Blicken wie eine Holzfigur um die eigene Achse. Seitenteile, Rückenbreite, alles war genau nach Maß – aber da – Fräulein Fischer lachte laut auf.

»Fräulein, lassen Sie sich im Panoptikum ausstellen! Sie haben die Ellbogen ja vorn am Arm!« Zugleich hob sie Marlenes eigenartig aussehenden Ärmel empor.

»Knacks« machte der, und noch einmal »knacks«, empört gegen die Zumutung, statt des rechten den linken Arm zu umhüllen. Marlene hatte die Ärmel vertauscht! Daran war nur der Novembersturm schuld mit seinem Singen und Klagen.

»Nun gibt es wieder Trennungsschmerz,« scherzte die Lehrmeisterin, der bestürzten Marlene die Arbeit noch einmal zeigend.

»Trennungsschmerz«, das war der in der Schneiderstube allgemein übliche Ausdruck für das Auftrennen und Verbessern eines Fehlers. Ach, Marlenchen hatte hier oben öfters Trennungsschmerzen zu leiden!

Als die Ärmel endlich richtig mit der Taille verbunden waren, als Marlene mit der ihr eigenen Gründlichkeit die Arbeit zusammengelegt hatte und die vielen Treppen hinunterstieg, da wartete ihrer auch drunten noch eine Überraschung.

In dem spärlich erhellten Hausflur schritt ein schmalschulteriger junger Mann auf und ab. Es war Rudi.

Als Marlene ihn erkannt, war ihr erstes Gefühl, kehrt zu machen und die Stufen wieder hinaufzulaufen. Sie hatte es damals nach ihrer Krankheit Frau Schwalbe versprochen, die Begegnungen mit dem Vetter nach Möglichkeit einzuschränken. Der Großonkel wollte es doch nun einmal nicht! Leicht war es Marlene nicht geworden, ihr Versprechen zu halten. Vetter Rudi war der einzige Mensch, der sie mit jener glücklichen Zeit, mit dem »Früher« verband, der ihr von Onkel und Tante erzählte und von Herta.

Rudi selbst hatte es ihr nicht leicht gemacht, das auszuführen, was sie doch auch für das Rechte hielt. Als er sie nach langer Zeit das erstemal so durchsichtig blaß aus der Schneiderstube heimkehren sah, hatte er sie erschreckt angesprochen. Er war so traurig, daß sein bleiches Cousinchen um die notwendige Erholung gekommen war, daß er vorschlug, jeden Abend mit Herta und ihm irgendwo hinaus ins Freie zu fahren. So verlockend auch der Plan war, und so sehr sich Marlene nach frischer Luft und grünen Bäumen sehnte, sie hatte seinen Vorschlag mit einer ihr sonst fernliegenden Entschlossenheit zurückgewiesen. Ja, sie hatte ihn sogar noch einmal inständigst gebeten, künftig ihren Weg nicht mehr zu kreuzen, denn selbst die tägliche Begegnung sei ein Umgehen des Verbotes des Großonkels. Da war Rudi ohne Abschied von ihr gegangen – sie waren böse miteinander, seit langer Zeit wieder einmal! Seitdem hatte Marlene den Vetter nicht gesehen, und ihre so blassen Wangen mochten wohl auch daher stammen, daß sie sich heimlich grämte, weil ihr guter Kamerad ihr noch immer zürnte.

Nun stand er wieder nach so vielen Wochen ganz unvorhergesehen vor ihr.

»'n Abend, Marlenchen,« sagte er mit gemütlicher Selbstverständlichkeit, als ob nichts vorgefallen wäre.

Sie gab keine Antwort. Sie war so erschreckt von der Plötzlichkeit seines Auftauchens, ihre Gefühle kämpften in so argem Zwiespalt gegeneinander, daß sie kein Wort hervorbrachte.

»Hab keine Angst, ich will dir nicht lange lästig fallen,« – es war ihm nicht entgangen, daß sie Miene machte, davonzulaufen – »nur vor der Trennung –« Er brach ab.

»Trennungsschmerz,« durchfuhr es Marlene; das verhaßte Wort aus der Schneiderstube verfolgte sie heute.

Sie trat in die nebelfeuchte Abendluft hinaus, der Vetter blieb an ihrer Seite.

»Du kannst mir Glück wünschen, Marlenchen,« begann er nach einer Weile von neuem, und fuhr sich mit der Hand durch das dichte, dunkelblonde Haar, ein Zeichen, daß er erregt war.

Marlene hemmte jäh den Schritt. Ihr Blick streifte scheu Rudis Linke; hatte er sich verlobt?

Rudi war der Richtung ihrer Augen gefolgt; jetzt lachte er belustigt auf. Das verscheuchte vollends die Verstimmung, die noch immer zwischen den beiden einherschritt, um bald dem einen, bald dem anderen ihren trügerischen Spiegel vor die Augen zu halten.

»Nee, Marlenchen, damit eilt es mir nicht so! Ich habe eben erst ein anderes Joch von mir geschüttelt – heute habe ich das letztemal den Kontorbock geritten!«

Marlene starrte den Vetter fassungslos an.

»Nächste Woche geht es nach München, in den Tempel der Kunst! Ein Professor der hiesigen Akademie ist auf meine Arbeiten aufmerksam geworden und hat mir freies Studium erwirkt. Kindchen – ich bin ja unmenschlich glücklich!«

Er hätte die große Marlene am liebsten auf offener Straße herumgewirbelt, wie er es früher mit dem kleinen Marlenchen getan, wenn er mit einer Prämie aus dem Gymnasium heimkehrte.

Marlene streckte ihm beide Hände hin. Ihre Blauaugen leuchteten in herzlichem Mitempfinden.

»Rudi, wie freue ich mich für dich! Nun wirst du nicht mehr unbefriedigt von deinem Tagewerk sein, wirst ein ganz großer, berühmter Künstler werden! Ach, wie stolz werden wir alle auf dich sein!« Sie träumte bereits von einer glänzenden Zukunft.

»Doch wohl nur, wenn der Herr Großonkel nichts dagegen einzuwenden hat,« neckte Rudi schon wieder. Aber ihr bittender Blick schloß ihm die spöttischen Lippen.

Die Pferdebahnhaltestelle an der Straßenecke war erreicht. Dort stand der Novembersturm und wartete auf die zwei.

Er blies Rudis Pelerinenmantel wie schwarze Riesenflügel empor und zerrte an Marlenes Goldhaar, damit sich die beiden mit dem Abschied beeilten, denn die Bahn klingelte bereits in der Nähe.

»Grüß Lotte und Hanni vielmals – laß dir's gut gehen, Marlenchen!«

»Viel Glück, Rudi, und denke auch mal – – –« Der Sturmwind, der arge, stahl ihr die Worte von den Lippen.

Da griff der Vetter noch einmal nach ihren Händen; er nahm eine nach der anderen und drückte sie dann.

Das wurde dem Novembersturm aber denn doch zu langweilig. Eine große Wolke trieb er Marlenchen entgegen, so daß sie glaubte, wieder den Lindenduft des Sommers zu verspüren, und dabei war es doch grauer Staub. Dem Vetter aber entführte er – heidi! – den breitkrempigen Hut. Als das junge Mädchen die Augen wieder öffnen konnte, sah es Rudi bereits mit langen Schritten auf den Ausreißer Jagd machen. Zwischen Lachen und Weinen kämpfend stieg Marlenchen in den Wagen.

Lotte empfing die Schwester jeden Abend mit einer Zärtlichkeit, als ob sie diese nicht nur sechs Stunden, sondern mindestens sechs Wochen nicht gesehen hätte. Täglich freute sie sich aufs neue mit ihr; wie ein Geschenk betrachtete sie die Schwester nach der Krankheit. Es war ihr jetzt ganz unfaßlich, daß sie es so lange im Badeort ohne sie ausgehalten hatte.

Marlene wiederum kannte Marienbad so genau, als ob sie selbst dort gewesen wäre; jede Einzelheit, auch die geringfügigste, mußte Lottes zweites Ich wissen. Die Begegnung mit der Erzherzogin ließ Marlenes Herz noch nachträglich schneller schlagen; Ilse war Feuer und Flamme dafür. Lotte wurde mit einem Male das Wundertier im Kreise der Freundinnen. Selbst Käthe Möllers Autogramm von Kainz konnte gegen die »leibhaftige Bonbonniere einer Prinzessin« nicht an. Es war eine hehre, feierliche Stunde, als die drei Schwestern im Verein mit Schwälbchen, die man zu diesem Werke einlud, dem hoheitlichen Konfekt untertänigst ein Ende machten. Bei jedem Pralinee gab Lotte in erhebender Rückerinnerung eine neue Auflage ihres Erlebnisses heraus; die anderen lauschten und schmausten ehrfurchtsvoll. Jetzt war von den Strahlen fürstlicher Huld nichts weiter übrig geblieben als der leere Kasten, in dem Lotte ihre Sparpfennige zum Weihnachtsfeste sammelte.

Auch sonst war nicht viel mehr als die alles verklärende Rückerinnerung an jene schönen Sommertage geblieben. Der Großonkel, der dort im Waldesgrün den Zauberstab der Natur an sein altes, festverschlossenes Herz hatte pochen fühlen und der, ob er wollte oder nicht, vereinzelt huschenden Sonnenstrahlen eine winzige Spalte zu seiner Herzenskammer hatte öffnen müssen, war jetzt wieder doppelt mürrisch und unnahbar. Er brummte und schalt von morgens bis abends; die Mädchen konnten ihm nichts recht machen.

Eines aber hatte sich Lotte aus jenen Sommertagen doch noch bewahrt; das war die rosige, frische Farbe ihres blühenden Antlitzes. »Schneeweiß und Rosenrot« nannte die zärtliche Hanni, die stets in ihren Märchenbüchern lebte, die großen Schwestern. Marlenes zarte weiße Gesichtsfarbe hob sich von Lottes Rosenwangen doppelt schneeig ab. Diese pflegte ihr Marlenchen, soviel sie nur konnte. Ihren eigenen Aufschnitt legte sie ihr heimlich aufs Brot, die Kaffeemilch beschränkte sie auf wenige Tropfen, damit Marlenchen noch ein halbes Glas zu trinken habe, wenn sie aus der Schneiderstunde heimkehrte. Jede Arbeit nahm sie ihr ab; sie hatte noch immer die Empfindung, als ob sie die Schwester damals durch ihren geheimen Wunsch, statt ihrer in die Welt reisen zu dürfen, um die Erholung gebracht habe.

Zärtlich, mit fast mütterlicher Fürsorge, wärmte sie auch heute abend die eiskalten Finger der Heimkehrenden in ihren warmen Händen.

»Marlenchen, du bist ja ganz erstarrt! Das macht der entsetzliche Sturm. Deine Milch ist schon heiß – komm, trink schnell ein Glas!«

»Ich habe Rudi gesprochen,« gab Marlene statt jeder Antwort zurück.

»Bst!« – Lotte legte den Finger auf den Mund und wies auf die Glastür zur Küche, hinter deren heller Gardine ein großer breiter und ein kleiner schmaler Schatten auftauchten. Frau Tann bereitete dort mit Hanni das Abendbrot.

Lottes Neugier und Marlenes Wunsch, sich auszusprechen, wurden heute auf eine harte Probe gestellt.

Bei Tisch versuchte Lotte allerdings, sich wie so oft durch Zeichensprache mit Marlene zu verständigen. Wenn der Großonkel besonders vertieft in seine Mahlzeit war und Frau Tann in das Zusammenschmelzen ihrer Vorräte, glückte es auch meistens.

Heute war Onkel Heinrich beim Essen nicht besonders andächtig gestimmt. Die ächzende Melodie des Sturmwindes tönte noch in seinem Innern nach; das Wetter legte sich ihm auf die Knochen, wie er sagte. Lotte, die, durch Marlenes Andeutungen zerstreut, das Teesieb vergessen hatte und dem Onkel gedankenvoll sein Glas mit lustig umherschwimmenden braunen Blättchen füllte, hätte beinahe das kochende Getränk über die Hände bekommen, wenn sie nicht plötzlich zur Seite getreten wäre; so ungestüm stieß er es zurück.

Der Teekessel über der blauen Spiritusflamme summte traulich, der große Kachelofen strömte behagliche Wärme aus, und die Gasflamme erstrahlte in milder Helle. Trotzdem erschien den fünf um den Tisch Sitzenden das Zimmer kalt und dunkel, denn die innere Wärme fehlte, die erst alles gemütlich macht.

Lotte saß vor ihrem Butterbrot und wirbelte ihre Hände wie Räder umeinander; das bedeutete den Buchstaben R. Dann formte sie die Finger geschickt zu einem lateinischen u, hob vielsagend den Daumen, und vollendete den geheimnisvollen Namen durch das aus beiden Zeigefingern gebildete i. Marlene nickte verständnisinnig. Nun griff Lotte an ihren Ellbogen, tippte sich weltverloren auf die Nase und – – –

»Ja, Mädchen, bist du übergeschnappt oder plötzlich taubstumm geworden?« rief der Onkel, der ihrem Treiben mit erstaunten Augen schon eine Weile zugeschaut hatte.

Lotte senkte erschreckt den Kopf auf den Teller.

Doch der Schrecken hielt nicht lange an. Lotte begann aufs neue die ihr noch von der Schule her geläufige Zeichensprache. Sie mußte Näheres von Marlenes Begegnung erfahren. Ihre Daumen und Zeigefinger formten gerade den Buchstaben W

O weh, die Fingerspitzen waren gegen das Teeglas gestoßen! Es kippte um, und das heiße Getränk floß dem Großonkel über das Rührei und den braunen Schlafrock.

»Nun wird es mir aber zu stark!« Des Onkels Augen sprühten; ein derber Klaps brannte auf Lottes beweglichen Händen. Das war seine Fingersprache!

Lotte sprang mit blitzenden Augen so ungestüm vom Tisch auf, daß auch noch der Stuhl umfiel.

»Schlagen lasse ich mich nicht – ich bin kein Kind – ich bin ein erwachsenes Mädchen!« rief sie mit glühenden Wangen.

»Dann benimm dich auch so! Solange du in meinem Hause bist, erziehe ich dich, und wenn du zwanzig Jahre alt wärst!« Onkel Heinrichs Stirnader begann ebenfalls zu schwellen.

Vergebens suchte die zu Tode erschrockene Marlene die erregte Lotte zum Schweigen zu bringen. Auch Frau Tanns warnend erhobener Zeigefinger wurde nicht beachtet.

»Ich bleibe nicht hier – ich lasse mich nicht so – so unwürdig behandeln – ich gehe aus dem Haus –«

Lotte wußte nicht mehr, was sie sprach.

»Ja, aber noch in dieser Stunde! Mit dir bin ich fertig!« Mit flammenden Augen wies der Großonkel sie hinaus. »Das hat man von seiner Gutmütigkeit – Undank und Ärger.«

Nur Frau Tann hörte den erzürnten Herrn noch länger; Marlene und Hanni waren mit unterdrücktem Schluchzen bereits Lotte in die »Zelle« gefolgt.

Diese riß in ihrer Schublade, die ohnedies nicht gerade mustergültig aussah, die Sachen durcheinander. Zwei Taschentücher, das Poesiealbum, die erzherzogliche Bonbonniere und ihre Zahnbürste, das hielt sie vorerst für die unentbehrlichsten Gegenstände. In stummer Erbitterung schlug sie alles in einen Zeitungsbogen.

»Um Himmels willen, Lotte, du wirst doch nicht fortlaufen!« Marlene zitterte an allen Gliedern. »Du mußt den Onkel um Verzeihung bitten – du hast ihn durch deine ungezogenen Worte gereizt! Er wird sein Gebot zurücknehmen. Komm, Lotte, liebe Lotte, komm doch!« Marlene stand an der Tür und versuchte Lotte mitzuzerren.

Die griff mit finsterer Entschlossenheit nach ihrem Hut.

»Ich gehe,« sagte sie mit Grabesstimme. »Lieber beiße ich mir die Zunge ab, als daß ich um Entschuldigung bitte, wo man mich mit Füßen getreten hat.«

Da hing sich klein Hanni an den Hals der Schwester.

»Rosenrot« – selbst in diesem Augenblick gebrauchte die weinende Kinderstimme den Kosenamen – »lauf nicht fort – laß uns nicht allein hier – bleib bei uns, ja?«

Aber Lotte schüttelte stumm den Kopf.

Der Hut saß ihr schief auf den Flechten, der Mantel blieb ungeknöpft und ein Handschuh nahm bei dem eiligen Lauf reißaus. Sie achtete es nicht. Ihre Habseligkeiten im Arm, stürmte sie zur Tür hinaus, an Frau Tann vorüber, die sie vergeblich zurückhalten wollte.

Marlene griff schluchzend ebenfalls nach Hut und Jackett. Sie ließ ihre Lotte nicht allein; sie war die Ältere und Verständigere und mußte sie behüten. So jämmerlich Hanni auch weinte, Schneeweiß folgte Rosenrot hinaus in Nacht und Wind. Bums – flog das Tor des grauen Hauses hinter den Schwestern zu.

Der alte Mann droben in seinem Zimmer läutete Sturm. Lief das heißblütige Mädchen etwa wirklich, anstatt um Verzeihung zu bitten, davon – – –?

Frau Tann erschien mit verstörtem Gesicht auf der Schwelle.

»Charlotte soll, wenn sie wieder zur Besinnung gelangt ist und sich entschuldigen will, zu mir kommen.«

»Ach, Herr Grimm – Lotte ist fort, und Marlene hinterdrein – himmlischer Vater, wenn unseren Kindern nur nichts zustößt!« Frau Tann fühlte jetzt doch, wie sehr ihr die Mädchen ans Herz gewachsen waren.

»Lassen Sie das alberne Geflenne – die werden schon wiederkommen!«

Aber es war dem alten Herrn trotz seines rauhen Tones nicht wohl zumute. Er schritt vom Fenster zur Tür und von der Tür zum Fenster, auf, ab, auf, ab. Fast neun Uhr war es, stockdunkel draußen, und er, er hatte das junge Ding zu so später Stunde aus dem Hause gewiesen!

Die Selbstvorwürfe kamen und peinigten den alten Mann. Sie hockten in den dunklen Ecken des Zimmers, krochen aus den tiefen Schatten der Möbel und sahen ihm mit ernsten Augen über die Schulter, als er endlich, um den Quälgeistern zu entgehen, wie allabendlich zu seiner Zeitung griff. Er lauschte ... nichts, nur das Heulen des Novembersturmes und das gedämpfte Weinen klein Hannis!

Lotte irrte inzwischen ziellos durch die Straßen, und immer fünf Schritt hinter ihr, wie ihr getreuer Schatten, Marlenchen. Der Sturm, der an den Flechten und Kleidern riß, tat dem Brausekopf wohl. Lotte ballte die Hände. Ach, sich auch so austoben können, allen Schmerz und alle Demütigung so hinausschreien können in die Lüfte!

Von dem alten Dom hallten neun Schläge hernieder. Lotte verlangsamte den eilenden Schritt. Sie stand im Lustgarten an der großen Granitschale, um die sie sich als Kind so oft jauchzend gejagt hatte. Vorbei waren die Kindertage; einsam und verlassen stand sie jetzt da bei der trübseligen Beleuchtung einer Gaslaterne. Ganz allein! Die krampfhaft zurückgedrängten Tränen strömten nun doch über die erhitzten Wangen.

Da legte sich ihr eine Hand auf die Schulter. Marlenes bleiches Gesicht preßte sich liebevoll gegen Lottes glühendes.

»Lotte, meine Lotte, ich lasse dich nicht allein, ich bleibe bei dir – sag nur eins, wo du eigentlich hin willst!« Marlenes Stimme klang angstgepreßt.

»Irgendwo – in die weite Welt –« Lotte stieß es mit dumpfem Ton hervor. Dann griff sie nach Marlenes Hand. Ach, wie wohl das tat, ein treues Schwesterherz sich nahe zu wissen, nicht ganz verlassen zu sein!

»Du kannst doch nicht über Nacht auf der Straße bleiben! Komm mit nach Haus und schlafe erst mal – morgen kannst du ja noch immer davonlaufen,« stellte Marlene flehentlich vor.

Lotte irrte ziellos durch die Straßen; hinter ihr, wie ihr getreuer Schatten, Marlenchen.

Lotte riß sich jäh los.

»Nein, ich lasse mich nicht knechten!« rief sie mit sprechendem Blick und rannte auf das alte, ehrwürdige Kaiserschloß los, als ob sie das zu ihrer nächsten Zufluchtstätte auserkoren hätte.

»Lotte, wo willst du hin?« Marlene jagte wieder hinter ihr her.

Ja, wenn Lotte das nur selbst gewußt hätte!

»Zu Onkel Theodor!« Gleich einer plötzlichen Eingebung durchfuhr es sie. Das milde Bild des verehrten Onkels ließ auch ihr aufrührerisches Blut ruhiger fließen.

»Nein, nein« – Marlene, die bei weitem reifere, fühlte es, der Bruch mit dem Großonkel würde dadurch unheilbar werden – »nein, Lotte, komm ins Schwalbennest!«

Das Schwalbennest! Daß sie auch in ihrer Aufregung nicht eher daran gedacht hatte! Wie ein rettendes Eiland im brandenden Ozean, so tauchte es vor Lotte auf.

Über die Brücke gingen sie, wo der Wind die schwarzen Wasser der Spree gegen die steinernen Brückenpfeiler peitschte, die stille Straße hinauf – gottlob, im Schwalbennest war Licht!

Die mit rotem Gazeschleier verhängte Lampe bestrahlte den friedlichen Familienkreis. An dem runden Tisch in der einen Ecke des altmodischen roten Plüschsofas lehnte Papa Schwalbe; er war bei seiner Abendzeitung ein wenig eingenickt. In der anderen Ecke saß Ilses Mutter. Ihre fleißigen Finger häkelten Gardinenstreifen; sie lauschte dem Spiel ihrer beiden Söhne. Fritz und Ernst spielten ein Mozartsches Duett, während Ilse, die Zeigefinger in die Ohren gestopft, ganz vertieft in ein Mädchenbuch war.

Da klingelte es. Niemand ließ sich in seiner Beschäftigung stören; es war nichts Ungewöhnliches, daß zu so später Stunde noch dieser oder jener im Schwalbennest vorsprach.

Plötzlich sprang Ilse mit einem Jubellaut auf; sie hatte die Stimmen erkannt. Das Spiel brach ab. Papa Schwalbe rieb sich erstaunt die Augen; die Mutter aber blickte mit besorgten Blicken auf die eintretenden Schwestern. Sie merkte gleich, daß da nicht alles in Ordnung war.

»Frau Schwalbe – liebe Frau Schwalbe, wollen Sie mich über Nacht hier behalten? Ich kann bei Ilse auf der Chaiselongue schlafen – meine Zahnbürste habe ich mit,« sprudelte Lotte hervor, ohne ›Guten Abend‹ zu sagen.

»Ja – au, fein!« Schwälbchen flog der Freundin glückstrahlend an den Hals.

»Kinder, was ist geschehen?« Vor dem erschreckten Ton der Mutter verstummte Ilses Freude.

»Der Großonkel hat – der – der Onkel hat mich fortgejagt,« schluchzte Lotte jetzt auf.

»Na, da soll doch aber –« Herr Schwalbe schob mit kräftigem Ruck die Brille hoch. Ilse machte entsetzte Augen, die Brüder empörte Mienen. Frau Schwalbe aber fragte in vorwurfsvollem Ton: »Was hast du dir zuschulden kommen lassen, Lotte?«

»Ich – gar nichts – wirklich gar nichts – Zeichensprache habe ich heimlich mit Marlenchen bei Tisch gemacht und da – da – – –« Sie schämte sich vor Ilses Brüdern der ihr widerfahrenen schmählichen Behandlung.

»Das wird doch nicht alles sein, Kind?« Wie ernst Frau Schwalbes liebes Gesicht heute aussah!

»Nein – da – der Onkel – da hat er mich verwichst,« stieß Lotte jetzt mit dem Mut der Verzweiflung hervor.

»Onkel Heinrich hat ihr ja nur einen Klaps auf die Hand gegeben,« mischte sich Marlene nun begütigend ein. »Aber das hat Lotte so schrecklich übel genommen und gleich gerufen, daß sie nicht länger im Hause bleibt, und da – na ja, da hat der Großonkel ihr denn auch die Tür gewiesen.« Marlene zitterte noch in Erinnerung an jene aufregenden Sekunden.

»Und das lasse ich mir nicht gefallen – ich bin doch keine dumme Jöre mehr!« Lotte war wieder Feuer und Flamme.

»Natürlich,« pflichtete Ilse bei, »wir sind doch bald sechzehn – so was darf man sich nicht mehr bieten lassen – das ist man seiner Würde schuldig!«

Die Brüder lachten trotz des Ernstes der Lage laut auf über Ilse, die im Vollgefühl ihrer Würde bereits wie gewöhnlich auf den Zehenspitzen stand.

Frau Schwalbe aber legte den Arm um die erregte Lotte.

»Komm, Kind, wir unterhalten uns drin im Zimmer der beiden Mädel weiter über die Sache. Was wir zwei uns zu sagen haben, brauchen die anderen nicht zu hören.« Sie führte das junge Mädchen in die Nebenstube, wo Gerda mit geröteten Wangen in gesundem Kinderschlaf lag.

Lottes Herz wurde beim Anblick des Kindes weich. Was mochte klein Hanni ohne die großen Schwestern machen?

Ilse strengte vergeblich ihre Ohren bis zum äußersten an; nur gedämpfte Laute kamen durch die geschlossene Tür. Es war ja himmelschreiend – Lotte, die schon bald ein Jahr aus der Schule war, wurde noch »vertobakt«!

»Ich tu's nicht – ich kann es nicht – abbitten ist charakterlos!« Das war Lottes Stimme.

Nun ertönte die beruhigende Stimme der Mutter.

»Unehrerbietiges Wesen – Undankbarkeit – alter Mann – schwer gereizt –« Ilse verstand nur diese einzelnen Worte.

Aber als sie sich eben näher zur Tür pirschen wollte, trotzdem Horchen eigentlich auch unwürdig war, wurde diese geöffnet. Die Mutter erschien mit der ziemlich geknickt aussehenden Freundin. Frau Schwalbe hatte bereits einen Hut auf.

»Lotte hat eingesehen, daß sie den Großonkel um Verzeihung bitten muß; ich bringe die Mädel selbst heim. Wenn wir uns beeilen, kommen wir noch vor zehn Uhr ins Haus.«

Marlene drückte Frau Schwalbe in stummem Dank die Hand. Es war doch wunderbar: im Schwalbennest wurde alles, alles wieder gut!

Ilse aber war durchaus nicht mit der Entwicklung der Dinge einverstanden. Sie hatte sich schon darauf gefreut, mit Lotte zusammen hausen zu können und außerdem für Umverzeihungbitten war auch das Schwälbchen nicht.

Aber ob Ilse auch noch so sehr ihren Mund verzog, es half nichts. Die Mutter fuhr mit den Freundinnen davon, und Mozarts süße Klänge zogen bald wieder durch das friedliche Schwalbennest.

Im grauen Haus sah es weniger friedlich aus. Der Großonkel schritt voll innerer Unruhe von einem Zimmer ins andere; er machte sich die heftigsten Vorwürfe. Gleich war es zehn Uhr! Sie kamen nicht mehr – wo mochten sie nur sein? Wenn ihnen etwas widerfuhr! Er war doch verantwortlich für die jungen Mädchen!

Im Eßzimmer trug Frau Tann die Ausgaben in das Wirtschaftsbuch ein, ohne dabei ein einziges Mal über die Höhe zu seufzen. Wenn die Mädel nur erst wieder da wären, und wenn sie noch viel mehr Brot und Butter vertilgen würden!

Hinten in der Zelle hatte sich Hanni endlich in den Schlaf geweint. Eine dicke Träne hing noch an ihren langen, seidenweichen Wimpern. Sie träumte von Schneeweiß und Rosenrot. Bald trug der Bär und bald der Zwerg die erzürnten Züge des Großonkels – Hanni warf sich angstvoll hin und her.

Die Türklingel schrillte durch die Stille. Frau Tann ging eilig hinaus. Der Großonkel öffnete lauschend seine Tür.

Das waren sie! Er hörte es an Frau Tanns erleichtertem, scherzhaftem Schelten, und nun standen sie vor ihm, aber nicht allein.

»Da bringe ich Ihnen die beiden Auswanderer zurück, Herr Grimm, und möchte Sie in Lottes Namen bitten, sie wieder in Gnaden anzunehmen,« sagte Frau Schwalbe.

Der Großonkel blickte mit gefurchter Stirn auf die langsam näher kommende Lotte. Er hatte es bereits vergessen, wie sehr er noch eben um ihr Ausbleiben besorgt war.

»Onkel Heinrich, ich war so erregt – ich – es tut mir sehr leid –« Das war das Höchste, wozu sich Lotte aufschwingen konnte. Ohne Frau Schwalbes Gegenwart wäre es auch wohl noch nicht einmal das geworden.

»Schon gut schon gut« – der Onkel winkte ab – »wir wollen die Sache lieber ruhen lassen! Meinen verbindlichsten Dank, gnädige Frau, für Ihre freundschaftliche Liebenswürdigkeit.«

Ilses Mutter verabschiedete sich, und Marlene und Lotte verschwanden so schnell als möglich in ihre »Zelle«. Taschentücher, Poesiealbum, Bonbonniere und Zahnbürste wanderten wieder in ihre frühere Behausung zurück, und die beiden Schwestern ins Bett.

Bald lag das graue Haus still und dunkel da. Nur der Sturm tobte um seine Mauern. Er heulte im Schornstein und sang Schneeweiß und Rosenrot sein Schlummerlied.


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