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Ein glühendes Staubnetz hatte die Großstadt eingesponnen. Milliarden von Stäubchen wirbelten in dem blendenden Sonnenglast, der wochenlang sengend in den Plätzen und Straßen Berlins brütete. Wer es sich leisten konnte, war hinausgeflüchtet zu frischem Grün und harzduftenden Wäldern. Aber die weniger glücklichen Sterblichen schmachteten nach dem ersten Regentropfen und sahen immer wieder zu dem unbewegt blauen Himmel empor, an dem nicht das geringste Wölkchen sich zeigen wollte.
Auch das Schwalbennest stand leer, denn Schwälbchen war mit den Eltern und Geschwistern in das Riesengebirge geflogen. Lustige Grüße aus Rübezahls Reich flatterten in das graue Haus. Aber sie zeigten Marlene und Lotte nur um so mehr, wie einsam und verlassen sie jetzt in der Millionenstadt waren.
Auch die drei Schwestern hatten ihre Sommerwohnung bezogen. Das war das Blumenbrett draußen am Küchenfenster, auf dem Frau Tann Petersilie und Schnittlauch anpflanzte. Man sah von dort nur auf schwarze verräucherte Dächer und qualmige Schornsteine; ab und zu strich ein einsam maunzender Kater seines Weges. Dort verzehrten sie jeden Abend ihre Radieschenbrote; mehr spendete Frau Tann jetzt nicht, da der Großonkel verreist war.
Die Mädel hatten sich zu früh über des Onkels langes Fernsein gefreut; Frau Tann hielt sie womöglich noch strenger als zuvor. Sie erlaubte ihnen nicht die geringste Abweichung von dem alltäglichen Programm, und jede Woche ging ein ausführlicher Bericht von ihr an den Großonkel ab. Aber auch Marlene mußte ihm regelmäßig Nachricht geben, da der mißtrauische alte Mann zu niemand volles Vertrauen hatte.
Jeden Morgen ging Marlene in das stickige Schneideratelier, am anderen Ende der Stadt. Dort saß sie von morgens bis abends, eingepfercht mit acht anderen Mädchen, und nähte und stichelte, sann und träumte. Zum Schluß sagte das lustige, bucklige, kleine Fräulein Fischer, das der Schneiderstube vorstand, dann fast jedesmal: »Meister, ick bin fertig, kann ick trennen?« und ritschratsch, riß sie ihr die fehlerhafte Naht wieder auf.
Ja, Marlenchen, arbeiten und träumen, das taugt nicht zusammen! Eins kommt immer dabei zu kurz, und meistens – die Arbeit.
Manchmal glaubte Marlene in dem dunstigen Raum, in dem es einträchtig nach neuen Stoffen, nach Bügeleisen und Mittagskohl duftete, ersticken zu müssen. Je glühender die Temperatur wurde, um so unerträglicher wurde ihr der Aufenthalt.
An einem schwülen Sommerabend war es. Die dürftigen Lindenbäume längs der lebhaften Verkehrsstraße hauchten ihren süßen reinen Duft in die dicke, staubige Großstadtatmosphäre, als ob sie Mitleid hätten mit den armen, von des Tages Arbeit Heimkehrenden; als ob sie ihnen einen Gruß aus einer ihnen verschlossenen Welt zusäuseln wollten.
Marlene blieb einen Augenblick stehen. Ihre Lippen öffneten sich durstig. Nach der unerträglichen Temperatur der Schneiderstube empfand sie den holden Blütenduft wie ein Labsal.
Da wurde neben ihr die Tür eines Bankgeschäfts geöffnet; eine Anzahl junger Leute strömte heraus. Bewundernd blickten sie auf das blasse, blonde Mädchen. Marlene schritt rasch zu, aber so schnell sie auch ging, ein Schritt hallte stets hinter ihr. Jetzt kam er näher; nun war er neben ihr. Marlene blickte sich verängstigt um, ob nicht eine Pferdebahn käme, auf die sie springen könnte.
»Also doch – Marlene – aber Marlenchen, was läufst du denn vor mir davon?«
Das junge Mädchen blieb aufatmend stehen. Das war Rudis Stimme, das waren seine braunen Augen, die ihr aus dem schmalen Gesicht in freudiger Überraschung zulächelten.
»Kind, wie kann man nur so nervös sein? Du zitterst ja doch wie Espenlaub! Nun erzähle mir mal bloß, wie du dich hier in diese Gegend verirrt hast.«
Er wollte kameradschaftlich ihren Arm durch den seinen ziehen. Aber Marlene entzog ihm jäh den ihren.
»Nein – nein – ich darf doch nicht – wenn uns jemand sieht –«
Rudi runzelte die Stirn.
»Vielleicht jener feine junge Herr aus eurem Boot neulich? Wer war denn der?«
Hätte Marlenchen etwas mehr Menschenkenntnis besessen, dann hätte sie deutlich das Interesse aus Rudis Worten herausgehört. So aber empfand sie nur den verletzenden Spott.
»Das war ein Neffe vom Großenkel, ein sehr netter Vetter, der so gut zu uns war – so gut –«
»Wie ich schlecht zu dir bin, nicht wahr? Das wolltest du doch sagen,« fiel ihr Rudi gereizt ins Wort. »Ich will dich in deiner Begeisterung für den neuen Vetter nicht stören!«
Ehe sie noch ein Wort entgegnen konnte, hatte er seinen weichen grauen Hut gezogen und schritt eilig davon.
Durch einen Tränenschleier sah Marlene seine schlanke Gestalt sich immer weiter und weiter von ihr entfernen. Hatten die Lindenbäume nicht plötzlich all ihren süßen Duft verloren? Langsam schlich sie heimwärts, dem grauen Hause zu.
Am nächsten Tage hatte das bucklige Fräulein Fischer von morgens bis abends Grund zur Unzufriedenheit mit Marlene. Sie machte alles verkehrt.
Sollte sie am Abend nach Hause fahren oder wie gewöhnlich den Heimweg in der kühleren Abendluft als einzige Erholung des Tages genießen? Aber ihr Weg führte an Rudis Geschäft vorbei, wie sie jetzt wußte. Wenn sie ihn wieder traf ...? Sie durfte dem Großonkel nicht wissentlich ungehorsam sein! – Wenn Rudi wieder so schroff zu ihr war wie gestern ...? Ihre Mimosennatur zog sich ganz in sich zusammen.
Endlich Feierabend!
Einen einzigen hastigen Blick warf Marlene beim Heimweg nach dem Bankgeschäft hinüber – sie konnte sich doch nicht dazu entschließen, auf derselben Seite zu gehen – da stand schon Vetter Rudi mit wartenden Augen in der Tür. Im nächsten Augenblick war er an ihrer Seite.
»Marlenchen!« Er streckte ihr die Hand hin und sagte nichts weiter. Aber seine Augen sprachen für ihn; die erzählten Marlene, wie leid ihm sein gestriges ungestümes Aufbrausen tat, und bettelten, wieder gut zu sein.
Zartes Rot färbte ihre Wangen; ihre Lippen lächelten wieder. War das heute ein Blühen und Duften in der Luft wie von Milliarden Lindenblüten!
Auch Rudi empfand es.
»Marlene, wenn ich den Lindenduft malen sollte, so würde ich ihn in dir verkörpern.« Sein Künstlerauge hing an ihrem weichen Gesicht.
Marlene schwieg verlegen. Lotte hätte sicherlich gleich eine scherzhafte Entgegnung bei der Hand gehabt; ihr fiel alles immer erst hinterher ein.
»Nun erzähle aber mal erst, wieso du jeden Abend an meinem Geschäft vorübergehst,« sagte der Vetter jetzt wieder in seiner alten neckenden Art.
Marlene gab Auskunft. Bald wußte Rudi Bescheid und hörte zwischen ihren klaglosen Worten heraus, wie wenig ihr die neue Tätigkeit in der ungebildeten Umgebung zusagte.
»Ganz wie bei uns,« murmelte er; dann setzte er gleich in frischerem Tone hinzu: »Mach's wie ich, Marlenchen! Siehst du, mir erscheint es je länger um so unmöglicher, mich mit dem toten Zahlensystem anzufreunden. Über kurz oder lang werfe ich doch die ganze Geschichte über Bord.«
Marlene blieb erschreckt stehen.
»Aber Rudi, was werden deine Eltern dazu sagen? Du bist doch schon fünfundzwanzig Jahre alt – du kannst doch nicht wieder von vorn anfangen!« Ihre blauen Augen sahen ihn voll Besorgnis an.
»Ich besuche bereits seit einigen Jahren abends nach Geschäftschluß noch die Kunstschule, um nicht aus der Übung im Zeichnen zu kommen; nächstens muß es sich entscheiden, so – oder so –!« Er sah finster vor sich hin.
Da strichen schüchterne Finger über seine geballte, herabhängende Rechte. Es ging dieselbe Besänftigung von diesen schlanken Mädchenfingern aus, wie früher von dem winzigen Kinderhändchen, das so oft die trotzig geballte Jungenfaust gefügig gemacht hatte. Rudis Augen bekamen wieder ihren warmen freundlichen Schimmer.
»Mach dir nur meinethalben nicht auch noch Sorgen, Kindchen! Du hast gerade genug an euren eigenen. Wir wollen uns den schönen Abend nicht verderben. Also viermal des Tages kann ich jetzt mein blondes Cousinchen treffen, wenn ich sonst Neigung dazu verspüre? Hurra!« Er schien nicht übel Lust zu haben, seinen weichen Filz wie ein übermütiger Schuljunge in die Luft zu werfen.
Da bat Marlene den Vetter mit stockender Stimme, künftig nicht mehr mit ihr zu sprechen; sie könne den Großonkel, von dem sie Gutes empfange, nicht betrügen. Ängstlich sah sie ihm ins Gesicht; nun würde er wieder auffahren.
Rudis blasse Züge hatten sich mit jähem Rot bedeckt.
»Ist das dein Ernst?« stieß er hervor.
Marlene neigte stumm den Blondkopf.
»Dann – dann – ja dann –« Er machte erregt einige hastige Schritte vorwärts, als ob er wieder davonstürmen wollte. Aber Marlene blieb an seiner Seite.
»Mach mir doch, was sein muß, nicht so schwer, Rudi,« bat sie leise.
Er hemmte den Schritt. »Kindskopf – muß es denn sein?«
Sie nickte betrübt.
»Also dann – du sollst mich nicht umsonst um etwas bitten, Marlenchen! Hier meine Hand, ich kenne dich künftig nicht mehr.«
»Auch nicht grüßen?« fragte sie erschreckt.
Er sah in den lichtgrünen Abendhimmel.
»Nein – wir werden künftig wie Fremde aneinander vorübergehen; du willst es ja so. Nur wenn etwas ganz besonders Wichtiges vorliegt, werde ich mir erlauben, wieder deine Bekanntschaft zu machen.« Er zwinkerte mit dem linken Auge so eigentümlich, daß Marlene merkte, daß er sie schon wieder ein wenig neckte. Aber jetzt ließ sie es sich gern gefallen.
Rudi hielt Wort. Sie trafen sich oft, aber meistens ging er hüben und Marlenchen drüben. Er grüßte sie nicht; bloß ihre Blicke spazierten, ihren Besitzern zum Trotz, über den Straßendamm und grüßten einander.
Nur bei ganz wichtigen Veranlassungen brach Rudi das Schweigen: wenn Marlene mal besonders bleich und müde aus der Schneiderstube in die lähmende Hitze hinaustrat, oder wenn er eine besonders schöne Rose in der Hand hielt, die er lieber an ihrem Gürtel gesehen hätte.
Die Julischwüle steigerte sich ins Unerträgliche; in der niedrigen Schneiderstube war es zum Ersticken. Doch die Mädchen schwiegen trotzdem keinen Augenblick still. Es war nach dem Sonntag; da hatte jede etwas zu erzählen. Alle waren sie hinausgeflogen aus den Stadtmauern. Die meisten waren auf dem Dampfer nach der Oberspree gegondelt, hatten gewürfelt, geschaukelt und trotz Sonnenglut getanzt. Mit blanken Augen begannen sie wieder den Werkeltag.
Auch Marlene war mit den Schwestern hinausgefahren – zum Kirchhof, wo der dunkle Efeu Väterchens Grab schon zu umwuchern begann. Dort hatten die drei Waisenkinder gesessen, das Unkraut aus den braunen Erdschollen gezupft und still zugeschaut, wie die Goldbuchstaben auf der Mutter Grabstein im hellen Sonnenglanz flimmerten.
Marlenes Trauer war ruhig und tief. Hanni weinte befreiende Kindertränen; nur in Lottes Brust wogte und stürmte es.
»Väterchen – du armes Väterchen mußt noch immer ohne Grabstein schlafen,« hatte sie mit erstickter Stimme gemurmelt. Dann hatten die beiden Großen ihre Sparpfennige herausgezogen, gezählt und gerechnet, wie lange es wohl noch dauern würde, bis sie die Summe für des Vaters Grabstein zusammen hatten.
»Ich bitte Onkel Theodor, uns das Geld vorzustrecken,« hatte Lotte wohl schon zum hundertsten Male geäußert. Dennoch unterblieb es stets. Wenn es Onkel Theodor möglich gewesen wäre, dann hätte er es schon von selbst getan.
Daran dachte Marlene, als sie heute besonders matt und abgespannt auf die abendliche Straße hinaustrat. Sie fühlte sich so teilnahmlos, daß sie nicht einmal Freude empfand, als Rudis lange Gestalt mit stummem Gruß an der gewohnten Stelle auftauchte. Droschken, vollgepfropft mit Koffern, Körben, Schachteln und Bettsäcken, rollten an ihr vorüber; reiselustige, erwartungsvolle Gesichter lugten daraus hervor. Dann kamen wieder sonnengebräunte Antlitze, rosige Wangen und klare Augen; das waren die Zurückkehrenden, die mit frischen Kräften einrückten.
Heute bevölkerte sich ja auch das Schwalbennest wieder. Wie sehnte sich Marlene danach, dort ihr Herz auszuschütten, ihre mütterliche Freundin zu fragen, ob es unrecht von ihr sei, daß sie dem Vetter nicht noch mehr aus dem Wege ging! Vier Wochen lang hatte Ilse in der Ferne geweilt.
Ach, wer doch auch hinaus könnte! Zu rauschenden Gipfeln und murmelnden Quellen, zu jubilierenden Waldvöglein und gaukelnden Schmetterlingen –
»Jroßet Mächen, sperr doch de Ogen uff! Kannste denn nich kieken?« Jäh rissen diese Worte Marlenchen aus ihren Waldesträumen. Eine Peitsche knallte ihr vor den Ohren; bei einem Haar wäre sie unter den Schlächterwagen geraten.
Daheim kam ihr Lotte bis auf die Treppe in größter Aufregung entgegengelaufen.
»Marlenchen« – ihre Worte überstürzten sich, »du sollst fort – nach Marienbad sollst du reisen – zum Großonkel – schon bald – hier ist der Brief!«
Sie zog die Schwester in das Sommerwohnungküchenfenster hinaus, wo Hanni und die Butterbrote ihrer harrten.
Eng umschlungen studierten sie in der lichten Abenddämmerung des Onkels steife Schriftzüge. Der Brief war aus Marienbad, wohin sich der Großonkel von Wiesbaden begeben hatte, und an Frau Tann gerichtet. Auf der ersten Seite war nur von Sparen und Einschränken die Rede.
»Wäsche wird nicht mehr aus dem Haus gegeben; Charlotte und Johanna, die ja jetzt Ferien hat, mögen sie besorgen. Arbeit macht groß und kräftig,« hieß es darin, und dann weiter: »Ich wünsche, daß eines der Mädchen zu meiner Gesellschaft und Bedienung hierher kommt, möglichst morgen oder übermorgen schon. Da Marlene die älteste ist, mag sie es sein. Ich müßte mir sonst hier eine Fremde nehmen, und das kostet mehr als das Reisegeld. Die Gicht plagt mich wieder sehr. Neuanschaffungen für die Reise sind natürlich ausgeschlossen; Fahrgeld für die III. Klasse schicke ich gleichzeitig.« Dann folgte der unleserliche Namenszug.
Marlene saß ganz betäubt. War es nicht wie im Märchen? Eben hatte sie noch den heimlichen Wunsch gehegt, und schon ging er in Erfüllung? Wie kam es nur, daß sie sich auch nicht ein bißchen darüber freuen konnte?
Lotte und Hanni – ja, das war es sicher: zum ersten Male im Leben sollte sie sich von den Schwestern trennen! Fest schlang sie die Arme um ihre beiden liebsten Menschen und preßte den goldbraunen und den dunklen Kopf gegen ihre Brust.
Lotte jubelte. Sie dachte nicht daran, wie einsam und verlassen sie jetzt wochenlang ohne ihr zweites Ich sein würde, sondern nur, wie gut ihrem blassen Marlenchen ein Herauskommen tun werde. Sie malte ihr das Leben in dem feinen Badeort in leuchtendsten Farben.
Marlene nickte trübselig.
»Das ist ja alles recht schön, Lotte, wenn es nur nicht mit dem Großonkel zusammen wäre! Ich werde ja gar nicht wagen, den Mund aufzutun. Aus Angst, daß ich etwas falsch machen könnte, wird sicher alles ganz verkehrt – paß mal auf!«
Aber Lotte verstand, ihr diese unbestimmte Angst auszureden.
Nach und nach schwand der Druck von der jungen Mädchenseele. Blinkende Sternlein zogen am samtblauen Nachthimmel auf und sahen auf die leise flüsternden Schwestern hinab.
Frau Tann entwickelte am nächsten Tag eine fieberhafte Tätigkeit. Als Vogelscheuche sollte ihr Pflegling in dem feinen Weltbade nicht einhergehen; was verstand denn so ein Herr davon! Dem Sonntagskleid war Marlene entwachsen. Der lange, dünne Backfisch war tüchtig in die Breite gegangen, hatte eine recht hübsche Figur bekommen. Durch die Trauer verbot sich ja jeder Luxus von selbst, aber sie mußte doch wenigstens ein anständiges Kleid haben, wenn sie mit dem Onkel auf die Kurpromenade ging. Hatte er A gesagt, mußte er auch B sagen! Frau Tann nahm das auf ihre Kappe.
Marlene wagte es gar nicht, sich so recht über ihre schönen neuen Sachen, das leichte Kreppkleid, den netten Matrosenhut und die derben festen Stiefelchen zu freuen. Was würde bloß der Großonkel zu ihrer teuren Bekleidung sagen!
Es war spät, als Marlene endlich abgehetzt heimkam. Sie hatte alle Besorgungen gewissenhaft erledigt, Fräulein Fischer um Urlaub gebeten und sich auch im Vorübergehen schnell von Rudi verabschiedet. Es hatte einen schweren Kampf gekostet, bis Marlene sich entschloß, heute selbst das erbetene Schweigen zu brechen; doch er und die lieben Verwandten sollten sich nicht um ihr Fernbleiben sorgen.
Rudis Freude darüber, daß das arme blasse Cousinchen ein wenig hinauskam, war rührend. Aber Marlene vermochte kaum mit ihm zu sprechen; die kochende Hitze in den Straßen preßte ihr den Kopf zusammen und lähmte vollständig ihre Denkkraft. Sie war froh, als sie endlich wieder zu Hause war.
Leichte weiße Flatterwölkchen waren hinten über dem großen schwarzen Fabrikschornstein aufgezogen.
»Wir bekommen heute nacht sicher noch ein Gewitter,« prophezeite Frau Tann, von einem Fenster zum anderen schlürfend. »Ich fühl's in meinem rechten Knie.«
Lotte und Hanni hatten sich neugierig auf Marlenes Pakete gestürzt. Die Kleine sah bei Frau Tanns Worten entsetzt auf und klammerte sich schutzsuchend an Lottes Arm; sie fürchtete sich gräßlich bei jedem Gewitter.
»Wunderhübsch, Marlenchen! Wie eine Prinzessin wirst du mit dem neuen Kleide aussehen. Ach, und der süße Hut, steht er mir?« Die eitle Lotte eilte bereits zum Spiegel. Nein, sah sie entzückend mit Marlenes Hut aus! Sie konnte sich an ihrem hübschen Spiegelbild nicht satt sehen, und plötzlich ertappte sie sich bei dem Gedanken: »Wenn du damit reisen dürftest!«
Sie merkte gar nicht, wie teilnahmlos Marlene dabei saß. Erst als sie auf alle Ausrufe und Fragen Lottes nur ein einsilbiges »Hm« antwortete, als sie nun das Abendbrot nicht anrührte, wurde Lotte aufmerksam.
»Marlenchen, fehlt dir was?«
Das junge Mädchen brach in ein unbegründetes Weinen aus.
Lotte war ratlos.
»Marlenchen, sprich doch – nur ein Wort! Tut dir was weh?«
Die Schwester nickte krampfhaft.
»Wo – wo denn bloß?«
Marlene machte eine Bewegung, die den ganzen Körper umfaßte.
»Frau Tann – liebe Frau Tann« – Lotte wurde in ihrer Angst sogar zärtlich – »ach, kommen Sie doch mal her! Marlene ist so seltsam – ich glaube bestimmt, sie ist krank!«
»Du siehst wohl Gespenster? Die Hitze ist dir am Ende zu Kopf gestiegen!« Frau Tann und Lotte hatten sich erst heute wieder mal miteinander »ausgesprochen«, wie Lotte sich ausdrückte, und lebten noch auf etwas gespanntem Fuße.
»Ich werde dir meinen Tee kochen.« Frau Tann hatte ein Universalmittel gegen Hals-, Leib-, Kopf-, Zahn- und Gliederschmerzen, Husten, Schnupfen und entzündete Finger; ganz gleich was es war, der Tee half eben immer.
Diesmal aber versagte seine wunderbare Heilkraft.
Frau Tann hatte sich frühzeitig zur Ruhe begeben. Heiß war es überall; im Bett empfand man es noch am wenigsten, und sie wollte schon über »alle Berge sein«, wenn das Gewitter ausbrach.
Bis spät in die Nacht war Lotte mit Marlenes Koffer beschäftigt. Hanni hatte trotz der Hitze das Deckbett über den Kopf gezogen und steckte ihn alle fünf Minuten furchtsam hervor mit der Frage, ob es schon blitze.
Marlene war unfähig, Lotte zur Hand zu gehen. Leise weinend kauerte sie auf einem Stuhl. »Ich kann nicht, Lotte ich kann nicht reisen! Mir ist so elend – ich habe solche Angst – es preßt mir förmlich die Kehle zu, wenn ich nur an morgen denke. Lotte, liebes Lottchen, reise du! Meine Sachen passen dir ja – reise du, Lotte!« Sie bebte an allen Gliedern.
Lotte brachte sie entschlossen ins Bett.
»Schlaf aus, mein Herz! Morgen ist alles wieder gut – schlaf, mein Marlenchen!« Wie sanft und zart die derbe Lotte plötzlich sprechen konnte!
Man kam aber nicht zur Ruhe in der »Zelle«.
Auch Lotte fand keinen Schlaf. Sie fühlte Gewissensbisse. Hatte sie Marlenchen um die Reise beneidet, daß die nun krank wurde?
»Ach, Unsinn – du bist übergeschnappt, Lotte,« sagte sie ärgerlich zu sich selbst.
Aber obgleich ihr gesunder Verstand die Lächerlichkeit dieser Vorstellung einsah, bekam die im Dunkel der Nacht doch immer wieder Macht über sie. Dann lauschte Lotte dazwischen auf das Stöhnen aus Marlenes Bett und strampelte aufgeregt alle Federn an das Fußende. Stickig heiß war es im Zimmer trotz des geöffneten Fensters. Lotte starrte mit brennenden Augen ins Dunkel. Nahm denn die Nacht kein Ende?
Da – der erste Blitzstrahl! Schwefelgelb lohte er zum Fenster herein. Hanni, die gerade das Näschen aus der Bettdecke steckte, fuhr mit lautem Geschrei zurück, vergrub sich in den tiefsten Tiefen ihres Bettes und verstopfte zum Überfluß auch noch beide Ohren mit den Bettzipfeln. Aber das wilde Krachen in den Lüften, das jetzt einsetzte, hätte selbst einen Toten zum Leben erweckt. Klein Hanni begann zu weinen; Lotte sprang aus dem Bett und schloß rasch das Fenster.
Auch Marlene setzte sich jäh in die Höhe. Aber mit einem lauten Schrei sank sie wieder zurück.
»Au – au – ich kann nicht – es tut so weh – so weh!«
Lotte wartete das darauffolgende Gewimmer gar nicht mehr ab; sie war bereits an Frau Tanns Tür, rüttelte und rüttelte, während draußen das Gewitter mit aller Kraft zum Ausbruch kam.
»Frau Tann« – der Donner verschlang ihre Worte – »Frau Tann, wachen Sie auf! Marlenchen hat solche Schmerzen – ich muß zum Arzt laufen.«
Als Frau Tann verschlafen blinzelnd ins Zimmer schlürfte und weitläufig ihrer Verwunderung Ausdruck geben wollte, daß ihr Tee nicht geholfen habe, schoß Lotte bereits mit gelösten Zöpfen an ihr vorüber, nahm den Schlüssel vom Brett und flog, ungeachtet der schwarzen Katze, die des Nachts auf der Treppe der Schrecken des ganzen Hauses war, in das Unwetter hinaus.
Prasselnd schlug der Gewitterregen hernieder und durchnäßte mit seinen schweren Tropfen im Augenblick die junge Gestalt. Das Wasser floß aus den goldbraunen Haarsträhnen; der Sturm riß an den eilig übergeworfenen Kleidern. So jagte sie über den Platz, die lange Straße hinunter, an dessen Ende Onkel Heinrichs Arzt, der alte Herr Rat, wohnte. Niemals war sie zu so später Stunde auf der Straße gewesen. Nun zog sie an der Nachtglocke des Arztes.
Gott sei Dank, er war zu Hause! Aber bis er all seine Instrumente zusammengepackt hatte, bis er endlich fertig war, ihr zu folgen – es waren nur wenige Minuten – Lotte erschienen sie doch wie eine Ewigkeit! Wie mochte es ihrem Marlenchen gehen?
Der alte freundliche Herr versuchte mit dem dahinstürmenden Backfischchen Schritt zu halten, aber seine Lunge erhob Einspruch.
»Fräulein Lotte, laufen Sie doch nicht so! Ich verliere ja den Atem! So schlimm wird es nicht sein, liebes Kind!«
Die menschenfreundliche Stimme übte eine wunderbare Beruhigung auf Lotte aus.
Aber als der Herr Rat nach eingehender Untersuchung umständlich seine Brille ins Futteral steckte und, sich räuspernd, sagte: »Ah – ja – Eis ist wohl im Hause? Wir werden gleich mit Eisumschlägen beginnen – die Blinddarmgegend ist stark empfindlich – wahrscheinlich Entzündung,« da mußte sich Lotte am nächsten Stuhl halten; der Boden schwankte unter ihren Füßen.
»Blinddarmentzündung?« Trudchen König, eine Mitschülerin, war vor einem Jahr binnen zwei Tagen dieser tückischen Krankheit erlegen – und jetzt Marlene – ihr Marlenchen –?!
»Na, Fräulein Lotte – nicht gleich ein Gesicht machen wie drei Tage Regenwetter! Kopf oben! Wir werden sie schon durchbringen. Morgen früh vor der Sprechstunde sehe ich wieder nach ihr.« Mit diesem Trost ging der Herr Rat.
»Ich werde die Umschläge machen – legt euch nur wieder ins Bett!« Gähnend und mißmutig schleppte Frau Tann Eis und Tücher herbei.
»Nein, Frau Tann,« bat Lotte eindringlich, »lassen Sie mich wachen und Marlenchen Umschläge machen! Ich könnte sowieso kein Auge zutun.«
Frau Tann versuchte keine Einwendungen. Es wäre ihr beschwerlich genug gewesen, das weiche Bett mit dem harten Stuhl zu vertauschen.
So saß denn Lotte die lange, bange Nacht neben dem Lager der schwer atmenden Schwester. Das Gewitter hatte nachgelassen, Hanni sich in den Schlaf geweint; der Regen prasselte gleichmäßig gegen die Fensterscheiben. Alle halbe Stunde schlich das Backfischchen zum Eisbehälter, die Umschläge zu erneuern, und jedesmal hing sein Blick mit unsagbarer Zärtlichkeit an dem fieberheißen Gesicht Marlenes.
Stille – alles still! Lotte hörte den leisen Pulsschlag der Zeit; sie fühlte, wie Sekunde um Sekunde verrauschte. Jede einzelne trennte sie vielleicht mehr und mehr von ihrer Marlene – nein, Gott war ja gut, war der Vater der Waisen! Er hatte ihr ja schon so viel genommen –
»Laß mir mein Marlenchen, lieber Gott, sonst muß ich auch sterben,« flüsterte sie und preßte Marlenes heiße Hand gegen die Lippen.
Eine schwere, schwere Nacht für die lustige, übermütige Lotte! Würde sie je wieder lachen können?
Da stand der Koffer, fix und fertig gepackt; er nahm in dem trüben Zitterschein des verhängten Lämpchens riesige Maße an. Drohend wie ein Spukgeist blickte er zu dem jungen Mädchen herüber.
»Ich will ja gar nicht in die Welt reisen – wirklich nicht – ich will ja nur mit Marlenchen wieder draußen auf dem Blumenbrett sitzen,« beteuerte Lotte unhörbar.
Graue Schatten umhuschten das graue Haus und schlichen sich in die »Zelle« mit trübem Morgengruß. Die Frühdämmerung blickte durchs Fenster. Ein grauer Regentag brach an.
Als der Arzt wieder kam, war das Fieber um einige Striche gefallen.
»Kann sie reisen?« fragte Frau Tann als erstes; die Angst vor Herrn Grimm war noch stärker als ihre Sorge für Marlene.
»Reisen?« Der sonst so höfliche Herr Rat tippte unwillkürlich gegen seine Stirn. »Wir wollen froh sein, wenn wir ohne Operation davonkommen.«
»Dann mußt du zum Großonkel, Lotte,« sagte Frau Tann bestimmt, als der Arzt gegangen war. »Wir dürfen den Onkel auf keinen Fall umsonst warten lassen.«
»Fällt mir nicht ein,« lautete die noch bestimmtere und recht ungehörige Antwort Lottes. »Es wird einfach abtelegraphiert; ich rühre mich nicht von meinem Marlenchen fort.«
Mit der ersten Post kam eine kurze Karte des Großonkels, daß er seiner Gicht wegen seit zwei Tagen festliegen müsse. »Geld zu nehmen versteht die Gesellschaft hier, aber kümmern will sich kein Mensch um einen. Ich erwarte Marlene mit dem nächsten Zug.«
Lotte sah Frau Tann an; sie wußte, was jetzt kommen würde.
»Unter diesen Umständen bist du wohl nicht herzlos genug, Lotte, den Onkel, dem du alles verdankst, einsam und krank in der Fremde liegen zu lassen,« sagte Frau Tann ernst.
Lotte neigte den Kopf. Es war ein schwerer Kampf für das junge Mädchen.
»Marlene hat mich hier zur Pflege, und zur Not auch Hanni; du selbst mußt wissen, wo deine nächste Pflicht liegt.« Frau Tann sprach ohne Schärfe, und zum erstenmal fanden ihre Worte den Weg zu Lottes Herzen.
»Frau Tann, liebe, gute Frau Tann« – die heißblütige Lotte fiel der erstaunten Frau plötzlich um den Hals und streichelte sie, was sie noch nie getan hatte – »pflegen Sie mir mein Marlenchen gesund – sorgen Sie für sie, Frau Tann! Es ist mir ja so entsetzlich, jetzt von ihr gehen zu müssen!«
Frau Tann, die, wie sie sagte, doch auch kein Herz von Stein hatte, versprach alles. Aber damit gab sich Lotte noch nicht zufrieden. Sie lief noch einmal zum Arzt und bat ihn, ihr die Wahrheit zu sagen, ob noch irgendwelche Gefahr vorliege.
»Augenblicklich wohl nicht,« war die nur halbwegs befriedigende Antwort, »aber es ist eine tückische Krankheit! Man muß eben nur das Beste hoffen!«
Da eilte Lotte wie gehetzt ins Schwalbennest. Das war das Wiedersehen, auf das die Freundinnen sich wochenlang gefreut hatten!
Ilse versprach ihrer Lotte, jeden Tag nach Marlene zu sehen und täglich ausführlichen Bericht zu geben. Frau Schwalbe aber ging gleich mit Lotte, um für die Kranke Sorge zu tragen. Jetzt erst war Lotte ein wenig beruhigt.
Dann gab sie ihrem Marlenchen, das so teilnahmlos dalag, den letzten Kuß. Würde sie die Schwester wiedersehen?
Sie wußte nicht, wie sie in den Eisenbahnzug kam; sie erblickte kaum die an der Waggontür stehende Hanni durch den dichten Tränenschleier. Dann rollte sie durch wasserschwere Landstriche in den trüben Regentag hinein, und ihre Augen tropften mit dem strömenden Himmel um die Wette.
So machte Lotte ihre erste Reise in die unbekannte Welt.