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Graue Tage folgten.
Gleich am nächsten Morgen, als Frau Tann schon um sechs Uhr mit spitzem, knöchernem Finger gegen die Verbindungstür pochte, und »Aufstehen – 's ist höchste Zeit!« hineinrief, begann die Pein. Lotte hatte zwar ziemlich ausgeschlafen; aber da sie erst um acht in der Schule sein mußte, war es gegen ihre Grundsätze, auch nur eine Sekunde vor drei Viertel sieben aufzustehen. Marlene wiederum hatte jeden Morgen einen neuen Kampf mit sich selbst auszufechten, ehe sie sich entschließen konnte, das warme Bett zu verlassen. Hanni endlich lag in traumlos festem Kinderschlaf.
»Soll ich die ganze Arbeit etwa allein machen?« Frau Tann, griesgrämig wie der schwarze Novembermorgen draußen, erschien in der Nachtjacke auf der Bildfläche, mit dünnem Haarzöpfchen und merkwürdig eingefallenem Munde. »Na, wird's bald? Was guckst du mich denn an wie die Katze den Kaiser?« fuhr sie Lotte an, die sie mit ungeheurer Verwunderung betrachtete. Wo hatte Frau Tann denn bloß ihre wunderschönen weißen Zähne?
Ehe Lotte indessen hinter dieses Rätsel gekommen war, fühlte sie bereits das Deckbett aufgeschlagen, und ohne auf den empörten Widerspruch des Backfischchens zu achten, zog Frau Tann es vollends aus den Federn. Dann spielte sich das gleiche mit der noch viel entsetzteren Marlene ab, die nicht anders glaubte, als der Böse habe sie plötzlich beim Wickel. Klein Hanni aber wurde von Lotte inzwischen vor Frau Tanns kräftigem Griff gerettet.
Laut gähnend ging man ans Ankleiden.
»Marlene brüht den Kaffee, halbvoll den Topf – Lotte bürstet die Kleider und putzt die Stiefel – Hanni deckt den Kaffeetisch; beeilt euch!« rief Frau Tann aufs neue.
»Rrrrrr – so 'ne Quälerei – rrrrrr – wir sind doch keine Dienstboten!« Lotte hätte sich vor Ärger beinahe beim Mundspülen verschluckt.
Marlene war noch viel zu müde, um irgendwelche auflehnenden Empfindungen zu haben. Mit gläsernen Augen stand sie am Herd, goß den Kaffee auf und kochte die Milch ab. Sie goß und goß, ohne zu sehen, daß der Topf längst voll war.
Was lief denn da so heiß an ihrem Kleide hinunter? Himmel, sie stand bereits in einem bräunlichen Kaffeeteich! Ein scheuer Blick über den Gang – Frau Tann teilte gerade Hanni im Eßzimmer mit, daß Ordnungssinn die Haupttugend eines Mädchens sei – dann wurden flink die Fliesen aufgewischt und die Hälfte des Mokkas in den Ausguß befördert!
Marlenchen atmete auf. Aber da nahte schon wieder die Tücke des Schicksals. Ein scharfbrenzliger Geruch machte sich bemerkbar. Es zischte und wallte in der Milchkasserolle; in unternehmungslustigen Blasen und Bläschen sprang der weiße Schaum über den Rand in die weite Welt hinein. Marlene aber stand wie vom Donner gerührt und sah dem merkwürdigen Schauspiel, ohne eine Hand zu rühren, mit müde blinzelnden Augen zu.
Lotte, die auf der Hintertreppe an der Küchentür des Großonkels Stiefel bearbeitete, eilte bei dem durchdringenden Duft herbei, die Wichsbürste in der Hand.
»Menschenkind!« Das war alles, was sie hervorstieß; dann riß sie die Milch vom Feuer und lief mit der ziemlich geleerten Kasserolle spornstreichs zur Wasserleitung. Hier ergänzte sie den Verlust aufs großmütigste.
»Niemand merkt es,« tröstete sie die unpraktische Marlene, stieß das Fenster auf und half auch die letzten Spuren beseitigen.
»Alle guten Geister!« Sie hatte ja ihre Mappe noch nicht gepackt! Marlene war natürlich gestern nicht eher ins Bett gegangen.
Schnell holte sie ihren Bücherriemen auf den Treppenflur hinaus, denn eine Schulmappe war in der ersten Klasse verpönt. Zeichenstunde war ja auch heute; hatte sie denn überhaupt einen Bleistift? Einen Stiefel über die Hand gestreift, machte sie sich an eine eingehende Untersuchung ihres nicht gerade musterhaften Federkastens. Dabei merkte sie nicht, daß der Radiergummi entsprang und sich heimtückisch in des Großonkels Stiefel einquartierte.
Nun waren noch dessen Hosen und Rock auszuklopfen. Lotte schlug auf die unschuldigen Kleider los, als ob sie allen Ärger an ihnen auslassen wollte.
»Ich werde hier ganz bestimmt schlecht,« dachte sie dann kummervoll bei sich selbst und begann den Rock sanft und ehrerbietig mit der Bürste zu streicheln.
»Kinder, kommt Kaffee trinken, sonst versäumt ihr die Schule!« Frau Tanns Stimmung klärte sich in gleichem Verhältnis auf wie die zunehmende Tageshelle draußen. Auch ihr äußerer Mensch gab jetzt neugierigen Backfischaugen keinen Grund mehr zum Staunen. »Marlene, für Frühlingsgefühle ist es schon viel zu spät im Jahr« – sie schloß kopfschüttelnd das weitgeöffnete Küchenfenster – »pst, Kinder, pst – ganz leise – der Onkel schläft noch!«
»Das ist das Vernünftigste, was er tun kann,« dachte Lotte wieder nicht sehr ehrerbietig, und auch Marlene und Hanni begrüßten die Botschaft mit erleichtertem Herzen.
»Viel vom Kochen scheinst du nicht zu verstehen, Marlene.« Frau Tann musterte die hellbraune Flüssigkeit mit zweifelhaften Blicken. Aber Lotte behielt recht; die kleine Mogelei wurde nicht bemerkt.
»Nicht mal Butter, und die Semmel ist zäh wie altes Leder,« knurrte das unzufriedene Backfischchen schon wieder. Es stopfte und würgte noch an seinem Gebäck, als die anderen schon in Hut und Mantel waren.
»Mach schnell, Lotte, wir kommen zu spät,« drängten die Schwestern.
»Das ist mir ganz wurscht!« Der rangenhafte Berliner Ausdruck ließ sie plötzlich an ihr Frühstücksbrot denken. »Wir haben ja noch gar kein Frühstück; ohne Stullen kann ich doch nicht in die Schule gehen.« Die Mappe schien ihr zum Schulbesuch weniger notwendig als das Frühstücksbrot.
Frau Tanns Gesicht wurde lang und länger; daran hatte sie noch gar nicht gedacht. Jetzt wurde bestimmt ihrem Brot der Garaus gemacht. Und wie das in die Butter ging, so dünn sie dieselbe auch aufzustreichen bemüht war. Sie mußte mit Herrn Grimm wegen Erhöhung des Wirtschaftsgeldes sprechen, wenn er auch noch so böse wurde!
Endlich konnte Lotte mit ihren in Zeitungspapier gewickelten Broten hinter den Schwestern herjagen.
An der Ecke hörte Lotte bereits die eherne Zunge der Liesenschule, die ihre säumigen Kinder rief. Schnutke, der kleine, wohlbeleibte Schuldiener, der den Glockenstrang zog, flüsterte ihr mit gutmütigem Lächeln zu: »Flink, Freileinchen, machen Se schnell; ick bimmele noch 'n bisken, bis Se oben sind.«
Aber er konnte es trotz seines ohrenzerreißenden Läutens nicht hindern, daß Doktor Wenzel bereits die I B-Klasse betreten hatte. Lotte hängte ihre Sachen an den Haken und huschte dann lauschend an die Tür. Die Erste betete noch; jetzt durfte man nicht stören.
Da – Tritte – ein Schlüsselbund rasselte – das war sicher der Direktor! Wenn der sie hier abpaßte! Lautlos verschwand sie hinter dem langen Mantel, der gerade neben der Tür hing.
Die Schritte kamen näher. Lotte schielte durch ein Knopfloch. Richtig, es war der Gestrenge: seine Brillengläser blitzten selbst hier im Halbdunkel.
»Weiter – weiter,« drängte Lotte unhörbar, als das Hallen der Schritte auf dem Steinboden plötzlich verstummte. Gerade der Klassentür gegenüber war der Herr Direktor vor dem großen Stundenplan stehen geblieben. Eingehend ließ er seinen Zeigefinger darauf herumspazieren und machte sich Notizen. Das Backfischchen litt Folterqualen. Die Sekunden wurden ihm zu Ewigkeiten; es konnte kaum noch in der gekrümmten Stellung verharren. Aber es wagte keine Bewegung. Der Wintermantel, hinter dem es stak, krabbelte an der Nase, auch roch er abscheulich nach Mottenpulver und – »hatschi – hatschi« – hallte es plötzlich laut aus dem wie ausgestorbenen Gang.
Der Direktor tat entsetzt einen Schritt zur Seite; dann aber wandte er sich stirnrunzelnd um. Lotte hielt es nun für das klügste, nachdem sie eben so geräuschvoll ihre Besuchskarte abgegeben hatte, ihr Persönchen ganz und gar folgen zu lassen. Geknickt stand sie vor dem überraschten Herrn.
»Das sind ja recht erfreuliche Sachen – Charlotte Elmert, was muß ich sehen?«
Der Herr Direktor schnarrte das R noch schärfer als sonst; es ging Lotte durch und durch. Aber so leicht war sie nicht um eine Ausrede verlegen.
»Entschuldigen Sie bitte, Herr Direktor, wir wohnen seit gestern bei unserem Großonkel, und da habe ich die Entfernung unterschätzt.«
»Und die Schwestern? Die sind mir doch vorhin schon begegnet; wohnen die etwa näher? Charlotte – Charlotte, ich warne Sie! Solch liebe Schülerin, wie mir Marlene ist, ich dulde keine Elemente in meiner Anstalt, welche die Schulordnung nicht innehalten!«
Das Schlüsselbund begleitete jedes Wort des Herrn Direktors mit aufgebrachtem Gerassel.
»Es soll gewiß nicht wieder vorkommen, Herr Direktor,« bequemte sich das Backfischchen zu versprechen, und erlöst sah es des Gestrengen etwas nach vorn geneigte Gestalt im Konferenzzimmer verschwinden.
»Fortsetzung folgt in der nächsten Nummer,« dachte Lotte und pochte an die Klassentür.
»Es klopft,« beeilte sich eine der Tür Nahesitzende, froh über die willkommene Störung, zu melden.
»So öffnen Sie,« gebot Doktor Wenzel und klemmte den Kneifer fester auf die Nase.
Strahlende Mädchengesichter begrüßten Lottes Eintreten; nun kam doch ein bißchen Abwechslung in die einförmige Stunde! Nur Ilse Schwalbe, Lottes beste Freundin, sah erschreckt fragend in ihr gerötetes Gesicht.
»O – o –« Doktor Wenzel wiegte bedauernd seinen runden, zierlichen Kopf, zu dem der stattliche Vollbart eigentlich wenig paßte, »o – Elmert – Charlotte – das tut mir leid!«
»Ach, Herr Doktor, ich bin so gelaufen, aber ich konnte es wirklich nicht mehr erreichen!« Lotte sah treuherzig zu dem freundlichen Herrn auf.
»Na dann – dann setzen Sie sich!« Doktor Wenzel mochte das frische Mädel gern, und außerdem tat seinem guten Herzen solch junges Gesicht in düsterer Trauerkleidung immer weh.
Lotte nahm also ihren Platz auf der Bank vor der Freundin Ilse ein.
»Na?« Ilse puffte Lotte teilnehmend in den Rücken. »Wie war es?«
Lotte zuckte die Achseln und warf einen Blick zur Landkarte empor, der alles besagte.
»Darfst du weiter mit mir verkehren? Wirst du im Kränzchen bleiben und dürfen wir auch zu euch kommen?«
Das war das Wichtigste, was Ilse augenblicklich am Herzen lag.
»Ich weiß noch nicht« – Lotte hielt das Löschblatt vor den Mund – »ich hab' noch nicht fragen können.«
»Na, das ist doch aber die Hauptsache –«
Ilse verstummte, denn Doktor Wenzel hatte ihre Ecke aufs Korn genommen. Er sprach augenblicklich über Miltons »Verlorenes Paradies«.
Aber die beiden hörten trotzdem nicht viel von dem Vortrag. Wie eine Erlösung erschien es ihnen, als endlich die Glocke wieder läutete.
In der nun folgenden Pause spazierten Marlene, Lotte und Ilse im Gang auf und ab, trotzdem es eigentlich nur paarweise geschehen sollte. Immer wenn sich Fräulein Pietsch den dreien näherte, flatterte deshalb das Schwälbchen nach vorn.
Lotte zeigte eben ihr Frühstück, das durch die Regenfeuchtigkeit die ganze Druckerschwärze der Zeitung trug.
»Ich muß erst Hanni das Frühstück hinunterbringen,« sagte sie dabei. »Marlenchen, ißt du lieber Stullen mit Verlobungsanzeigen oder mit entlaufenen Kötern?«
»Da, Kinder« – Ilse zog zwei Brötchen aus ihrer Stullenbüchse hervor – »ich habe heute belegte mit!« Sie hielt jeder der Freundinnen ein Brötchen vor den Mund. »Ziert euch nicht – nein, nun habt ihr daran geleckt; nun müßt ihr's auch essen! Ich will doch auch mal das Brot vom Großonkel versuchen.« Frühstückstauschen war nämlich in der Schule allgemein an der Tagesordnung.
»Nun erzählt von Anfang an!« Ilses bewegliches Mienenspiel begleitete ausdrucksvoll die klagenden Worte Marlenes und die empörten Lottes. Die Zwischenpause reichte aber bei weitem nicht aus zu all den neuen Erlebnissen; viel zu früh rief die Glocke wieder zur deutschen Stunde bei Professor Hartmann.
Selbst dieser sonst so beliebte Unterricht wurde heute zu einer förmlichen Qual für Lotte und Ilse; zu brennend war auf der einen Seite der Drang, zu berichten, auf der anderen die Neugier. So kam es, daß die beiden auch von dieser Unterrichtsstunde wenig Vorteil hatten, und ebensowenig von den noch folgenden.
»Da habt ihr euch nicht schlecht in die Brennesseln gesetzt,« sagte Ilse mit ihrer bekannten Offenheit beim Heimweg von der Schule. »Aber nun kommt es darauf an, daß ihr es euch möglichst gemütlich darin macht. Euer Hausdrachen« – diese liebenswürdige Schmeichelei galt Frau Tann – »scheint ja gar nicht so unmenschlich zu sein. Sei still, Lotte! Natürlich wirst du dich mit ihr zanken, denn du hast nun mal einen vorlauten Mund. Ich würde es auch tun, denn so sanft wie Marlenchen ist nicht jede,« Marlene wollte widersprechen, aber Ilse fuhr schon fort: »Doch nun zu dem bärbeißigen alten Herrn! Am Ende ist er krank, Kinder?«
»Ih, woher denn,« rief Lotte, »Das große Beefsteak gestern abend hat er wie ein ganz Gesunder vertilgt.«
»Na, dann müßt ihr ihn mit Liebe überrumpeln,« riet Ilse sinnend. »Es ist doch einfach unmöglich, daß ein Onkel, und wenn es auch nur ein Großonkel ist, vollständig gefühllos gegen die Zuneigung seiner Nichten sein soll!«
Ilse dachte dabei mit glücklichem Lächeln an ihre eigenen Onkel und Tanten, die sich in dem jungen Nachwuchs sonnten. Sie offenbarte mit Wort und Blick, ja in jeder Bewegung, daß sie einem harmonisch schönen Elternhause entstammte.
»Ich wünschte dir bloß mal, einen Tag da zu sein; ich glaube, du flögst bereits nach einer Stunde wieder 'raus,« prophezeite Lotte.
»Das liegt so in meiner Schwalbennatur,« erwiderte Ilse lachend, »Aber Scherz beiseite: ich glaube, du hast recht! Na, wir werden ja sehen; nächstens überfalle ich euch.«
»Nein – nein,« wehrte Marlene angstvoll ab, und selbst Lotte sagte bedenklich: »Du, erst müssen wir mal fragen, ob der Großonkel es erlaubt.«
»Hört mal« – Ilse stellte sich auf die Zehen, da die Sache, die sie vorzutragen hatte, von größter Wichtigkeit war – »ja, also Muttchen sprach gestern davon, ob sie vielleicht euren Onkel mal besuchen soll; sie möchte sich ihm vorstellen und ihn bitten, euch doch weiter in unserem Hause verkehren zu lassen.«
»Ach« – Lotte umarmte die Freundin aus offener Straße so stürmisch, daß ein vorübergehender Schusterjunge ebenfalls seine Arme mit den schwarzen Pechpfoten ausbreitete.
»Ach, wenn deine Mama das tun wollte,« sagte auch Marlene mit frohem Blick. Solange sie bei fremden Leuten gewohnt hatten, war ihnen Ilses Elternhaus oder das »Schwalbennest«, wie es allgemein genannt wurde, gleichsam eine zweite Heimat geworden. Die warmherzige Frau Schwalbe hatte die verwaisten Kinder mit mütterlicher Liebe an ihr Herz genommen.
»Wenn mich Onkel nur in der Schule läßt! Vielleicht kann deine Mama auch darüber mit ihm sprechen,« fuhr Marlene fort.
»Ja, und ihm einen freundschaftlichen Stoß geben, daß er nicht so brummig zu uns sein soll, und daß in einen ordentlichen Haushalt ein Dienstmädchen gehört!« Weiter fiel Lotte im Augenblick nichts ein.
»Und daß ich ihm abends beim Gutenachtsagen einen Kuß geben darf!« Klein Hanni, die mit Ilses jüngerer Schwester vorausging, wandte sich zurück; sie hatte die rauhe Verabschiedung am gestrigen Abend noch nicht verwunden.
Mit Ilses besten Wünschen beladen, schritten die Schwestern dem grauen Hause zu.
Ja, wenn Wünsche immer helfen würden! Frau Tann öffnete mit ihrem ängstlichen Hafengesicht; Lotte hatte natürlich gleich diese Ähnlichkeit herausgefunden.
»Leise – seid bloß recht leise! Der Onkel hat heute wieder seinen Gichtanfall; da ist nicht gut Kirschen mit ihm essen.« Frau Tann dachte seufzend an die aufgeregte Unterredung über das Wirtschaftsgeld.
Die Kinder hielten es für das geratenste, bis zum Mittagessen gar nicht zum Vorschein zu kommen. Sie machten es sich in ihrer »Zelle« – Lotte hatte keine andere Bezeichnung für das kahle Hinterzimmer – möglichst wohnlich.
Marlene hing die Bilder der Eltern über die Betten und kramte ihre geliebten Bücher aus. Lotte stellte die kleinen Andenken auf, die ihnen von ihrem Vaterhause her teuer waren.
Ans Fenster kam der Mutter Nähtisch, um den die Mädchen so oft gehockt und mit heißen Wangen den wundersamen Geschichten gelauscht hatten, die ihr Mütterlein zu erzählen wußte. Leise, ganz leise strich die sonst so wenig gefühlsweiche Lotte über das kalte Holz, als ob sie die Hand noch liebkoste, die einst an ihm schaffte.
Hanni aber richtete sich voll Eifer ihren Puppenwinkel ein. Dodo, die Negerpuppe, Väterchens letztes Geschenk, schaute daraus mit glänzenden, erstaunten Glasaugen in die neue Umgebung. Hier, im Puppenwinkel, wurde Hannis eigentliche Heimat; mit all ihren Schmerzen und kleinen Sorgen flüchtete sie sich zu ihrer Dodo.
Das Tischdecken ging heute ohne Störungen vor sich, da des Großonkels verwirrende Blicke fehlten.
Erst als die Suppe bereits auf dem Tisch stand, kam er, sich auf seinen Stock stützend, ächzend und stöhnend hereingehumpelt. In diesem Augenblick tat er seinen Nichten aufrichtig leid. Marlene eilte ihm gleich entgegen und bot ihm freundlich den Arm, um ihn an den Tisch zu führen. Schwer lehnte er sich auf die junge Kraft.
»Hast du große Schmerzen, Onkel?« fragte Lotte, die ihre Teilnahme nun auch beweisen wollte.
»Das siehst du doch,« polterte der alte Herr. »Frag nicht so dumm!« Damit hatte die erfreuliche Unterhaltung ein Ende.
»Merkwürdig, im Sitzen spüre ich so gut wie gar nichts,« sagte er, als die Mahlzeit beinahe vorüber war.
»Am Ende drückt der Stiefel,« wagte Marlene bescheiden zu äußern.
»Unsinn! Die trage ich immer. Hier unter der rechten großen Zehe sitzt's – ich kann kaum auftreten – so fängt es meistens an; nur das Zucken und Ziehen fehlt noch. Na, darauf werde ich mich wohl heute nacht gefaßt machen können!« Er sprach wie viele einsame Leute gern von seinen verschiedenen Leiden.
Als Lotte am anderen Morgen wieder ihre »Magdarbeit« in Angriff nahm und gerade darüber nachdachte, wie wohl die vornehme Käthe Möller die Nase rümpfen würde, wenn die sie hier als Stiefelputzer erblickte, fühlte sie plötzlich etwas Hartes in des Großonkels rechtem Stiefel. Sie zog es heraus und – lachte plötzlich hell auf.
Marlene eilte herbei, um die Ursache ihrer sonderbaren Lustigkeit zu erkunden. Lotte lachte noch immer; sie konnte nicht sprechen. Endlich wies sie, sich die Seiten haltend, ein kleines Stück Radiergummi vor.
»Das – das ist – Onkels Gicht! Ich habe sie eben im Stiefel gefunden,« prustete sie heraus.
Und richtig, des Onkels Krankheit war plötzlich wie weggeweht. Wenn der gewußt hätte, wer ihn davon kurierte!
Lotte hütete sich, irgend etwas darüber zu sagen; sie ließ es ruhig geschehen, das der Großonkel wochenlang weißes Fleisch aß und keinen Tropfen Bier genoß, damit die böse Gicht nicht wiederkehre. Aber ihre Mappe packte sie nie mehr beim Stiefelputzen. Fräulein Liederlich war auch kuriert.