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Der Türmer hatte eben von der St. Martinskirche herab zwei Uhr morgens gerufen, als mit langen, eiligen Schritten Hans Rübenkönig vom Ahnaberger Tor her seiner Kaserne zueilte.
Er trug nicht die Uniform, sondern die Kleider, die er ihretwegen abgelegt hatte. Flink und scheu drückte er sich an den Häusern des Pferdemarktes vorbei, unbemerkt so durch die menschenleeren Gassen schreitend.
Nicht gut wäre es für ihn gewesen, einem der Nachtwächter oder gar einer der nächtlich ausgeschickten Streifpatrouillen zu begegnen, die den einsamen, scheuen Wanderer am Ende eindringlich gefragt haben würden, was er zu so ungewöhnlicher Stunde auf den Straßen von Sr. Hochfürstlichen Durchlaucht Residenzstadt zu suchen habe, denn Hans wandelte nicht auf dem Wege der Pflicht.
Doch weder eine Patrouille noch ein Nachtwächter begegneten ihm, die letzteren hielt ein eisiger Wind von den Straßen möglichst fern. Die unselige Jagdleidenschaft hatte ihn zum Tore hinaus in den Wald geführt. Einer seiner ehemaligen Kameraden, ein verlodderter Bube Namens Fischer, hatte ihm gestern zugeflüstert: »Sei morgen um 11 Uhr bei Wolfsanger, es tritt Rotwild dort aus.«
Dem vermochte Hans nicht zu widerstehen. Die Jägerkaserne hatte eine kleine, unscheinbare Pforte, welche zum Felde hinaus führte. Am Tage streng verschlossen, wurde sie nächtlich desto fleißiger benutzt, da mehrere Oberjäger einen Schlüssel zu derselben führten, um sich nach dem Zapfenstreich noch aus der Kaserne unbemerkt entfernen zu können, und, wenn es ihnen beliebte, noch länger im Wirtshause zu weilen oder einem holden Abenteuer nachzugehen.
So war fast die ganze Nacht die verbotene Pforte geöffnet, denn keiner der spät Heimkehrenden verschloß sie, aus Furcht, einem nach ihm eintreffenden Kameraden den Rückweg zu versperren, dies geschah erst mit Tagesanbruch.
Hans war in das Geheimnis der Türe durch den Oberjäger Konski eingeweiht worden, der ihm eines Tages mit herablassender Vertraulichkeit sagte: »Wenn Er, Rekrut, einmal den Zapfenstreich überhören sollte, so kann Er sich durch diese Türe salviren, sie ist die ganze Nacht offen, halt er aber 's Maul darüber. Ich sage Ihm das, weil Er der Bruder eines braven Kameraden vom Leibregiment ist und es ihm gelegentlich Arrest ersparen kann.«
Hans hatte sich zwar über diese Vertraulichkeit des so wenig umgänglichen Oberjägers verwundert, sie aber doch als Beweis von kameradschaftlicher Gesinnung seinem Bruder gegenüber, auf den er nicht wenig stolz war, dankbar hingenommen.
Hans, der sich, seitdem er im Dienste war, trefflich geführt und die Zufriedenheit seiner Vorgesetzten erworben hatte, war bisher nicht in die Versuchung gekommen, von dem verstohlenen Eingang Gebrauch zu machen, denn das Wirtshaus lockte den Jüngling nicht hinaus, als aber der Jagdteufel in Gestalt seines ehemaligen Genossen an ihn herantrat, vermochte er nicht zu widerstehen. Er hatte seine bürgerlichen Kleider in der Kaserne, Büchse und was dazu gehörte, ruhte in sicherem Versteck, und – um 11 Uhr war er in Wolfsanger eingetroffen. Mit klopfendem Herzen näherte er sich jetzt der Türe: wird sie geöffnet sein?
Sie bot die einzige Möglichkeit, in die Kaserne zu kommen, ohne die Wache zu passieren, und Hans wußte wohl, daß er, wenn sein nächtlicher Ausflug entdeckt wurde, strenge Strafe zu erwarten hatte.
Mit leisem Schritte näherte er sich der Türe, faßte die Klinke – »Gott sei Dank,« er atmete erleichtert auf – die Tür war unverschlossen.
Er trat ein, tastete nach der Treppe und begann mit vorsichtigem Tritt die Stufen zu ersteigen.
Nicht wahrzunehmen vermochte er, daß dort oben ein Paar scharfe Wolfsaugen ihn beobachteten – es war Konski, der den Kommenden belauerte.
Als Hans um die Treppenwendung schlich – und schwach durch das Fenster beleuchtet wurde, erkannte ihn Konski und verbarg eilig hinter seinem Rücken den blanken Genickfänger, den er in der Hand trug.
Nicht drei Stufen war Hans weiter gestiegen, als Konski ihn anrief: »Wer da?«
Hans stand wie vom Blitz getroffen bei dem plötzlichen Anrufe, unfähig zu antworten.
»Laß doch einmal sehen, wen wir da haben,« sagte der Oberjäger und kam die Treppe herab. »Alle Wetter, das ist Er ja, Rübenkönig! Na, das ist eine schöne Geschichte.«
Jetzt hatte ihn auch Hans erkannt und sagte zitternd: »Machen Sie mich nicht unglücklich, Herr Oberjäger, zeigen Sie mich nicht an.
»Ja, armer Junge, das kommt zu spät. Gegen 12 Uhr muß der Teufel den Oberst Rall hierher führen, um die Stuben zu revidieren, ob alle Mannschaften da sind. Als er gewahrte, daß sogar ein Rekrut fehlte, faßte ihn eine unglaubliche Wut. Es wird Ihm schlimm ergehen, Rübenkönig!«
Hans war sprachlos vor Entsetzen.
»Er kann noch von Glück sagen, daß Er jetzt kommt, denn ich wollte eben, da Er nicht mehr erwartet wurde, die Tür verschließen, damit die Ronde sie nicht offen findet.«
Hans wußte, wie streng die Strafen beim Militär waren, wußte, wie Rall gefürchtet wurde, sah Gefängnis, scharfe Latten, Kugelschleifen, Spießruten vor sich, und es faßte den Jüngling eine Angst, welche ihm alle Besinnung raubte.
»Nein, nein, lebendig sollen sie mich nicht haben,« rief er im Tone der Verzweiflung, sprang die Treppe hinunter, riß die Tür auf und lief in die Nacht hinaus, rasch zwischen den Hecken der Gärten verschwindend.
Konski ließ ein heiseres Lachen vernehmen, steckte sorgfältig seinen Genickfänger in die Scheide, stieg hinab, verschloß die unheilvolle Türe und schritt dann leise hinauf nach den Kasernenstuben.
Am andern Morgen fehlte beim Appell Hans Rübenkönig. Sofort ging die Meldung ab: Deserteur. Gleich darauf begaben sich auch Mannschaften in verschiedenen Richtungen auf die Suche, zunächst bei seiner Mutter, welche sich darüber sehr entsetzte.
Aber noch schlimmer; gegen sieben Uhr wurde bekannt, daß auf dem Dienstzimmer des Hauptmanns Ewald, welches augenscheinlich mit einem Nachschlüssel geöffnet worden war, der Schrank erbrochen und zwölf Friedrichsdor daraus entwendet waren.
Der Verdacht, der Dieb zu sein, fiel auf den Deserteur, da Konski von seinem Zusammentreffen mit Hans durchaus kein Wort verlauten ließ.
Heinrich Rübenkönig war bald von seines Bruders Flucht wie von dem schmählichen Verdacht, welcher gegen ihn laut wurde, unterrichtet, und der strenge, pflichttreue Mann war tief erschüttert.
Nachdem mittags die Parole ausgegeben war, nahm Hauptmann Ewald den Sergeanten Rübenkönig bei Seite und fragte: »Hältst du deinen Bruder eines Diebstahls für fähig, Heinrich?«
»Nein, bei Gott nicht, Herr Hauptmann.«
»Nun; ich auch nicht, tröste dich deshalb. Aber welcher Teufel mag denn den Jungen geritten haben?«
»Ich weiß nur eines, was ihn aus der Kaserne gelockt haben könnte, seine Leidenschaft für die Jagd.«
»Hm, 's ist eine unangenehme Sache, indessen, er ist ja noch ein halbes Kind. Gewiß wird er sich mit der Alten oder dir in Verbindung setzen, mache ihm begreiflich, daß, wenn er sich von dem leider bei dieser Sachlage ziemlich nahe liegenden Verdacht des Diebstahls reinigen kann, er sich schleunigst freiwillig wieder stellen soll, er wird dann gelinde davon kommen. Laß ihn das wissen, Heinrich.«
Der Sergeant atmete auf: »Sobald ich irgend kann, Herr Hauptmann. Wie die Sache zusammenhängt, weiß ich nicht, aber ich bin überzeugt, daß, wenn der Junge erfährt, daß man ihn des Diebstahls beschuldigt, schon das ein Grund für ihn sein wird, zurückzukommen, um sich von dem Verdachte zu reinigen.«
»Na, tue dein Möglichstes. Guten Morgen, Sergeant.«
Der Sergeant begab sich im Eilschritt zu seiner Mutter, welche er in Verzweiflung antraf.
Aber auch sie sagte, als sie von dem Verdachte des Diebstahls hörte, mit inniger Überzeugung: »O nein, gestohlen hat der Hans nicht. Er ist wild – aber ehrlich. Mein Gott, mein Gott, wo mag das Kind sein?«
Nach einigen Kreuz- und Querfragen des Sergeanten, wer der Hauptkumpan des Hans bei seinen Jagdfreveln sei, bezeichnete die Mutter jenen schon erwähnten Fischer. Der Bursche, welcher in der Nachbarschaft wohnte, wurde herbeigeholt.
»Bursche,« fuhr ihn der Sergeant an, »wo warst du in der Nacht mit meinem Bruder? Die Wahrheit, oder ich arretiere dich sofort und liefere dich gebunden ins Kastell.«
Der junge Mensch wollte bei dieser Anrede schleunigst Kehrt machen, allein des Sergeanten eiserne Faust hatte ihn schon am Kragen.
»Wir kennen eure Streiche, also heraus damit – wo waret ihr in der Nacht?«
Der verblüffte Fischer, dem in der Faust des Sergeanten garnicht wohl zu Mute war, stotterte: »Im Wolfsanger Wald, Herr Sergeant.«
»Wann trafst du den Hans?«
»Um 11 Uhr.«
»Wann seid ihr zurückgekehrt?«
»So gegen 2 Uhr morgens.«
»Wo ging Hans dann hin?«
»Nach der Kaserne.«
»Ah, er wollte zurück in die Kaserne? Die Sache wird immer rätselhafter. Wie dachte denn der Hans in die Kaserne hineinzukommen, ohne daß ihn die Wache abfing?« examinierte der Sergeant weiter.
Der Bursche kratzte sich am Kopfe und brachte dann zögernd heraus: »Sie haben da eine Türe –«
»So? Weißt du, wo der Hans jetzt ist?«
Mit unverhohlenem Erstaunen entgegnete Fischer: »Wenn er nicht in der Kaserne ist, nein.«
Diese Aussage trug das Gepräge der Wahrheit. Der Sergeant ließ den Burschen los, und dieser fragte schüchtern: »Ist denn etwas vorgefallen, Herr Sergeant?«
»Du hast meinen Bruder ins Unglück gebracht, er ist desertiert.«
Der Fischer erschrak. »Desertiert? Wir hatten nichts getan als ein bißchen den Waldsaum abgestreift, wir haben nichts geschossen; Herr Sergeant, bringen Sie mich nicht auch ins Unglück!«
»Du weißt also nicht, wo der Hans ist?«
»Nein, Herr Sergeant. Wenn er aber desertiert ist, so ist er bei Spickershausen über die Fulda gegangen und ins Hannöversche hinein!«
Das war, da dies die nächste Grenze war, etwa eine Stunde von der Stadt entfernt, wahrscheinlich genug.
Heinrich überlegte einen Augenblick. Daß Hans an dem Diebstahle unschuldig sei, glaubte er jetzt fester als je. Die geheime Tür war ihm nicht unbekannt, hatte doch die Gardekaserne eine gleiche Ausschlupfpforte.
Dann sagte er: »Ich will dich nicht ins Unglück bringen. Junge, aber du mußt mir den Hans wiederschaffen. Ihr Taugenichtse habt doch sicher Mittel, euch heimlich zu verständigen, und Verstecke für Eure Jagdgerätschaften und dergleichen?«
»Ich weiß, wo der Hans seine Büchse versteckt hält, aber wenn er ins Hannöversche ist, hat er sie sicher mitgenommen, und herüber wird er sich schwerlich trauen.«
»Warte!« Der Sergeant zog seine Brieftasche und schrieb mit dem Stift auf ein herausgerissenes Blatt: »Hans, komme zurück und stelle dich, du kommst mit leichter Strafe davon. Man hat dich in Verdacht gebracht, dem Hauptmann Ewald Geld gestohlen zu haben, lasse das nicht auf dir sitzen und komme zurück so rasch als möglich. Dein treuer Bruder Heinrich.«
»Wenn du noch ein bißchen Gefühl im Leibe hast, so siehe zu, daß der Hans diesen Zettel bekommt. Wie du das machst, ist mir gleich. Willst du ins Hannöversche hinüber, so will ich dir Geld geben.«
Der Fischer hatte den ihm offen gereichten Zettel gelesen. »Gestohlen?« sagte er, »nein, das tut der Hans nicht. Wir schießen wohl dann und wann dem Landgrafen einen Bock weg – aber stehlen? Nee. Das hat ein anderer getan.«
Zu dem Burschen, der einen Wilddiebstahl durchaus nicht als Verbrechen ansah, sagte die Mutter jetzt: »Lieber Wilhelm, such' mir den Hans auf, tu's einer alten Frau zu Liebe.«
»Ja, Frau Rübenkönig, ich will's versuchen, ich will auch ins Hannöversche gehen,« sagte der Junge, den der Schmerz der alten Frau nicht ungerührt ließ.
Der Sergeant zog die Börse und gab ihm einen Taler. Bringst du mir den Hans, Fischer, sollst du noch einen haben.«
Des Burschen Augen leuchteten, als er das Geldstück erblickte: »Was ich tun kann, soll geschehen, ich will ihn schon finden.«
Damit entfernte er sich.
Der Sergeant tröstete die Mutter, so gut er vermochte, und begab sich dann zu Hauptmann Ewald, um dem zu berichten, was er hier erfahren hatte.