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2.
Die Laternen am Dom.

(Halberstadt.)

Bis vor nicht allzu langer Zeit noch waren es zwei, jetzt ist nur noch eine Laterne an der Abendseite des Halberstadter Domes, und zwar an dem einen Turm. Die andere mußte einer Uhr an dem andren Turm Platz machen. Licht haben sie schon lange nicht mehr geführt, wie im sogenannten Fortschritt der Zeit so manche Sitte, die auf ein Geschehnis sagenhafter Natur zurückweiset, allmählich aufgehoben worden ist. In sehr alte Zeiten aber muß der Ursprung der Laternen zurückzuführen sein, da eine Baurechnung aus dem Jahre 1553 saget, daß »die beiden Leuchttürme mit roter Farbe bestrichen und neu verglaset worden sind«. – –

Der Herbstwind strich über die erstorbenen Fluren und warf dicke Regentropfen an die sechseckigen Fensterscheiben, hinter denen der Domherr von Halberstadt in der Gerichtsstube des domcapitularischen Amtes Zilly länger als sonst von einer unerquicklichen Arbeit festgehalten wurde. Mit Bangen gedachte er der Heimkehr durch unwegsames Land bei Nässe und Finsternis. Und seine schlimme Ahnung sollte recht behalten.

In scharfem Trabe hatte er mit einem guten Pferd Ströbeck erreicht, als die undurchdringliche Nacht mit peitschendem Regen völlig Herr geworden war über jedes noch so schüchterne Lebenszeichen und Wegemal weit und breit. Mit Mühe und Not kämpfte sich das unruhigwerdende Tier weiter gegen immer heftigeren Sturm; der Domherr hielt den Hut gesenkt gegen das Unwetter und krampfte mit starrenden Fingern den Mantel zusammen, den der Sturm zu fassen drohte. So waren Roß und Reiter allmählich vom Wege abgekommen und vermochten nach viel tappendem Suchen nicht wieder die rechte Spur zu finden. Ströbeck hatten sie weit hinter sich und nirgends verrieten weder Laut noch Licht menschliche Wohnung.

Der Domherr verhielt das schweißgebadete Tier, das selbst, wie lauschend, den Hals reglos streckte, und erhob den Blick vertrauensvoll in die sternlose, schwarze Nacht zum Lenker aller Dinge. Da war ihm, als schaue er seinem Schöpfer und Herrn in die gütigen Vateraugen, die durch Not und Nacht herableuchteten auf seinen getreuen Sohn. Und in leisem Schweben gleiten die Gottesaugen hinüber an den Himmelsrand, um dort stille zu stehen, gleich zwei Leuchtern auf dunklem Pfad. Im selben Augenblicke hebt aus der gleichen Richtung das Acht-Uhr-Läuten an auf den Türmen des Domes und ruft dem Verirrten das Ziel seiner Heimkehr. Nun des Regens und Sturmes nicht mehr achtend, trabt er dahin durch die Nacht, immer den wegweisenden, leuchtenden Gottesaugen entgegen, die sachte entschweben und dem Himmel zurückkehren, als der Domherr hineinreitet in die Stadt, den Türmen des Domes entgegen.

In seiner behaglichen, bergenden Stube gedenkt er der wunderbaren Errettung und der vielen weglosen Wanderer der Nacht. Zum äußeren Zeichen seiner Dankbarkeit gegen Gott und zum Wahrzeichen belohnten Vertrauens ließ er sogleich die beiden Laternen, gleich zwei Halbtürmchen, an den Türmen des Domes anbringen. Bei Eintritt der Nacht wurden sie angezündet und zeigten weithin im Lande dem Irrenden und Suchenden den wahren, rechten Weg.

* * *


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