Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Die Geschichte des menschlichen Geschlechtes vollzieht sich in einzelnen großen Bewegungen der Entwicklung. So weit entfernt die Wissenschaft auch noch sein mag, diese auf allen Gebieten menschlichen Werdens dem Zusammenhange nach selbst zu erkennen, so deutlich ahnt sie ihn doch, so erfolgreich ist sie bestrebt, die unsichtbaren Fäden, die von Gedanke zu Gedanke, von Tat zu Tat eines an das andere binden, aufzufinden und zu verfolgen. Der Forscher, welcher sich die Geschicke der Menschheit, diesen an Fragen und Rätseln reichsten Teil der allgemeinen Naturgeschichte zum Studium gemacht hat, muß ebensowohl wie jener, der die Veränderungen der anorganischen Materie betrachtet, bestrebt sein, an Stelle willkürlicher Katastrophen vielseitig bedingte, allmählich sich vorbereitende Wandlungen anzunehmen. Was ihm seine Aufgabe aber erschwert, bleibt immer, daß er sich der allgemeinen Verständlichkeit zuliebe zu einer systematischen Gliederung verstehen muß, daß er gezwungen wird, Abschnitte zu machen, die das organische Ganze grausam in einzelne Teile zerlegen. Der unendliche Reichtum der Erscheinungen selbst an solchem herausgerissenen Teile zwingt ihn von neuem zu zerlegen, und schließlich mag er wohl glauben, im kleinsten Teile ein in sich abgeschlossenes, selbsttätiges Ganze zu sehen, da es doch nur Bedeutung hat im weiten Zusammenhange des Ganzen. Und wieder auf der anderen Seite lassen sich doch nur aus dem eingehenden Studium der Details durch Rückschluß die ersten Grundbedingungen für die Würdigung und Kenntnis der großen bewegenden Kräfte schaffen. Der einzelne Mensch in seinem Lebensgange, in seiner körperlichen und geistigen Entwicklung, in seinem Verhältnis zur Außenwelt wird so der Ausgangspunkt zur geschichtlichen Betrachtung des Menschengeschlechtes überhaupt. Je größer die geistige Bedeutung eines einzelnen und mit ihr sein Einfluß, desto wichtiger wird seine Kenntnis dem Geschichtschreiber – und so hat derselbe schließlich recht, da er einmal gezwungen ist, Abschnitte zu machen, sie mit dem Auftreten der größten und einflußreichsten Männer zusammenfallen zu lassen. Er nimmt dabei freilich die Wirkung, die sie als Repräsentanten einer bestimmten Richtung ausüben, als Einteilungsgrund, während doch die Richtung selbst in ihrer genetischen Entwicklung als einheitlicheres Ganze die eigentliche Norm abgeben sollte – aber praktische Rücksichten nötigen ihn wohl noch auf lange Zeit hinaus dazu.
Der Name eines einzelnen großen Mannes steht auch an der Spitze dieses Buches – mit eben jenem Rechte, mit dem man die gemeinschaftliche Bestrebung eines Teiles der menschlichen Gesellschaft nach dem Namen des Mannes bezeichnet, in dem sie sich gleichsam ihrer selbst bewußt wird, in dem sie ihre Verkörperung erhält, durch welchen sie die Herrschaft über andere Elemente der Zeit und damit den Einfluß auf die folgende gewinnt. Nur in einem solchen Manne läßt sie sich erfassen und verstehen. Er gleicht der Blüte, an der man vor allem die Pflanze erkennt, nach der man sie zu nennen liebt, die für das größere oder mindere Wohlgefallen an ihr maßgebend wird. Und wie das farbige, duftende Gebilde nur entsteht, wenn die Pflanze dem Höhepunkt ihrer Entwicklung sich nähert, wie es des wärmenden Sonnenlichtes bedarf, sich voll zu entfalten, und wie es endlich zur Bedingung wird für die Frucht, so der menschliche Genius!
In Franz von Assisi gipfelt eine große Bewegung der abendländischen christlichen Welt, eine Bewegung, die nicht auf das religiöse Gebiet beschränkt, sondern universell im eigentlichsten Sinne die vorbereitende und treibende Kraft der modernen Kultur ist. Sie mit einem kurzen Worte zu bezeichnen, möchte ich sie die Bewegung der Humanität nennen. Sie beginnt im 12. Jahrhundert, erreicht ihren Höhepunkt in Franz um 1200 und erstreckt ihre Wirkung bis etwa in die Mitte des 14. Jahrhunderts hinaus, um welche Zeit die durch sie geförderte neue Bewegung des Humanismus und der Reformation einsetzt. Sie mit wenigen Worten schon hier eingangs zu kennzeichnen – so ist ihr Inhalt die Befreiung des Individuums, das in einer subjektiven harmonischen Gefühlsauffassung der Natur und der Religion, im großen und ganzen noch innerhalb der Schranken des katholischen Glaubens, aber unbewußt doch schon über dieselben hinausstrebend, seine Rechte gegenüber der Allgemeinheit sich erobert. Sie äußert sich in dem Emporkommen des Bürgerstandes, der sich mit seinen neuen Anschauungen der Natur und Religion auch neue Formen des sozialen Lebens, wie des kirchlichen Kultus schafft. Wie sie auf der einen Seite das Lehnswesen samt seiner dichterischen Verherrlichung untergräbt, die phantastischen Ideale der Kreuzzüge stürzt und an der scholastischen Philosophie wenigstens zu rütteln beginnt, so schenkt sie auf der anderen Seite der Menschheit die ersten Bedingungen einer persönlichen Freiheit, einer neuen geistlichen Poesie, einer neuen Kunst und die erste Vorahnung allgemeiner Denkfreiheit. Die innerste Triebkraft, die solche Wunder zuwege bringt, ist das erwachende starke individuelle Gefühl. Dieses Gefühl aber scheint in einem einzigen Menschen, Franz von Assisi, als glühende, tiefinnerliche Liebe zu Gott, der Menschheit und der Natur gleichsam zu gipfeln. Von einer Schilderung dieses merkwürdigen Mannes, der weniger als ein Heiliger der katholischen Kirche denn vielmehr als der Träger einer weltbewegenden Idee die Verehrung aller Nachgeborenen verdient, hat die Betrachtung dieses jugendfrischen Lebens, das die alten Formen zerbricht, auszugehen. So viel über Franz geschrieben worden ist, die volle Gerechtigkeit ist ihm noch nicht widerfahren – möge dieses Buch als ein Versuch, den bedeutenden Mann aus dem engen Rahmen der Kirchengeschichte als Mittelpunkt in das frohe, vielbewegte Treiben einer neue Ziele anstrebenden Zeit zu versetzen, dazu beitragen. Der begeisterte Verkündiger der Humanität erhalte seine vollen Rechte als Vertreter der ganzen Bewegung.
Die mannigfachen Verzweigungen derselben aber und damit sie selbst nach ihrem ganzen Umfange zu erfassen und darzustellen, erforderte vielseitigere Kenntnisse, als sie dem Verfasser zu Gebote stehen. Soweit es ihm möglich war, hat er die verschiedenartigen Bestrebungen der Zeit im allgemeinen anzudeuten gesucht, im einzelnen und eingehend nur die Bewegung, wie sie sich auf dem Gebiete der Kunst geltend macht, studiert. Und die Berechtigung dazu ergibt sich aus dem Stoffe selbst. So reichhaltig die Äußerungen der neuen Geistesrichtung sind, den beredtesten Ausdruck gewinnt dieselbe doch in der Kunst. Diese ist ihre größte, herrlichste Frucht. Sie geht der Verwirklichung des neuen Ideals auf politischem und wissenschaftlichem Gebiete voraus wie die Morgenröte der Sonne. Das erstgeborene unter den Kindern christlich-humaner Weltanschauung, herangewachsen zu einer Zeit, da die anderen noch unmündig, lehrt sie die jugendlich-enthusiastische Gesinnung der Menschheit, der sie entsproßt, deutlicher erkennen und schätzen.
Des Franziskus Leben fällt in die Zeit, welche die mittelalterlichen Ideale des weltlichen Lehnsstaates und der geistlichen Hierarchie zur Reife gelangt sieht. Im Kampfe miteinander waren beide groß und stark geworden, im Kampfe standen sich ihre Vertreter, der Kaiser und Papst gegenüber, als beide den Gipfel ihrer Macht erreicht, im Kampfe sollten sie von der Höhe abwärts schreiten. Von einem Sieg der einen Gewalt kann nicht die Rede sein: die Gegner der Hohenstaufen waren eben ein Alexander III. und ein Innocenz III. Und doch einen kurzen Augenblick mochte es scheinen, als habe der Stellvertreter Christi sich noch um eine Stufe höher geschwungen als der römische Kaiser – in jenem Augenblick, als Innocenz III. seinem gegen die Hohenstaufen erhobenen Schützling, dem Welfen Otto IV., in Rom die Krone aufsetzte. Da durfte er glauben, das Szepter der Welt in der Hand zu tragen. Der Vertreter der größten weltlichen Macht erkannte seine Oberherrschaft an, sein Richterspruch erklang gebietend am französischen und englischen Hofe, seine Legaten vertraten siegreich die Ansprüche des Papsttums in den nordischen Reichen, die morgenländische Kirche huldigte seit der Errichtung des byzantinischen Kaisertums dem römischen Bischofe. Es war ein kurzer berauschender Traum! Nur wenige Tage – und der demütige Welfe schien der herrischen Hohenstaufen einer geworden zu sein, der mit der Krone auch alle Rechte und Pflichten des deutschen Kaisers übernommen. Und zur selben Zeit erhob sich mit beispielloser Kühnheit das südfranzösische Volk gegen die heiligen Satzungen der Kirche selbst!
Wie groß aber immer der Gegensatz zwischen Papst und Kaiser gewesen, innige Bande vereinten doch den Lehnsstaat und die Hierarchie zu einem gemeinsamen Ganzen. Die vornehmen kirchlichen Würdenträger waren zugleich die Träger weltlicher Lehen und den Rangstufen der weltlichen Großen entsprachen die der kirchlichen Großen. Die Gemeinschaftlichkeit der Bestrebungen trat nirgends leuchtender und erhebender zutage als in den Kreuzzügen. Da weiß man tatsächlich nicht, waren dieselben mehr weltliche oder geistliche Unternehmungen. Sie bleiben eben die Kraftäußerung der gesamten christlichen Welt gegenüber der mohammedanischen Macht des Orients. Wie aber auf geistigem Gebiete das Rittertum seine Verherrlichung in der Poesie des Minnegesanges und der Heldendichtung fand, eine Blüte der weltlichen Poesie an den Fürstenhöfen sich entfaltete, so wob die scholastische Gelehrsamkeit der Universitäten, unter denen Paris die erste Stelle behauptete, einen Glorienschein um das Haupt der Hierarchie. Bei dieser innigen Verschmelzung der beiden Gewalten mußte jeder Schlag, der gegen eine derselben ausgeführt wurde, auch gegen die andere gerichtet sein. Die Bewegung, die eben in der Zeit der höchsten Blüte des mittelalterlichen Wesens drohend ihr Haupt erhebt und ihre Stimme mitten hinein in die lärmende Selbstvergötterung der feudalen und der hierarchischen Verfassung erschallen läßt, wendet sich zugleich gegen die erstere wie gegen die letztere. Sie geht von dem Volke aus, das, bisher kaum beachtet, sich aus der Stellung des rechtelosen, dienenden Gesellen zu selbständiger, Achtung verlangender Tätigkeit erhob. Die Kreuzzüge sind es gewesen, die es vom zwingenden Banne lösten, die auf die äußeren Lebensbedingungen wie die Denkweise befreiend gewirkt haben. Die häufige direkte Berührung mit der Kultur des Morgenlandes hob schnell und dauernd den bisher kaum gekannten Handel zu einer ungeahnten Bedeutung und befreite zugleich die Geister von der einseitigen Befangenheit vaterländischer Sitte und Anschauung. Wie die Kreuzfahrer den üppigen Luxus des orientalischen Lebens kennen und bewundern lernten, so wurden sie binnen kurzem auch mit der so sehr von der ihrigen abweichenden Weltanschauung und Religion vertraut gemacht, die ihnen wohl sündhaft und ketzerisch erschien, aber doch in achtunggebietender Weise das vollgültige Recht der Existenz dem Christentum gegenüber aufrechterhielt. Als einmal erst der regelmäßige Verkehr zwischen den Städten des Abend- und des Morgenlandes hergestellt war, wanderten nicht nur die Handelsartikel des letzteren über Italien nach Deutschland und Frankreich, sondern auch profane Künste und Wissenschaften wie religiöse Meinungen. Im Laufe des 12. Jahrhunderts erlangen daher einerseits die Städte einen außerordentlichen Aufschwung und mit ihnen die handel- und gewerbetreibenden Stände, andrerseits entstehen zugleich Sekten, die, zumeist die altketzerischen Anschauungen der Manichäer zur Schau tragend, in direkte Opposition zur römischen Kirche treten. Die Verbreitung und Bedeutung derselben muß größer gewesen sein, als es die Kirche selbst zugestehen mochte. Man spürt das deutlich an der gewaltigen Kraftanstrengung, die sie im Anfang des 13. Jahrhunderts machen muß, ihrer Herr zu werden.
Was für die Hohenstaufen die italienischen Städte, waren für die Päpste derselben Zeit die Ketzergemeinden. Und es ist wohl mehr als Zufall, daß die großen Kommunen Norditaliens zugleich die eigentlichen Sitze der Patarener, Katharer oder wie man diese Feinde kirchlicher Autorität nennen mochte, waren. Der erste Herold der neuen Zeit ist jener Arnold von Brescia, der laut und vernehmlich gegen den weltlichen Besitz der Kirche predigt und die Römer zur Wiedereinsetzung eines Senats und Wiederherstellung altrömischer Unabhängigkeit in Feuerreden entflammte. Hadrian IV. und Friedrich I. vollzogen gemeinsam an ihm das Gericht: er ward 1155 gehängt und verbrannt. Die Volkssache hatte ihren ersten Märtyrer. Jener Arnold aber hatte zu den Füßen Abälards gesessen – auch in der Wissenschaft, in Abälards Streben, dem natürlichen Verstande zu seinem Rechte zu verhelfen, ebensowohl wie in der allgemeinen Menschenliebe seines großen Gegners Bernhard von Clairvaux flammt ein neues junges Gefühl auf. Dann kurze Zeit darauf erfolgt das erste bedeutende aggressive Vorgehen Mailands und der ihm verbündeten lombardischen Städte gegen den Kaiser und die Auflehnung der Waldenser in der Provence gegen die Hierarchie. Das lehrt uns zugleich den Herd der Volksbewegung kennen: das nördliche Italien und das angrenzende Südfrankreich. Der Grund, warum sie gerade hier zum Ausbruch kam, ist unschwer zu finden. Hatte doch Italien während der vorhergehenden Jahrhunderte immer eine Sonderstellung innegehabt. Nicht wie in den Ländern nördlich der Alpen waren hier die Spuren römischer Kultur von den Pferdehufen der germanischen Heere zertreten und verwischt worden, sondern ein guter Teil der römischen Institutionen, der Rechtsverhältnisse wie der Munizipalverfassungen, hatte sich unter der durchsichtigen Hülle der germanischen Lehensverfassung erhalten. Wie das Volk selbst ein wunderliches Gemisch einheimischer römischer und eingewanderter longobardischer Elemente bildete, so auch seine Verfassung. Ein Lehensstaat in seiner strengen logischen Ausbildung hatte niemals daraus werden können. Der Kaiser, der fern in Deutschland lebte und regierte, repräsentierte wohl den geheiligten Herrscher, aber ein eigentlicher Oberlehnsherr, in dessen Person ein vielgliedriges System seinen höchsten Abschluß erreichte, war er für Italien nicht. Eine mehr oder weniger republikanische Selbstregierung konnte sich seit der Zeit der Ottonen, welche die Zeit der Exemtionen vom Grafenbann gewesen war, in den Städten ungestört entwickeln. Erschien dann der Kaiser mit seinem Heere diesseits der Alpen, so konnten die Konflikte nicht ausbleiben, der Gewalt mußte zeitweilig das dem Volke stets bewußte Recht weichen. Kaum aber war er wieder den Blicken entschwunden, war alles wieder beim alten, und die vorübergehenden Störungen vermochten die freiheitliche Entwicklung nicht zu hemmen. Im Gegenteil lernte man bald den Hader zwischen Papst und Kaiser benutzen und trieb eine egoistische Politik, deren Prinzip nicht die Befolgung eines geheiligten Staatsrechtes, sondern die möglichst gewandte Ausbeutung jeglicher Situation in partikularistischem Interesse war. Als Folge ergab sich, daß die Stadtbevölkerung bald wie dem Kaiser so auch dem Papste gegenüber eine ziemlich unabhängige Stellung gewann, daß sie, gesucht von beiden Gewalten, ohne wesentliche Gefährdung einer freieren Auffassung auf weltlich politischem wie geistlich religiösem Gebiete huldigen durfte. So erklärte sich denn auch die anscheinend wunderbare Tatsache, daß das eigentliche Heimatland der päpstlichen Macht mit seinen schnell zu außerordentlicher Kraft und Wohlhabenheit gelangten großen Städten der Hierarchie gegenüber eine unabhängigere Stellung einnahm als die ferneren großen Reiche des Westens. Und daß dies insonderheit für das nördliche Italien gilt, ergibt sich wiederum aus der wichtigen Mittelstellung desselben zwischen Rom und Deutschland. So kam es, daß um 1200 die durch die Kreuzzüge gezeitigte revolutionäre Bewegung eben hier und in dem benachbarten Südfrankreich zum Ausbruch kam, und zwar in offenem Kampfe zugleich gegen den Lehensstaat und die römisch-katholische Kirche sich richtete.
Vertreten aber die Angegriffenen ein Prinzip, nämlich dasjenige einer schematisch verallgemeinernden Gliederung der Menschheit in Freie und Unfreie, so liest man aus den Aufschriften der Banner der Angreifenden unschwer einen anderen Wahlspruch heraus: das freie Recht des Individuums!
Der Sieg der Städte entschied zugunsten der äußeren sozialen Berechtigung des Bürgertums neben den privilegierten Klassen der Fürsten und Ritter. Von um so größerer Bedeutung wurde nun die Entscheidung auf dem geistigen Gebiete. Es schien sich nur um zwei Möglichkeiten zu handeln: entweder die Opposition ward von der Kirche vollständig zu Boden geworfen, oder sie erwarb sich eine selbständige Berechtigung. Bei näherem Einsehen zeigt es sich deutlich, daß beides unmöglich war: keine wenn auch noch so große Gewalt vermochte die gerechten Forderungen des zum Selbstbewußtsein erwachenden dritten Standes zum Schweigen zu bringen, wie andererseits die Ziele desselben zu unbestimmt waren, als daß die Bewegung eine einheitliche, selbständig sich regelnde hätte werden können. Da trat, von der ewigen Gesetzmäßigkeit folgerechter geschichtlicher Entwicklung hervorgerufen, Franz von Assisi auf, der aus seinem die Entscheidung ahnenden und vollziehenden genialen Vermögen das versöhnende Wort fand! Er leitete die fortschrittliche ungestüme Strömung in ein abgegrenztes Flußbett und erwarb sich so das ewige Verdienst, sie vor einer unzeitigen Zerteilung bewahrt, ihre Kräfte gesammelt und auf ein einheitliches Ziel hin gerichtet zu haben. Das Ziel ist die Verinnerlichung des Menschen, das segensvoll einschränkende Bett die christliche Lehre und die erste bedeutende Verwertung der konzentrierten Kraft kommt der Kunst zugute!
Der nachgebende Teil aber beim Friedensschluß der zwei Parteien war die römische Kirche. Es ist nicht mehr und nicht weniger als eine Reform derselben, welche dieser Friedensstifter unmerklich und ohne einen Widerspruch zu finden, bewirkte. Er selbst, seiner ganzen Natur nach der Freiheitsbewegung angehörend und aus dieser hervorgegangen, aber nach seiner idealistischen Anlage in positivem Glauben ein Verehrer der von Gott selbst gestifteten Kirche, übertrug die Anschauungen einer volkstümlichen Religion, einer allem Dogmatischen fremden, rein im subjektiven Gefühl wurzelnden Liebe zu Gott, einer dem hierarchischen Prinzip zuwiderlaufenden persönlichen Nachfolge Christi in die römische Kirche selbst. Als Innocenz III. 1208 Franziskus und allen seinen Jüngern das Recht der freien Predigt gewährte, gewährte er zu gleicher Zeit dem Volke seine Forderungen, denn das Recht der freien Predigt, das heißt eines persönlichen Verhältnisses zur Bibel und Lehre, war es ja vor allem gewesen, was die Waldenser für sich, für das Volk verlangt. Indem Franziskus und sein die Volkselemente in sich aufnehmender Orden es sich zur Aufgabe machte, den Bedürfnissen des einzelnen durch die Predigt Genüge zu tun, wurde zwar das in seiner allgemeinen Durchführung überhaupt unmögliche Verlangen modifiziert, aber das eigentliche Wesentliche: ein volkstümliches Christentum geschaffen. Die Kluft, die zwischen den aristokratischen Institutionen des Klerus und des Benediktinermönchswesens einerseits und der großen Menge der Laien andrerseits gähnte, ward durch die demokratische Institution der Bettelmönche überbrückt. Die Hierarchie mußte sich zu der Aufnahme dieses heterogenen Elementes verstehen wie der Lehensstaat zu der Anerkennung der Städte. Und wie die Städte, so wurden die Bettelorden in den folgenden Jahrhunderten die eigentlichen Träger neuer Zivilisation und Bildung. Die beiden gehen demnach auch Hand in Hand: die Städte werden die Heimat der predigenden Mönche und die volkstümliche Religion der letzteren wird die Religion der Städte. Jeder Teil gibt und jeder empfängt.
Es kann keine Frage sein, daß die Folge dieser Wandlung eine Kräftigung und Vertiefung des Christentums gewesen ist. Was man Gegenteiliges sagen mag, beruht auf einer Überschätzung aller jener Erzählungen von Unglauben, Ketzertum, Materialismus, welche die zumeist von Geistlichen geschriebenen Chroniken der Zeit bringen. Gewiß ist es wahr, daß das Sektenwesen durch die Franziskaner und Dominikaner nicht erstickt worden ist, daß der Wohlstand in den Städten vielfach mit dem Genußleben auch Gleichgültigkeit gegen die Religion und Skeptizismus hervorbrachte – im großen und ganzen aber herrschte doch ein tief und wahr empfundener christlicher Glaube, der vor jenem des frühen Mittelalters eine größere Innerlichkeit und eine größere Gefühlswärme voraus hat. Das bezeugt nicht allein die beispiellose Verbreitung der Bettelmönchorden, die Größe und der reiche Schmuck ihrer zahllosen Kirchen, sondern auch die kirchliche Literatur, die in dem größten Gedichte jener Zeit ausgesprochene Weltanschauung und die bildende Kunst. Das alles aber berechtigt uns, jene volkstümliche Bewegung als die der christlich-katholischen Humanität zu bezeichnen. Wie sich dann in ihrem Verlaufe neben den positiven Errungenschaften, welche man dem Franziskanertum in Gesittung und Kunst dankt, wiederum aus ihm eine der Kirche sich feindselig entgegenstellende Richtung entwickelt, wird später noch seine Berücksichtigung finden. In den Bestrebungen Michaels von Caesena und Wilhelms von Occam macht sich in höchst konsequenter Weise hundert Jahre später die Erkenntnis geltend, daß jene durch Franz bewirkte Reform der Kirche doch nichts anderes als einen für die Dauer unmöglichen Kompromiß zwischen zwei heterogenen Elementen, der geistlichen Autorität und der geistigen Freiheit, bedeute. Und damit beginnt ein erneuter Kampf in Rom, dessen Verlauf unser Thema nicht mehr berührt.
Noch eines aber muß in Erwägung gezogen werden. Welche Rolle spielt denn bei dieser Neugestaltung der Verhältnisse jener andere Bettelmönchorden der Dominikaner, der doch meist an Bedeutung dem der Franziskaner verglichen wird? Die Antwort ist: eine untergeordnete! Vor allem ist Dominikus nicht wie Franz aus dem Volke und seinen Bestrebungen hervorgewachsen – er ist nicht wie dieser ein Repräsentant der volkstümlichen Anschauungen. Von dem Standpunkte orthodoxen Kirchenglaubens aus kommt er, dem Ketzerwesen in Südfrankreich oppositionell gegenüberstehend, zu der selbständigen Überzeugung, nur die Volkspredigt helfe der Kirche aus der Gefahr. Aber seine Predigt richtet sich mit den Waffen des Dogmas gegen die Irrlehren und verteidigt die Hierarchie. Er steht parteiisch auf der Seite von Rom, während Franz ein unparteiischer Vermittler ist. So gründet er auch anfangs keinen eigentlich neuen Orden, sondern nimmt die Regel der Augustiner an. Erst später unter dem Einfluß und nach dem Vorbilde der Minoriten-Kongregation entsteht die Bettelmönchgemeinde der Dominikaner. Fortan sind bei beiden die Gelübde dieselben, die Tätigkeit besteht bei beiden in der Predigt – aber der Geist ist ein ganz verschiedener! Die Dominikaner werden nur scheinbar Freunde des Volkes, nicht mit dem Herzen – sie vertreten die alte hierarchische Form des Christentumes und gebrauchen zur Verteidigung derselben die Waffen der Inquisition, welche die Kurie vertrauensvoll in ihre Hände gelegt hat. Die Liebe des Volkes haben sie nie in dem Grade wie die Franziskaner besessen, weil sie kein wirkliches Verständnis für dasselbe hatten. Daß gleichwohl auch sie gewaltige Volksprediger gewesen sind, daß auch sie Bedeutendes gewirkt, wird niemand leugnen, aber ihr eigentlicher Beruf ist der wissenschaftliche Kampf gegen Ketzer aller Art. Ihre scholastische Weisheit bezeichnet den Höhepunkt der mittelalterlichen Theologie und ragt in eine Zeit hinein, die, wie wir gesehen haben, bereits ganz anderen Idealen nachging. Es ist bedeutsam, daß erst im Verlaufe des 15. Jahrhunderts auch sie unter den siegreichen Einfluß der Humanitätsbewegung gerieten, aber gleichsam gezwungen, nicht wie die Franziskaner Anführer und Vorkämpfer derselben. Die Mystik des Franz und seiner großen Schüler war eine befreiende Tat, die Mystik der Tauler, Suso nur die Vorbereitung auf eine solche!
So bleibt dem Franziskus die weltgeschichtliche Bedeutung, die wir kurz zu skizzieren versuchen. Wenden wir uns nun zu ihm selbst, zu seinem Leben und Wirken, um in diesem einerseits die Bestätigung für das Gesagte zu finden, andererseits die Eigenart der geistigen Stimmung der Zeit besser kennenzulernen! Eine neue Biographie des Franz erscheint zudem trotz der grundlegenden Lebensbeschreibung von Hase Franz v. Assisi. Ein Lebensbild. Leipzig 1856., die zuerst glänzend und siegreich gegenüber den zahlreichen Verherrlichungen des Heiligen der historischen Kritik zu ihrem Rechte verhalf, trotz Bonghis interessanter Studie Francesco d'Assisi. Città di Castello 1884., welche die von Vogt neu gelieferten Beiträge Denkwürdigkeiten des Minoriten Jordanus von Giano. Abhdl. der phil. hist. Kl. der K. Sächs. Ges. der W. V. Bd. 1870. verwertete, nicht überflüssig. Sie ist auf eine eingehende Vergleichung und Kritik der drei Hauptquellen, deren Verhältnis zueinander zugleich mit einer kurzen Geschichte der Franziskanerliteratur im Anhang A eine besondere Besprechung finden soll, gegründet. Jene Quellen sind:
Erst Bonghi hat auf die ganz in Vergessenheit geratene II. vita wieder aufmerksam gemacht, sie aber zu wenig ausgenutzt, obgleich sie doch namentlich für die Kenntnis von Franziskus' Charakter die wichtigste Quelle, zugleich aber auch deswegen von besonderer Bedeutung ist, weil Bonaventura das meiste, was man bisher für neu von ihm beigebracht glaubte, ihr entnimmt.
Haben wir aber erst Franz selbst und sein Leben näher kennengelernt, so werden wir eingehender dem vielverzweigten Einfluß, den er und sein Orden auf die Entwicklung der großen christlichen Kunst in Italien ausgeübt, unsere Aufmerksamkeit zuwenden.