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XXIII

Das Hotelgebäude war nur zwei Stockwerke hoch und die fünf Menschen, die an der Brüstung des Daches standen, blickten wie von der dunklen Galerie eines Theaters auf die erleuchtete Bühne der Straße. Inmitten der arabischen Komparserie, die sich in bunten Gewändern auf dieser Bühne bewegte, fielen die zwei Gestalten in europäischer Kleidung so auf, wie die Helden einer Tragödie beim Souffleurkasten. Herr Shuler meckerte vor Entzücken über eine so rasche Bestätigung seiner Scherze.

»Habe ich Ihnen nicht gesagt, Sie müßten ein Auge auf ihn haben, Frau Tinker?«

Frau Tinker blieb stumm, sie starrte auf die Begleiterin ihres Mannes. Keine Frau hätte zu leugnen vermocht, daß diese Dame dort unten höchst vorteilhaft aussah, und auch eine weniger eifersüchtige Gattin als Frau Tinker hätte es nicht übersehen können, daß Madame Momoro sich dessen wohl bewußt war und alles daran zu setzen schien, an diesem Abend so auszusehen. Von der hellenischen Ruhe, die ein Schwärmer ihr einst angedichtet hatte, war nicht viel zu bemerken. In ihrem Abendkleid aus elfenbeinfarbener Seide, dem geöffneten Mantel aus grünem Venetianer Brokat, der bleichen Kupferfarbe ihrer Haare, die ein zarter Schleier nur leicht bedeckte, war sie die typische Pariserin. Eingehängt in ihren Begleiter, sprach sie schnell und lächelnd auf ihn ein, und ihre auf ihn gerichteten Augen mußten offenbar einen Ausdruck haben, der vollkommen nach seinem Geschmack war, denn er befand sich fraglos in einer Stimmung zärtlichster Ergebenheit.

Shuler begleitete jede Bewegung der beiden mit seinem lärmenden Humor. Er ließ ein Raketenfeuer von anzüglichen Bemerkungen los und dachte nicht im geringsten, daß er eine Katastrophe vorbereiten half. Ogle, der neben Olivia stand, bemerkte, wie die Haltung des jungen Mädchens immer mehr erstarrte: sie schien vor Entsetzen vereist und ihr Entsetzen galt den kommenden Dingen.

Er erinnerte sich der atemlosen Ängstlichkeit, mit der sie bestrebt gewesen war, die Aufmerksamkeit ihrer Mutter abzulenken. Es wurde ihm klar, daß Olivia, obwohl sie an dem Benehmen ihres Vaters nichts Böses fand, doch in höchster Sorge um ihn war, weil sie den Charakter ihrer Mutter kannte.

Das Paar unten war jetzt stehen geblieben. Madame Momoro neigte sich ganz dicht – es sah beinahe zärtlich aus – zu ihrem Begleiter und dann tat sie etwas, was Ogle mit quälender Gewißheit von ihr erwartet hatte: sie klopfte Tinker einige Male auf seine muskulöse Schulter und ließ bei der letzten dieser freundlichen Liebkosungen ihre Hand liebevoll an seinem Arm hinabgleiten. Dann nahm sie wieder vertraulich seinen Arm und schritt mit ihm dem Hoteleingang zu.

Die meckernden Kommentare des fatalen Shuler verstummten auch nicht, als Frau Tinker jetzt wortlos die Treppe hinabschritt, die ins Hotel führte. Erst das zornige Flüstern seiner Frau brachte ihn zum Schweigen, und er zog mit ihr ab, verblüfft über ihre Vorwürfe. Auch Olivia hatte sich umgewandt, um ihrer Mutter zu folgen, aber Ogle hielt sie zurück.

»Sie wollten mir noch sagen, wie Sie erfahren haben, daß ich der Autor der ›Pastoralen Szene‹ sei.«

»Oh, ein Zufall. Papa fand hier eine Menge amerikanischer Zeitungen vor und in einer las ich zufällig, daß Isabella Clarkson, die in Laurence Ogles ›Pastoraler Szene‹ gespielt hatte, jetzt ›Hedda Gabler‹ probe. So erfuhr ich, wer Sie sind. Jetzt muß ich aber eilen, denn ich fürchte, es wird manches für mich zu tun geben.« –

Als Ogle wieder in seinem Hotelzimmer stand, fand er, daß seinen vielen Sorgen eine neue hinzugefügt war. Isabella Clarkson war die Frau des Theaterdirektors, der sein Stück aufführte, und er konnte es weder begreifen noch billigen … Was hatte sie, zum Teufel, mit der »Hedda Gabler« zu tun … Selbst, wenn sie nur in einer Nachmittagsvorstellung spielen wollte … das zersplittert das Interesse des Publikums für sie und für die Abendvorstellungen, schadet seinem Stück … Sie hat für die »Hedda« noch ein paar Jahre Zeit … Während er noch darüber grübelte, brachte ihm ein arabischer Diener einen Brief. Er erbrach ihn und las:

»Mein Lieber! Ich bitte Sie zu verzeihen, wenn ich Sie heute abend allein mit Hyacinthe dinieren lasse. Sie haben mich bei so vielen Mahlzeiten gesehen, daß Sie diese Ausnahme vielleicht sogar ungalanterweise als Erholung empfinden werden. Deswegen sollen Sie mir dafür danken, wenn Sie mich wiedersehen, und bis dahin mein lieber Junge bleiben. Als Zeichen meiner Sympathie gebe ich Ihnen in Gedanken einen kleinen Klaps auf die Schulter. Bitte vermissen Sie mich trotzdem ein wenig!«

Ogle, der sein Ankleiden unterbrochen hatte, um den Brief zu lesen, ließ sich auf die Kante seines Bettes sinken und vergrub seinen Kopf in die Hände. Wenn er sich an das erinnerte, was er vom Hoteldach aus gesehen hatte, vermochte er schließlich ein schwaches, angeekeltes Lachen hervorzubringen. Dann trat er wieder vor den Spiegel, um unter den zwei weißen Dreiecken seines Kragens aus seiner Halsbinde mit peinlichster Sorgfalt das Abbild eines schwarzen Schmetterlings zu formen.

 

An dem Tischchen im Speisesaal war er lange Zeit ebenso schweigsam wie Hyacinthe, obwohl es einige Themen gab, die er mit dem Jüngling zu erörtern wünschte, ehe die Mahlzeit zu Ende ging. Er wartete jedoch und ließ seine Augen durch den Saal schweifen. Er bemerkte Olivia Tinker, die allein an ihrem Tische saß, gleich hinter jenem der Jungvermählten von Fülderstein, der trotz ihres Inkognitos reich mit Blumen geziert war. Olivia machte wohl ein ernstes Gesicht, aber Ogle fiel es auf, daß ihre frühere Verdrossenheit aus ihren Mienen geschwunden war, und als sie den Kopf wandte und seinem Blick begegnete, strahlte sie plötzlich in so bezaubernder Sonnigkeit, daß sie von Ogle sogar ein schiefes Lächeln zurückerhielt.

Er errötete ein wenig bei der Anstrengung, auch nur diese Ähnlichkeit eines Lächelns hervorzubringen, und entschied dann, da die Kellner eben den Nachtisch servierten, daß nun der Augenblick gekommen wäre, mit Hyacinthe zu sprechen.

»Hat Ihre Mutter erwähnt, wo sie heute Abend speist?«

»Meine Mutter?« Hyacinthes Augenbrauen und Schultern drückten den Wunsch aus, jede Verantwortung abzulehnen. »Ich habe sie nicht gesehen, seit wir hier ankamen. Sie war sehr müde, vielleicht hat sie das Essen auf ihr Zimmer bringen lassen.«

»Glauben Sie?«

»Meinen Sie, daß sie in ein anderes Hotel gegangen ist?« Hyacinthe blickte auf und Ogle las in seinen Augen Unruhe und geheime Befürchtung.

»Ich weiß es nicht«, erwiderte Ogle, in diese Augen blickend, und da er überzeugt war, daß er von Hyacinthe über diesen Gegenstand nichts weiter würde erfahren können, begann er ein zweites Thema, das ihn schon lange beschäftigte.

»Erinnern Sie sich noch an jenen Engländer, dort oben in den Bergen, Broadfeather, der so plötzlich verschwunden ist? Was mag ihn veranlaßt haben, abzureisen?«

»Was? Ich dachte, meine Mutter hätte es Ihnen erzählt. Der Wein war ihm zu Kopf gestiegen, wir mußten unser Spiel abbrechen, und ich glaube, er hat sich dann geschämt meiner Mutter nochmal vor die Augen zu treten.«

»Was hat er denn gesagt, daß Sie die Bridge-Partie abbrechen mußten?«

»Nichts besonderes«, erwiderte der junge Mann, während eine leichte Röte in seine Wangen stieg und er seine Unterlippe ein wenig vorschob, wodurch sein Gesicht einen störrischen und verächtlichen Ausdruck bekam. »Er hält sich für einen großen Bridgespieler und er hatte uns beide Male, in Bougie und Michelet, zu einem Spiel aufgefordert. In Bougie hatte er zu viel Beaune getrunken und er war zu benommen, um begreifen zu können, wieso er an beiden Abenden im Verlust war. Er behauptete, ich hätte falsch abgerechnet. Dummer Kerl! Als ob ich so etwas bei einem minderwertigen Spieler tun würde.« Hyacinthes Wangen färbten sich noch dunkler und er fügte rasch, wie um eine unbedachte Äußerung zurückzunehmen, hinzu: »Das soll natürlich nicht heißen, daß ich es überhaupt jemals tun würde.«

»Ich verstehe«, gab Ogle zurück und fuhr, allerdings nicht mit voller Überzeugung, fort: »Natürlich nicht.« Dann begann Ogle einige Zusammenhänge zu erraten. Er erinnerte sich, daß die einzige Zerstreuung der Schwestern Daurel auf der »Duumvir« die Bridgepartie mit Madame Momoro und ihrem Sohn gewesen war. »Ihre Mutter hat mir einiges von Ihren Schwierigkeiten mit Mademoiselle Daurel erzählt. Auch sie hat sich über Sie geärgert, wie der Engländer, nicht?'

»Sehr«, sagte Hyacinthe verbittert. »Ihr ganzes Leben besteht aus Bridge und Beten und meine Mutter unglücklich zu machen. Mir wäre es ja ganz gleich, wenn das alte Weib nur meine Mutter in Ruhe ließe. Sie ist eine Furie, diese Daurel! Für eine goldene Zigarettendose oder einen Pelzmantel verlangt sie, daß man ihr sein ganzes Leben schenkt! Aber bares Geld können Sie keine zwei Sous von ihr sehen! Was soll man also machen? Man muß sich mit dem begnügen, was man ihr, zu fünfzig Centimes den Point, im Bridge abgewinnt, und selbst da wird sie toll, wenn sie verliert. Ja, da kann man nichts anderes tun, als sie ruhig toll werden lassen und muß es in den Kauf nehmen, daß sie einen aller Abscheulichkeiten beschuldigt. Aber in Algier war sie unerträglich! Ich sage Ihnen, selbst wenn sie es wollte, jetzt würde ich mich weigern, mich adoptieren zu lassen.«

Er hatte heftiger gesprochen, als Ogle ihm je zugetraut hätte, und eine düstere Glut funkelte bei diesen letzten Worten, die sein Zuhörer recht aufschlußreich fand, in seinen Augen. Auch stand diese Erklärung des jungen Hyacinthe in auffallendem Widerspruche zu der Schilderung, die seine Mutter von ihrem Streit mit Fräulein Daurel gegeben hatte. Madame Momoro hatte sich in der rührenden Darstellung einseitiger Wahrheit kunstreicher erwiesen als ihr Sohn.

Ogle drängte den jungen Mann nicht, noch mehr zu sagen. Eigentlich tat er ihm bloß leid, und er hatte von den erhaltenen Aufschlüssen vollkommen genug. Wenn er wollte, konnte er sich weitere Einzelheiten und Zusammenhänge konstruieren; im Augenblick hatte er nicht den Wunsch, sich dieser Beschäftigung zu widmen. Nach einer kleinen Pause sagte aber Hyacinthe doch noch etwas, was Ogle verblüffte.

»Sie sind hier, wissen Sie«, erzählte er ruhig.

»Wer ist hier?«

»Mademoiselle Daurel und ihre Schwester. Sie wohnen in einem anderen Hotel. Sie müssen erraten haben, daß wir nach Biskra kommen würden. Als wir heute nachmittag ankamen, lag beim Portier schon ein Brief von ihnen für meine Mutter; sie wollten sofort mit meiner Mutter sprechen.«

Ogle starrte ihn an.

»Also dorthin ist sie heute abend gegangen?«

Hyacinthe sah ihn mit echter Traurigkeit an. »Kann sein, wenn sie nicht auf ihrem Zimmer ist.« Er schluchzte schmerzhaft, seine Verzweiflung war offenbar. »Wenn sie ihnen verspricht, daß wir mit ihnen zurückfahren …« Er sprang auf, als könnte er in diesem überfüllten Raum nicht länger bleiben. Doch dann erinnerte er sich seiner guten Erziehung und setzte sich wieder.

»Verzeihen Sie,« sagte er rührend, »… ich hatte nicht bemerkt, daß Sie ihr Obst noch nicht gegessen haben.«


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