Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Der englische Billardspieler, der sich so ergrimmt über das Geräusch der Heizung beklagt hatte, erwies sich auch sonst als Querulant. Täglich konnte man im Speisesaal hören, wie er den Oberkellner umständlich über die richtige Temperatur der Weine belehrte, über die Naturgesetze, nach denen sich die Konsistenz der Suppen und Grützen richtet, und über manche andere Dinge, die zu seiner Glückseligkeit offenbar notwendig waren. Unaufhörlich ertönte seine durchdringend hohe Vogelstimme, und jeder Satz, den er sprach, wiederholte die gleiche kleine Melodie, die immer mit einem höheren, gleichsam fragenden Ton endete, obwohl er weder musikalische Absichten hegte, noch eine Frage zu stellen hatte. Blond, hager, mit schmaler Hakennase und einem verwaschenen Schnurrbart, der tief über die Lippen hing, war er das Prototyp des alten Kolonialobersten, wie man ihn auf der Bühne darstellt.
Drei Damen mittleren Alters und ein langnasiges Mädchen, das Wangen wie eine Bauerndirne und eine ausgesprochene Neigung für unmoderne, abgetragene Kleider hatte, kreisten in engen Bahnen um den nörgelnden Herrn, der eine der älteren Damen mit »meine Liebe« anredete. Er selbst wurde von den zwei anderen Damen und dem Mädchen mit »S'William« angesprochen, was Ogle, dessen Platz beim Speisen in ihrer Nähe war, arges Kopfzerbrechen verursachte. Der Portier klärte ihn endlich auf; der Nörgler war niemand anderer als General Sir William Broadfeather, ein Mann von bedeutenderen Leistungen, als Ogle nach seinem Aussehen vermutet hätte.
Sir William wartete inmitten seiner kleinen weiblichen Truppe in einem mit schweren Vorhängen gezierten maurischen Gesellschaftsraum des Hotels auf seinen Tee, und Ogle, der eben von einer Ausfahrt zurückgekehrt war, setzte sich den Engländern gegenüber an einen Tisch und bestellte ebenfalls Tee.
Es verging eine gute Zeit und der bestellte Tee erschien noch immer nicht. Plötzlich begann Sir William mit seinem Spazierstock gegen eine Messingplatte zu schlagen, die auf einem maurischen Taburett aus Ebenholz und Perlmutter vor ihm stand. Der Erfolg war überraschend. Von der Veranda und aus dem Garten eilten die Gäste herbei, um zu sehen, was los sei. Und der Portier, von einem Lohndiener gefolgt, stürzte erschrocken ins Zimmer.
Sir William erhob sich zu seiner vollen Größe und begann erregt auf und ab zu gehen.
»Mein lieber Mann«, sprach er den Portier mit Falsettgewimmer an. »Kann man denn in diesem Hotel überhaupt nicht bedient werden? Ein niederträchtiger Lügner, der als Kellner verkleidet war, hat uns vor einer halben Stunde Tee versprochen und wir haben ihn noch immer nicht bekommen!« Der Portier sprach besänftigend, aber Sir William wollte nicht besänftigt werden. Alles, was der Portier sagte, wehrte er immer wieder durch den einen Satz ab: »Aber wir haben ihn noch nicht bekommen!« Selbst, als endlich zwei Kellner mit Servierbrettern erschienen, beharrte er noch mit einer Stimme, die man durch das ganze Haus hören mußte, bei seiner Beschwerde: »Mein lieber Mann, für Sie mag es ja ganz schön sein, uns zu sagen, daß wir ihn bekommen werden, aber ich sage Ihnen, wir haben ihn noch nicht bekommen!«
Er sank in seinen Sessel zurück, war aber noch lange nicht zufriedengestellt, denn jetzt sagte er: »Einfach unerhört!« Eine der Damen sprach sehr ruhig: »S'William«, entweder weil sie ihm beipflichtete, oder weil sie ihn beruhigen wollte. Und immer, zwischen zwei Schluck Tee sagte er sein »Einfach unerhört« und die Dame mit dem gleichen ruhigen Tonfall ihr »S'William«.
Es lag viel Kultur in alledem, dachte Ogle; diese Engländer kannten jene ängstliche Befangenheit nicht, die er an sich selbst so störend empfand. Sie waren stets ihrer selbst so sicher, daß keine mögliche Kritik von Zuschauern sie je einschüchterte, ja, es konnte in ihren Augen gar keine Kritik ihrer Handlungen geben, denn sie wußten immer ganz genau, was sie wollten und dachten an nichts anderes. Während Ogle die Engländer noch um dieses Selbstbewußtsein beneidete, das, wie er meinte, seinen eigenen Landsleuten immer unerreichbar bleiben würde, kam jener Landsmann durch das Zimmer, in dessen Gesellschaft er sich vor dem General und seinen Damen am wenigsten zu zeigen wünschte. Ogle bückte sich krampfhaft auf seine Tasse nieder und hoffte, nicht erkannt zu werden. Es war vergeblich.
»Ja, ich bin einfach starr!« rief Tinker und blieb vor seinem Tisch stehen. »Sie trinken Tee? Wirklichen Tee?« Und er setzte sich unbefangen in einen Sessel neben Ogle. Der hätte ihm am liebsten gesagt: »Lassen Sie mich doch endlich in Ruhe! Ich wünsche Ihre Gesellschaft nicht, nicht einmal Ihre Bekanntschaft!« Aber er war zu schwach, diesen ehrlichen Weg einzuschlagen. Er verschanzte sich bloß hinter einer konventionellen Kälte, obwohl er bereits wiederholt erfahren hatte, wie unwirksam diese Haltung war, die Tinker als Blödigkeit mißdeutete. Ogle hätte es bei weitem vorgezogen, für ungezogen gehalten zu werden.
»Tee!« wiederholte Tinker überlaut. »Ich dachte, den trinken bloß Weiber und Engländer. Übrigens gibt es paar Engländer hier. Wir sind leider Zimmernachbarn und gestern tranken sie ihren Tee auf dem Balkon, als ich gerade ein kleines Schläfchen machen wollte. Ich hab' sie nicht gesehen, aber gehört! Irgend etwas mit dem Tee muß schief gegangen sein, vielleicht wurde er auch nicht rasch genug gebracht. Gottchen! Man hätte meinen können, die Leute würden ermordet. Es war auch so ein alter blechstimmiger Kerl dabei – na, ich sage Ihnen! Eine halbe Meile weit muß sein Gackern zu hören gewesen sein.« Tinker warf seinen Kopf zurück und lachte lärmend. Dann beruhigte er sich langsam und fragte im Ton, mit dem man einen Kranken nach seinem Leiden ausforscht: »Und Sie trinken Tee gern?«
»Gewiß.«
»Sonderbar. Sehr sonderbar«, sagte Tinker nachdenklich und ernst. »Hören Sie,« raffte er sich schließlich auf, »ist das hier nicht der verrückteste Ort der Welt? Denken Sie bloß an den Kanal, aus dem wir Sie heute Nachmittag herausfischten. Eigentlich sollten die Vereinigten Staaten ihre Armee herüberschicken und ein Großreinemachen veranstalten. Wenn es in meiner Stadt eine solche Stinkgrube von Unrat und Bazillen gäbe, würde sie keine Viertelstunde lang geduldet werden! Unser Führer sagte, es gäbe noch ärgere Teile der Stadt, die er uns gar nicht gezeigt hätte. Übrigens ein sehr netter Mensch – für einen Nichtamerikaner. Ein Vollblutfranzose, aber er heißt John Edward. Der alte Schwarze, der seinen Cake-walk um uns tanzte, war mir noch der liebste von allen Kreaturen, die ich im ganzen Ort zu sehen bekam. Die einzige Menschenseele, die etwas Humor in sich hatte. Die übrigen sahen aus, als würden sie keinen Augenblick zögern, uns um einen lumpigen Nickel die Kehle zu durchschneiden. – Komisch, daß wir die ganze Zeit im gleichen Hotel wohnen und nichts davon wußten. Vermutlich, weil wir im Restaurant essen und Sie Dabbel dott. – Es heißt doch so, nicht wahr?«
»Ja, ich glaube, so ähnlich.«
»Ja, das habe ich von unserem Führer gelernt. Er spricht auch ziemlich gut englisch, aber es ist ja doch nicht so, wie man mit jemand reden könnte, der weiß, was die Whiskyschmuggler im letzten Jahr den Senatoren angetan haben und so! Immerhin eine Erlösung, jemand zu finden, mit dem man überhaupt englisch reden kann. – Na, bisher habe ich noch keine Flöhe, aber meine Frau behauptet, sie hätte schon einen oder zwei entdeckt. Aber es gefällt uns ganz gut hier drüben. Bis auf den Geruch! Heute nachmittag, kurz nachdem wir Sie getroffen hatten, bekamen wir eine Probe davon. Na, ich danke bestens!« Er hielt inne, beugte sich vor und legte seine Hand feierlich auf Ogles Knie. »Also, wenn ich heimkomme, mein Junge, soll nur niemand versuchen, mir etwas über Gerüche zu erzählen!«
Als Tinker ihn »mein Junge« nannte, blickte Ogle entsetzt und verstohlen zu den Engländern hinüber, die Tinkers herzliche mittelwestliche Stimme nicht überhört haben konnten; aber die waren glücklicherweise mit ihren eigenen Angelegenheiten beschäftigt. Der General beanstandete die Marmelade. »Sie zwickt ein bißchen«, sagte er und eine der Damen widersprach: »Zwickt? Sie sind zu ulkig, S'William!«
Auch Tinker hatte diesem anspruchslosen kleinen Dialog gelauscht und sein an amerikanischen Slang gewöhntes Ohr erkannte gar nicht, daß sie englisch sprachen. Die fremdartigen Laute und die Leute, die ihm eben so fremdartig erschienen, interessierten ihn.
»Französische Familie, vermutlich«, meinte er und während Ogle vor Entsetzen eine Gänsehaut bekam, fügte er, ohne seine Stimme im mindesten zu dämpfen, hinzu: »Drollige Namen haben sie füreinander. Scheint, daß sie den alten Vogel ›Swillium‹ nennt. Was glauben Sie, heißt das in unserer Sprache?«
Aber Ogle packte ihn am Arm. »Pst!« flüsterte er. »Es sind Engländer! Herrgott, haben Sie denn weder Augen noch Ohren? En-gländer!!«
»Sie glauben?« erwiderte Tinker, nicht wenig überrascht. »In meiner Stadt gibt es einen Juden, der ist in England geboren und aufgewachsen. Der redet immer noch ein wenig komisch. Aber sonst ein sehr gerissener Bursche: Versicherungsmann.« Er holte eine Zigarre hervor und zündete sie an. Offenbar als eine Art Interpunktion, um den Wechsel des Gesprächsstoffes vorzubereiten. »Tja. Dieser John Edwards behauptet, hier herum hätte sich eine Menge Geschichtliches zugetragen. Angeblich waren die alten Römer hier und Spanier, Türken, Mohammedaner und was weiß ich, wer noch alles. Interessanter Teil von Europa.«
»Wir sind hier nicht in Europa,« korrigierte ihn Ogle mit einiger Schärfe, »wir sind in Afrika.«
»Natürlich, natürlich!« Tinker lachte und rieb sich den Hinterkopf. »Meine Frau wiederholt mir das jeden Tag ein paar dutzend Male. Aber die Leute sagen immer, daß sie nach Europa fahren, und so schnell kann man nicht umlernen. Schließlich läuft es ja auf dasselbe heraus; Europa, Afrika – überall Schmutz und alte Ruinen und meistens rückständige Leute. Meine Frau und Bibbih haben über die Geschichte und das Malerische und so weiter natürlich alles nachgelesen, aber ich selbst würde mir diese Dinge ja doch nicht merken.« Er unterbrach sich und kicherte ein wenig schuldbewußt. »Ich glaube, ich werde sie nicht mehr Bibbih nennen dürfen. Sie hat mir nicht schlecht eins ausgewischt, weil ich sie heute Nachmittag vor Ihnen so gerufen habe.« Er brach ab und für einen Augenblick schien seine gute Laune geschwunden zu sein. Er sah bekümmert aus. »Ich fürchte, sie unterhält sich hier nicht so gut, wie ich gehofft hatte«, sagte er wie im Selbstgespräch. Dann fragte er mit erneuter Lebhaftigkeit und zu Ogles großer Überraschung: »Haben Sie schon Frau Mummero gesehen, seit Sie hier sind?«
»Nein«, erwiderte Ogle kurz. Doch von einem plötzlichen Verdacht getrieben, fragte er: »Und Sie?«
Dann gewahrte er mit schmerzlicher Ahnung, die nur allzu schnell zu unseliger Überzeugung wurde, wie das breite gutmütige Gesicht vor ihm sich dunkler färbte und verstohlenes Vergnügen ausdrückte.
»Ich will Ihnen 'mal 'was sagen«, begann Tinker salbungsvoll. »Aber, daß Sie auch keiner Menschenseele eine Silbe verraten! Meine Frau würde mich sonst bei lebendigem Leibe zerfleischen. Frau Mummero kennt sich hier gut aus, da ist nichts zu wollen! Vorgestern hat sie mich zu einer Autotour verführt, um mir ein paar Ruinen zu zeigen, so ungefähr achtzig, neunzig Kilometer weit, glaube ich. Und gestern hat sie mich dazu gekriegt, in einem Hotel da hinter dem Berg mit ihr Mittag zu essen.«
»Was?« keuchte Ogle. »Sie haben …!«
»Sie ist ein Unikum!« sagte Tinker ernsthaft. »Diese Frau hat mehr Hirn im kleinen Finger, als ein ganzes Bankkonsortium im Kopf. Sie …«
Er wurde unterbrochen. Seine Tochter trat von hinten an seinen Sessel heran und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Mutter läßt dir sagen, du sollst dich umkleiden.«
»Donnerwetter«, rief Tinker und sprang schuldbewußt auf. »Wie lange stehst du schon da hinten? Hast du zugehört, was ich …«
»Nein«, unterbrach sie ihn brüsk. »Deine Geschichten interessieren mich nicht.«
»Na, das hat auch manchmal sein Gutes«, erwiderte Tinker beruhigt, wobei er Ogle mit einem kameradschaftlichen Augenzwinkern bedachte. »Seh' Sie noch«, sagte er gemütlich und ging fort.
Olivia machte Miene, ihn zu begleiten, aber als widerstrebe es ihr, mit ihm auch nur bis zum Aufzug zu gehen, wandte sie sich der anderen Türe zu; dann zögerte sie ein wenig und kam nach einem Augenblick zu Ogle zurück. Der starrte immer noch bleichen Gesichtes Tinker nach.
»Ich glaube nicht, daß Sie heute Nachmittag verstanden haben, was ich Ihnen sagen wollte, Herr Ogle.«
»Was?« fragte Ogle gedankenlos, besann sich aber sogleich. »Verzeihen Sie, wollen Sie sich nicht setzen und ein wenig Tee nehmen?«
»Nein, danke. – Ich versuchte heute Nachmittag, als wir Ihnen im Araberviertel begegneten, etwas zu sagen, aber ich glaube nicht, daß Sie es verstanden haben. Sie haben nur meinen Vater angesehen. Sie waren zu sehr damit beschäftigt, meinen Vater zu verachten.«
»Verzeihen Sie, ich glaube, Sie irren sich.«
»Glauben Sie das wirklich?« sie lachte kurz und bitter auf. »Wir wollen darüber nicht streiten. Ich kann's ja schließlich verstehen. Ich selbst benehme mich nicht sehr gut gegen ihn, Sie müßten blind sein, wenn Sie das nicht bemerkt hätten. Aber ich verachte ihn nicht, obwohl ich ihn vielleicht hasse. – Doch das ist schließlich meine Sache. Ihnen wollte ich nur sagen, daß ich am letzten Abend auf der ›Duumvir‹ nicht so gesprochen hätte, wenn ich geahnt hätte, ich würde Sie je wiedersehen.«
»Das weiß ich.«
»Ich vermute …,« sie holte rasch und hörbar Atem und ihre Augen öffneten sich weit, »Sie glauben wahrscheinlich, ich nehme das nur zum Vorwand, um wieder mit Ihnen zu sprechen.«
»Keine Spur. Aber ich verstand schon und Sie hätten es nicht erklären müssen.«
»Ich mußte das klarstellen«, sagte sie leise, aber heftig. »Sie hätten sonst meinen können, ich hätte das alles auf der ›Duumvir‹ nur gesagt, damit Sie an mich denken sollten. Mädchen tun manchmal dergleichen.«
Ogle wurde nervös. Was er von Tinker über Madame Momoro gehört hatte, war genug gewesen, ihn aus der Ruhe zu bringen; und nun quälte ihn noch Tinkers Tochter.
»Es wäre mir nicht eingefallen,« sagte er, »derartiges zu meinen und ich habe überhaupt nicht mehr daran gedacht.«
Ihre Wangen röteten sich und entrüstet flammten ihn ihre Augen an. Sie stieß einen halbunterdrückten Schrei aus. »Oh, wie Sie diesen Leuten gleichen! – Wir fahren morgen weiter und nun werde ich Sie bestimmt nicht wiedersehen, also kann ich dem, was ich auf dem Schiff gesagt habe, noch etwas hinzufügen: Sie sind ganz genau wie die Leute, die wir heute gesehen haben.«
»So? Was für Leute denn?«
»Jene scheußlichen Geschöpfe im Araberviertel, die einen so anstarren. Genau denselben Blick haben Sie, wenn Sie meinen Vater ansehen oder meine Mutter – oder mich!« Und während ihre Augen nicht nur glühten, sondern geradezu blaue Flammen nach ihm schossen, wandte sie sich mit einem Ruck ab und stürzte aus dem Zimmer.
Ogle verzichtete wütend auf seinen Tee und trat auf die Terrasse hinaus. Es war ihr gelungen, ihn so zornig zu machen, daß er für einige Zeit sogar vergaß, was er von ihrem Vater erfahren hatte. Aber während er in der sinkenden Dämmerung auf und ab schritt, dachte er nicht mehr an sie und nur noch an Madame Momoro. Die Beleidigungen eines ungezogenen amerikanischen Mädels waren leichter zu ertragen als das unergründlich falsche Spiel der französischen Dame.