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Vom nördlichen Atlantik peitschte ein Januarsturm Wind, Regen und Schnee gegen die amerikanische Küste, die sich in weitem Bogen von Neu-Schottland bis Kap Delavare dehnt. Die Gewalt des Sturmes war so heftig, das Meer zu solchem Tumult aufgewühlt, daß nichts unwahrscheinlicher schien, als daß Menschen sich dort draußen zwischen den dahinrasenden Wellenbergen nicht nur am Leben erhalten, sondern in eigensinniger Tollkühnheit ihre Reise fortsetzen könnten. Und doch hielt der große Ozeandampfer »Duumvir« an seinem Kurs fest, obwohl der Nordost nirgends ärger tobte als entlang der Route, auf der dieses Schiff fünf Stunden nach der Ausfahrt aus New York rollte und schlingerte.
Dreißigtausend Tonnen verdrängte dieser Ozeanriese, aber die Wassermenge, die sich, gleichsam zur Vergeltung, ihn zu verdrängen bemühte, war noch bedeutend größer. Die Bemühung zielte übrigens auf endgültige Verdrängung, denn in den Tiefen schien die Überzeugung zu herrschen, daß dieses Schiff zu Unrecht einen Platz an der Oberfläche des Wassers beanspruche und zu einem Unterseeboot herabgedrückt werden müsse.
Die »Duumvir« selbst schien manchmal gleicher Meinung und duckte sich unter den ungeheuren Erdrückungsversuchen. Dann erhob sie sich wieder, von herabströmendem Wasser wie von einem langen, weißen Katarakt umhüllt, und stand als undeutlich symmetrische Form gegen den chaotischen Himmel. Dieses Aufbäumen geschah wie im Krampf und nur auf kurze Dauer. Das große metallene Ungeheuer schüttelte sich donnernd und war sogleich wieder unter abenteuerlichen Wolken von Meerwasser begraben. Die einzige Erleichterung, die es sich schaffen konnte, schien darin zu bestehen, daß es sich beim Aufstieg wie beim Niedertauchen bald auf die eine, bald auf die andere Seite legte. Eine Nußschale allerdings hätte unter den gleichen Verhältnissen lebhaftere Bewegungen gezeigt, aber die »Duumvir« tat manches, was auch eine Nußschale nicht anders getan hätte, und da sie schwerer war, tat sie es wirkungsvoller.
Am fühlbarsten war diese Wirkung in ihrem Innern; hier hätte man, fern von den heulenden Decks, daran vergessen können, daß man sich auf einem Schiff befand, so sehr erinnerte alles an ein prunkvolles Hotel, das auch jetzt noch seine ganze Pracht zeigte, obwohl es die Schrecken eines ununterbrochenen Erdbebens mitmachte, und sich darüber in allen Fugen laut stöhnend beklagte. Die großen Salons und Gesellschaftsräume, die wohl menschenleer, aber immer noch von einer verschwenderischen Fülle elektrischen Lichtes übergossen waren, schwankten, taumelten und drehten sich wie Säle eines Palastes im Alptraum eines Fieberkranken. Die begleitende Musik zu diesem phantastischen Tanz wurde von der bemalten Decke und den getäfelten Wänden geliefert, die in allen Tonarten, in denen verrenktes Holz und Metall sich ausdrücken können, gegen das Toben der Elemente protestierten. Schmerzvoll harmonierten mit diesen Protesten die Klagen und Verwünschungen, die aus den Kabinen drangen, aus jenen kleinen Hotelzimmern, die so freundlich ausgesehen hatten, als das Schiff noch im Dock lag.
In der ganzen langen Flucht der Luxuskabinen herrschte beklemmende Angst, aber nirgends in dem ungeheuren Leibe der »Duumvir« ärger als in dem reizvoll ausgestatteten Appartement, wo der erst kurze Zeit erfolgreiche und reichgewordene junge Dramatiker Laurence Ogle unaufhörlich hin und her rollte. Dieses Rollen geschah durchaus gegen seinen Willen: sein leidenschaftliches Verlangen war vielmehr auf Bewegungslosigkeit gerichtet und bedenkenlos hätte er Unsummen von den künftigen Tantiemen seines Stückes, das in der zweiundvierzigsten Straße New Yorks gespielt wurde, hergegeben, hätte er dieses Verlangen wenigstens für Augenblicke stillen können. Aber noch größere Summen hätte er geopfert, wenn er diese seine erste Seereise abbrechen und wieder auf dem unbeweglichen Gehsteig irgend einer Straße hätte stehen können, und wäre es auch das schmalste Gäßchen gewesen. Auch jedes andere Fleckchen Erde, ob Berg oder Ebene, selbst die Krone eines Baumes, wenn er bloß in fester Erde verwurzelt war, hätte er gern gegen seine gegenwärtige Lage eingetauscht.
Sein neuer Kabinenkoffer war aufgesperrt und dann aufrecht an die Wand des Badezimmers geschnallt worden. Aber mit dem Riemen schien etwas nicht in Ordnung zu sein, denn von Zeit zu Zeit erschien der Koffer in der Verbindungstür und kippte wie trunken, um bald ein Paar Hosen, bald ein anderes Kleidungsstück über die Schwelle zu werfen und sich dann wieder ins Badezimmer zurückzuziehen, wo er ein Poltern und Krachen hören ließ, das auf allerlei zerbrechliche Dinge hindeutete. Ogle aber war gegen dies, wie gegen alles andere gleichgültig. Einige Stunden zuvor hatte er einen Steward in seine Zurückgezogenheit berufen; doch der hatte sich so wenig abgehärtet erwiesen, ja selbst allzu deutliche Zeichen eines leidenden Zustandes gezeigt, daß Ogle den Mann nie mehr wiederzusehen wünschte. Und selbst wenn ein Wunsch nach Gesellschaft oder Beistand in ihm rege geworden wäre, so hätte er die Hand ausstrecken müssen, um den Glockentaster zu erreichen; nichts wäre ihm unmöglicher gewesen als die Hand zu heben. Auch ohne seinen Willen wurde sie samt seiner Kabine, seinem Bett und seinem Körper öfter gehoben, als ihm lieb war, und die Höhepunkte dieser Bewegung bildeten Ogles ärgste Augenblicke.
Er stieg in Spiralen auf und wurde dabei seitwärts gerüttelt und dieser kurvenförmige Aufstieg geschah langsam und dauerte unendlich lange, um dann auf dem Höhepunkt für einen Augenblick, der eine neue Ewigkeit schien, in ein Schweben überzugehen; ein Abstieg folgte, der Ogle das Gefühl gab, mit rasender Geschwindigkeit in einem Aufzug zwei, drei Stockwerke tief hinabzusausen. Anfangs sank das Bett rascher unter ihm als er selbst, so daß er gleichsam gewichtslos wurde, dann wieder, als das Bett von neuem zu steigen begann, meinte er, allzuviel Schwere zu besitzen. Sein ganzes Ich schien nur noch aus Brechreiz und unerwünschten Bewegungen zu bestehen. Dies unaufhörliche Schlingern und Rollen waren also jene Annehmlichkeiten und Bequemlichkeiten einer Seereise, zu denen die »Duumvir« in den kleinen mit allerlei heiteren Bildern geschmückten Prospekten eingeladen hatte? Er war jetzt davon überzeugt, daß alle die lächelnden Damen in Liegestühlen, die Tee und Suppe anbietenden gefälligen Stewards und auch die heiteren Paare, die auf dem ganz wagrechten Parkett eines Saales tanzten, nur lügnerische Photographien waren, die man »gestellt« hatte, als das Schiff noch ruhig im Hafen lag.
Und Ogle begriff nicht, wie er so verblendet hatte sein können, sich freiwillig in seine gegenwärtige fürchterliche Situation zu begeben. Er erinnerte sich verwundert, daß er nicht nur bereit, sondern sogar begierig gewesen war, es zu tun. Er hatte sich nicht bloß auf fremde Kontinente gefreut, auch auf die Seereise selbst. Mit prahlerischem Lächeln hatte er sich am Neide seiner weniger glücklichen Freunde geweidet, denen es nicht möglich war, von ihrer trostlosen gewohnten Arbeit im winterlichen New York abzukommen. Und mit welch heiterer Überlegenheit hatte er noch diesen Nachmittag von ihnen Abschied genommen! Wieviele Demütigungen hatte er seither erlebt und wieviel Schreckliches durchgemacht! Der erste Verdacht, daß diese Seereise unter einem unglücklichen Stern stand, war ihm aufgestiegen, als er sich im großen Speisesaal an seinen Tisch setzte. Der Tisch war für vier Personen aufgedeckt und Ogle war anfangs ein wenig neugierig, ob er mit seinen Tischgenossen Glück haben würde. Aber dieses Interesse hielt ihn nicht lange zurück. Fluchtartig verließ er die grüne Schildkrötensuppe, die man vor ihn hingesetzt hatte, ehe noch einer von den übrigen Tischgenossen erschienen war. Weder nach Speisen, noch nach neuen Bekanntschaften stand sein Sinn; nur nach Luft, nach frischer Luft verlangte er, und er stürzte davon und glaubte, sich nach ein paar Augenblicken an Deck wieder erholen zu können. Dies war nicht der Fall, und auch der eisige Sprühregen, der ihn oben empfing, half ihm nicht. Voll böser Ahnungen stieg er in seine Kabine hinab, die sich gewaltig verändert hatte, seit er sie in der süßen Friedlichkeit des Hudson River in Besitz genommen hatte. Elend lag er seither in seinem Bettgestell und wenn er seine verschleierten Augen von Zeit zu Zeit mühsam öffnete, und nichts als sich drehende Wände, Vorhänge und Spiegel sah, dann meinte er in dem freudigen Stolz, den er beim ersten Anblick dieser Zelle des Jammers empfunden hatte, fast eine Regung von Wahnsinn zu erkennen.
Der entsetzlichste Gedanke war aber, daß er sich für zwölf Tage zu solchen Leiden, wie er sie nun erduldete, verurteilt hatte. Warum hatte ihn niemand gewarnt? Besaß keiner seiner Freunde die mindeste Intelligenz? – Er dachte an sie, die jetzt wohl in herrlich horizontal sich bewegenden Taxis aus Theatern nach Hause fuhren oder in der ruhigen Behaglichkeit ihrer Klubs vor dem Holzfeuer lungerten, und sein Neid wurde beinahe zu Haß.
Er war immer stolz darauf gewesen, sich in allen Situationen helfen zu können. Aber jetzt sah er ein, daß alle seine Fähigkeiten versagten. Der Kapitän der »Duumvir« würde sich kaum bestechen lassen und auch durch alle Künste der Überredung nicht zu bewegen sein, in den Hafen von New York zurückzukehren. Rettungslos war man diesem brutalen Seebären ausgeliefert!
Es gibt Menschen, die ihre Schmerzen leichter ertragen, wenn sie an die größeren Leiden anderer denken; beim Zahnarzt richten sie ihre Gedanken an Operationssäle. Die Seekrankheit aber ist ein menschliches Leiden, das durch solche Mittel nicht zu lindern ist. Ogle litt nicht weniger, obwohl er darüber nicht im Zweifel sein konnte, daß andere Menschen sich ebenso elend fühlten wie er, denn nicht weit vom Kopfende seines Bettes war eine – versperrte – Türe zur Nebenkabine, hinter der lautes Jammern und Stöhnen erklang. Zwei Damen lagen offenbar nebenan; die eine unterbrach nur selten Ihr ergebungsvolles Schweigen, während die andere dafür um so öfter hörbar wurde. Ogles Leiden verschlimmerte sich mit jedem Klagelaut, der aus dem Nebenraum drang, und als ein lautes Stöhnen, »Oh Gott, ich möchte sterben!« häufig wiederholt wurde, fühlte er durchaus kein Verlangen, dieses Unheil abzuwenden. »Recht so,« knirschte er, »stirb du nur, aber rasch!«
Er meinte, nie mehr im Leben größeren Widerwillen gegen jemanden empfinden zu können, als gegen jenes leidende Frauenzimmer – bis er plötzlich entdeckte, daß er einer noch viel heftigeren Abneigung fähig war. Die richtete sich gegen einen Besucher, der die stöhnenden Damen mit unzeitgemäßer Fröhlichkeit aufzuheitern kam. Der Mann hatte eine jener selbstzufriedenen polternden Stimmen, die Ogle verabscheute, selbst wenn er gesund war. Sie war belegt, aber unbekümmert, munter und laut. Ihrem Eigentümer war es scheinbar nie zum Bewußtsein gekommen, wie sie für andere klang. Auch mit der Aussprache nahm er es nicht allzu genau, ganze Worte wurden verschluckt, manche Laute gräßlich zerquetscht … »Leute aus dem Mittelwesten!« stöhnte Ogle. »Und Tür an Tür! Das werde ich während der ganzen Reise anhören müssen – das noch zu alledem!«
»Eifrdimmich, was für ä fabelhafde Nachd!« rief die herzliche Stimme nebenan, und tödliche Feindschaft schlich sich in Ogles Herz, denn der Mann dort drüben erfreute sich offenbar vollster Gesundheit. »Das feinste Januarwetter, wie ich höre«, fuhr der Nachbar fort. »Schnucki, was macht Bibbih?«
Ogle krümmte sich, als er diese Frage vernahm. Er war ein überaus kultivierter junger Mann mit einem ganz besonders gepflegten Sprachgefühl, und die Worte, die er zu hören bekam, verursachten ein leichtes Würgen in seiner Kehle.
»Geht 's bißchen besser, Bibbih?« erkundigte sich der fürchterliche Mann aus der Provinz in der nächsten Kabine, aber die widerwärtige leidende Frauensperson wies ihn mit matter Stimme zurecht:
»Laß Olivia in Ruhe! Beug' dich doch nicht über sie. Das Wasser tropft ja von deinem Mantel! Wo bist du denn so naß geworden?«
»Auf Deck. Hab' eine Tür gefunden, die nicht abgesperrt war, und bin eben rauf. Es war schon zu dämlich im Rauchsalon rumzusitzen. Es waren im ganzen zwei Herren dort, alle anderen sind seekrank. Alle, durch die Bank, sagt der Mixer in der Bar, und die zwei zeigten nicht viel Lust zu Geselligkeit – scheinbar Leute aus dem Osten, die sich fürchten, mit jemand zu sprechen. Da habe ich rumgestöbert, bis ich die unversperrte Tür fand. Gottverpippj, da geht was vor, da draußen! Schade, daß du und Bibbih nicht mit raufkönnt.«
Da ertönte unerwartet die dritte Stimme, eine Mädchenstimme:
»Hör' doch schon auf, mich Bibbih zu nennen!«
Die Stimme hatte trotz ihrer Verdrossenheit einen angenehmen Tonfall, aber dem verbitterten jungen Dramatiker war sie nicht sympathischer als die anderen. Ein lautes Gelächter des herzlichen Mannes folgte.
»Also da hört sich alles auf,« schrie er polternd, »wie das mit seinem alten Herrn redet! Ich glaube, es kann mit deiner Seekrankheit nicht gar so schlimm sein, wenn du noch so viel Energie aufbringst, Bibbih.«
»Ich habe dir doch gesagt, du sollst mich nicht ›Bibbih‹ nennen!« ertönte die Mädchenstimme nochmals und sie war nun mehr als verdrossen. Es lag Widerwillen in ihr, der fast an Haß grenzte. »Ich habe schon ein- oder zweimal daran gedacht, ins Meer zu springen«, fuhr sie fort. »Wenn du nicht aufhörst, mich ›Bibbih‹ zu nennen, werde ich 's tun. Bestimmt! Du wirst sehen.«
»Aber, aber,« sagte der Mann beschwichtigend, »ich bin doch nur reingekommen, um zu sehen, ob ich für dich oder Mamma etwas tun kann. Du mußt dich nicht gleich so aufregen, Olivia. Soll ich euch nicht was bringen?«
»O Gott,« stöhnte das Mädchen, »kannst du nicht aufhören zu reden, und gehen? Geh, wohin du magst, nur geh fort. Um Himmelswillen geh fort und werde seekrank!«
»Ich? Ich und seekrank?« Er lachte rücksichtslos. »Nie in meinem Leben hab' ich mich wohler gefühlt. Bin nie auf einem Schiff gefahren, das größer war als ein Ruderboot, und jetzt bin ich einer von den drei einzigen seefesten Passagieren der ganzen Ladung! Ich – seekrank? Da mußt du dir schon etwas anderes ausdenken, Bibbih!«
»Ich hab' dir doch gesagt, wenn du mich noch einmal …«
»Schon gut, schon gut,« begann er, aber er wurde durch die keifende Stimme der Frau unterbrochen, die so oft gedroht hatte, sie würde sterben.
»Kannst du denn das Kind nicht in Ruhe lassen, Pappa? Siehst du denn nicht, daß du sie immer mehr aufregst?«
»Aber Schnucki,« meinte er, »Olivia wird doch nicht wegen ein bißchen Seekrankheit ihren alten Pappa verleugnen.«
»Die Seekrankheit ist nicht daran schuld, das weißt du ganz gut«, rief das Mädchen wütend. »Willst du überhaupt nicht mehr von hier fortgehen?«
»Gut, gut. Aber ich kann ja nichts dafür, daß wir nicht ruhig zu Hause geblieben sind. Da mußt du schon der Mamma Vorwürfe machen. – Na, laß gut sein, ich gehe schon.« Ehe die Türe ins Schloß fiel, hörte Ogle noch eine letzte Ermahnung der heiseren herzlichen Stimme: »Tu für Bibbih was du kannst, Schnucki!«
Der unglückliche junge Dramatiker stöhnte aus tiefstem Herzen. Seine Nachbarn gehörten zu jener besonderen Sorte Provinzler, die ihm am widerwärtigsten war. Wenn das Schiff nicht unterging, sah er elfdreiviertel Tage voll physischen Elends vor sich, verschärft durch die Qual, den nachbarlichen Familienzwist anhören zu müssen. »Rotarier!« wimmerte er. »Schnucki, was macht Bibbih?« Aber es war unklug von ihm, die väterliche Frage zu wiederholen, denn es wurde ihm sofort totenübel.