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Blutige Kämpfe um die Herrschaft in den Friesenlanden kennzeichnen die Zeit von 1480 bis 1540. Friesen gegen Friesen, Sachsen gegen Friesen, Westfalen gegen Friesen, Oldenburger gegen Friesen, Dänen gegen Friesen! Wer kennt die Völker, nennt die Namen der Kämpfenden im blut'gen Rahmen?! – »Stachlig wie ein Igel«, war die Parole jener »guten alten Zeit«, und wohin man ausschaut, da erblickt man Wall und Graben, Pallisaden und spanische Reiter, Fallgruben und Fanglöcher, Blockhäuser und Festungen, Söldner und Junker, Piken und Hellebarden, Büchsen und Kartaunen. Das war die Zeit, als unser großer Edzard die Zügel der Regierung mit der Hand am Schwerte führte, und zuerst gegen die Wimken und Omken, dann gegen die Münsterländer und Armejacken, darauf gegen die Sachsen und Oldenburger zu Felde ziehen mußte; jene Zeit, wo die berüchtigten Scharen der Landsknechte, die »große Garde« oder »weiße Rose«, die »schwarze Garde«, die »Armagnacs« wegelagerten, und mit Raub und Mord und Brand die Länder heimsuchten.
Aus dieser waffenstarrenden Zeit lassen wir unsern Landsmann und ersten Geschichtsschreiber, den Häuptling Eggerik Beninga von Grimersum, der von 1490 bis 1562 lebte und also recht ein Zeitgenosse ist, einiges teils ernsten, teils heiteren Inhalts hier erzählen.
Wat Tide de vergiftende Krankheit der Pocken, dar man vörher niet van to seggen wußte, toerst in de Freeslande quem.
Anno 1498 in der Tied, als idt bi den Kriegslüden in den Landen umher so gemeen wurt, mit den Hopen to garden, Die Söldner auch nach beendetem Krieg in Haufen für weitere Kriegsfälle bereit und bis dahin sie auf allgemeine Unkosten unterhalten. und als de witte Rose und de grote Garde (als man se nöömde) ook dör disse Freeslande und voort up de Grensen hen un her togen, de sick dann uth allen Landen, als Hispanien, Frankriek und Italien versammelden und tohope lepen, do hebben se de böse, vergiftige Plage mede in disse Freeslande gebracht, dar man nicht heeft weten tovoren van to seggen.
Wer erinnert sich bei dieser Nachricht nicht auch an die Verbreitung der Pocken (schwarzen Blattern) durch die in Deutschland gefangen gehaltenen französischen Soldaten von 1870/71?!
Wie eine Münze Edzards zu einem Tiernamen kam.
Um den zu Franeker von den Westfriesen eingeschlossenen Herzog Heinrich von Sachsen zu entsetzen, zogen seine Mitverbündeten Anno 1500 gegen diese Stadt. Während nun zuerst Graf Edzard die Stadt Groningen und ihr Umland in Schach hielt, sammelte Herzog Erich von Braunschweig einen Haufen von 4000 Landsknechten, »uth Dennemarken« und den das Braunschweigische umgebenden Ländern, worauf beide gemeinschaftlich den Feind bei Workumer Siel so schlugen, daß er an 2000 Mann verlor. »Dardör«, sagt Beninga, »eroverden de Landsknechten so grote Buite (Beute), dat man eene Koh künde kopen vor eenen Schrickenborger (Gulden), vor een levendig Schap gaff man een klein Stücke Geldes, dat Grave Edsard slaan laten hadde, dat dardör den Namen kreeg und wurd een Schap genöömt.
Ein »Schaf« war 2 Stüver = 11 1/9 Pfennig Reichsmünze an Wert.
Junker Ulrich von Dornum als Räuberhauptmann.
Der tapfere Haudegen und spätere getreue Rat und Helfer Edzards des Großen, Junker Ulrich von Dornum, hatte in jüngeren Jahren den zweifelhaften Ruhm, das Oberhaupt einer berüchtigten Söldnerbande sein zu müssen. Dies kam aber so:
Nachdem die Stadt Groningen, der Zankapfel verschiedener Mächte, Anno 1501 durch Friedrich von Baden, Bischof von Utrecht, einen Waffenstillstand auf 4 Jahre vermittelt erhalten hatte, waren hier die Söldner überflüssig geworden. Da nun ihre Hauptleute keinen Feldherrn wieder zu bekommen wußten, »so hebben sick nochtans de Sassische und Groninger Knechten bieenander in eenen Hoop gegeven, und Junker Ulrich van Dornum vor eenen Oversten erwälet und angenamen, und togen se hen und her up de Leverunge (siehe Note auf S. 112), und lepen alle lichtverdige Boven hento, dat de Hope so groot wurd, dat sick dar alle Naberherren und jedermänniglich vor befürchtede. Und wurt aldo de Hoop de grote Garde genömet.« – Junker Ulrich schickte nun in seiner Verlegenheit Boten an König Johann von Dänemark und bot ihm seine Dienste an. »Konink Hans is blide geworden, in Verhapeninge, he wulde dor den Hope Landsknechten dat Land to Wursten und Detmarschen erlangen« und übersandte Ulrich sofort Patent und Geld. Dieser machte infolgedessen einen Anschlag auf das Land Wursten, wurde dabei aber »door dat Been geschaten« und mußte, da auch die Wurster die Siele öffneten, »sluupstärts« wieder abziehen. – Seine Garde zog dann unter persönlicher Leitung des dänischen Königs gegen die Ditmarschen, welche mit dem Gesindel gründlich aufräumten und den Dänen ihre Gelüste auf lange Zeit vertrieben.
Wie ein Mönch einem Landsknecht Bruderliebe erzeigen mußte.
Im selben Jahr trug es sich zu, daß der Abt des Klosters Thedinga bei Nüttermoor einen seiner Priester, Herrn Eggo, in Geschäften nach der Friedeburg sandte. Hier erlangte er bei seinem Abschiede das Tuch zu einem neuen Chorrocke. Auf der Heimreise begegneten ihm zu Brooksetel einige Landsknechte. Einer derselben fragte ihn nach dem Woher und Wohin, wie auch darnach, wem das Tuch zukomme, das ihn so beschwere? – Herr Eggo antwortete: »Dat hört uns to!« Der Landsknecht sagte: »Hört das Laken uns to, so hört idt mi mede to, gy moten de bruderlike Leve nu an uns bewisen!«, nahm das Tuch und zerteilte es brüderlich. Herr Eggo sah jämmerlich drein, merkte, daß er sich versprochen habe und hätte das Tuch gar zu gerne wieder erlangt. Darum verwies er den Söldling auf die göttliche Strafe, indem er sagte: »De Heere werd idt to siner Tied wol richten und vergelden.« Der Schalk antwortete rasch: »Ja, hebbe ick so lange Tied, so lang (gib) mi de ander Hälfte ook darto«, und erleichterte den verdutzten Mönch auch von der zweiten Halbscheid. Dabei bedankte er sich für die tätige Bruderliebe und versprach Herrn Eggo völlige Vergeltung, sobald er einst mehr als dieser besitzen werde. Damit trotteten die Landsknechte ab und ließen den Pfaffen stehen, der sein Leid jedem klagte, den er auf dem Wege antraf, und zum Schaden auch den Spott hinnehmen mußte.
Auf das Sprichwort: Wat kann ewig düren?!
Idt heft sick in Oostfreesland, als de Sassische Vede beendet (1518), togedragen, dat eene Wedüwe (Witwe) to Upgandt bi Marienhave een Aven (Ofen), um Brod darin to backen, wulde maken laten. So overkumpt se eenen erfahren Mürmester, Sibold Frese genant, deme de Frau idt toverdinget, und muste hüm dat Geld vörhen geven. Dewile nu Kummer van Holt (Mangel an Holz) was, denn de Viandt (Feind) hadde idt alle dar verbrant, heft de Meister eenen anderen Raat bedacht, um den Aven over to welfen (zu überwölben). Dewile nu de Frau itliche Bunde Kohlstruncke mit itlich Reit (Rohr) up den Warf in der Sünnen vorhanden liggen harr, hett Sibold de tohope gebunden, und so hoch und kört, als idt hüm to den Gewelve deende, verördnet. So balde nu de Aven was rede (zubereitet) und togewelfet, und de Frau avergelevert, heft se dat Für darin gebracht. Meister Sibold heft sick ilendes daraf gemaket, wile he wuste, wo idt fahren wulde (wie's gehen würde). Als nu dat Für an dat Reit und dröge Strunken gekamen, fiel de Aven neder. De gode Fro ilede Meister Sibold na, klagede, dat de Aven nedergefallen was. »Wat kann ewig düren (dauern)?« sede he, un is sines Weges gewandert. De gode Frau muste eenen anderen Meister söken, averst se was belehrt, dat se geen Geld tovören, eer de Aven rede was, wulde utgeven.
In der Fehde Edzards mit den Groningern befestigten letztere die Burg zu Mude (Muiden) mit Wall und Graben und setzten von den Gilden Johann Hutfilter zum Kommandanten ein. Dieser tapfere Sohn Groningens – im täglichen Leben ehrsamer Hutkrempeler – verweigerte »vört erste« dem Grafen die Übergabe seiner Festung. Während Edzard mit dem Hauptheere nun vorwärts zog, betraute er mit Wegnahme Muidens die beiden erprobten Kriegsmänner Sibo Hayken Krumminga und Otto Papen Loringa. Als nun ihre Hartnäckigkeit dem Befehlshaber der Feste Unbequemlichkeit verursachte und er sich's merken ließ, daß er nur eine passende Gelegenheit zur Übergabe suche, »hebben se eenen Raat bedacht, und in dat Kloster Wittewerum geschicket und de groteste Karne (Butterkarne oder Butterungsfaß), so in deme Kloster vorhanden, up eenen Wagen ahne Ledderen (leiterlosen Wagen), dat apen achterwerts gekehrt (mit der Öffnung nach hinterwärts), leggen laten, und sess Peerden darvör geslagen, die die neuerfundene Kanone zur Abendzeit vor die Festung schleppten, wo sie mit ihrem gewaltigen Schlunde auf das Tor gerichtet wurde.
Kaum hatten die tapferen Muidener, Jan Hoetfilter an der Spitze, das Ungetüm erschaut, so entsank ihnen der Mut. Als nun gar die beiden Drosten Anstalt machten, das grobe Geschütz zum Sturme aufspielen zu lassen, »so heft de Hovetmann Johann Hoetfilter sinen Hoot herutgesteken« und um eine Unterredung gebeten. Und weil die Drosten seine männliche Haltung erkannten und verspürten, empfahlen sie ihn der Gnade des Grafen Edzard. »So heft dan noch Grave Edsard der Menschen Bloot verschonet und den beiden befalen, dat Huus in sine Handen uptonemen, und den Hoetfilter na der Stadt Groningen laten tehen, um sien Amt alldaer to vullvören. Disse Gnade is dem Hoetfilter begegnet van Grave Edsard, darumme, dat he sick so männlich tegen dat grave Geschütt, als de Botterkarne, geholden heft.«
Unser Harberts hat diese lustige Kriegsepisode in ein ergötzliches Lied umgesetzt, welches hier folgt:
Die Kanone von Wittewerum.
Harbert Harberts.
Im Jahre Fünfzehnhundertundeins im Sommer hat
Es in den Ommelanden gewettert früh und spat;
Des Krieges Wolke hüllte die blüh'nde Landschaft ein,
Und um die Dörfer lohte der rote Flammenschein.
Vergeblich reifte golden im Felde rings die Saat,
Weil sie noch vor der Ernte des Rosses Huf zertrat;
Mit seiner Sense mähte allein der Schnitter Tod
Und dessen Spuren folgten der Kummer und die Not.
Graf Edzard von Ostfriesland gar schlimme Fehde hatt'
Dort in den Ommelanden mit Groningen, der Stadt,
Doch seinen Feinden zeigte mit seiner Streiterschar
Er täglich zur Genüge, was für ein Held er war.
In ihre Reihen hat er geschmettert Hieb auf Hieb
Und voller Wucht die Feinde er so zu Paaren trieb,
Daß sie von dannen stoben mit Ach und Wehgeschrei;
Die Seinen standen wacker dem tapf'ren Grafen bei. –
Von Leerort Sibo Haiken, der Drost, erhielt Befehl,
Ort Muiden zu erobern und rief: »Bei meiner Seel'!
Das scheint kein leichtes Stückchen; die Feste hält mir Stand.
Doch halt! ist Jan Hoetfilter darin nicht Kommandant?«
»Den Burschen muß ich kennen. Das ist ein solcher Held,
Dem, wie ich glaub', das Herze leicht in die Hosen fällt.
So'n bißchen Donnern wäre für den uns gar zu nütz,
Doch, leider Gottes! fehlet uns jegliches Geschütz.«
»Nun, was im off'nen Kampfe nicht immer möglich ist,
Erreicht man kluger Weise nicht selten doch mit List,
Und – bei der Jungfrau! – wenn ich darf meinen Augen trau'n,
So glaub' ich für Hoetfilter schon ein Geschütz zu schau'n.«
Beim Kloster Wittewerum hielt just der Kriegerhauf;
Dort blitzte in der Sonne es eben glänzend auf
Und eine Butterkarne erkannte man gar bald,
Mit Kupfer vorn beschlagen, von riesiger Gestalt.
»Legt mir die Butterkarne«, rief Sibo Haiken schnell,
»Nach vorne hin die Mündung, gleich auf ein Radgestell!
Dann spannet mir sechs Pferde in gleichen Reih'n davor
Und laßt gen Muiden schleppen mir dies Kanonenrohr!«
»Dort richten wir es gegen den Wall dann kurz und gut,
Und wenn nicht Jan Hoetfilter sofort verliert den Mut,
So soll der Narr mich beißen. Ich wette, daß erschreckt
Er Knall und Fall vor Abend noch seine Waffen streckt.«
Kaum hatten die Ostfriesen gehört des Drosten Wort,
So führten sie schon jubelnd die Butterkarne fort,
Und pflanzten sie vor Muiden auf Schussesweite auf;
Mit Zittern sah Hoetfilter den blankgeputzten Lauf.
So wie es Sibo Haiken ganz richtig prophezeit,
War er zur Übergabe im Handumdrehn bereit,
Und bat mit Zähneklappern – so mächtig war sein Graus –
Für sich und seine Krieger nur freien Abzug aus.
Als Jeder vor der Feste die Waffen abgelegt,
Sprach Sibo Haiken: »Sehet, wovor Ihr Furcht gehegt!
In Wittewerum brauchen die Mönche dieses Ding
Und, glaubt es mir, sein Nutzen ist wahrlich nicht gering.«
»Fährt darin auf und nieder der Puls, so gibt's im Nu
Ganz delikate Butter und Buttermilch dazu,
Und steu're ich die Grütze aus meinem Kopf noch bei,
So rühr' ich Euch zusammen den allerschönsten Brei.« –
Der Kommandant von Muiden zog ab mit Ach und Krach
Und die Ostfriesen sangen ihm diesen Spottreim nach:
»Hoetfilter denkt: O jerum! Nu weet ick dat genau:
In't Kloster Wittewerum daar lett mien Karmelk blau!«
Von Fr. Sundermann in »Am Urdsbrunnen« 1885. Jahrg. IV. Bd. II. Heft 11. S. 213 ff.
Ehe die sogenannte Volksliteratur samt der Flut der Schullesebücher aller Art das platte Land überzog, lagen Sage und Märchen – und von letztern welch köstliche, ungedruckte! – auf den Lippen des Volkes. Freilich war es ein wenig umfangreiches Repertoire, das gewöhnlich nur in einem Orte, von einem Munde geboten wurde. Um vieles zu hören, mußte der Sagenfreund (nicht immer zugleich auch Sammler) auf die Suche gehen, von Dorf zu Dorf, von Gau zu Gau. Wer freilich Landskind war, mit der Volkssprache aufstand und wieder zur Ruhe ging, die Bekanntschaften (Fründskuppen) und mehr noch die Verwandtschaften (Sibben) der Dörfer untereinander kultivierte und somit überall Anknüpfungspunkte selbst in entlegenen Ortschaften fand, kam ungleich leichter als ein Fremder hinter das Gesuchte. Dies ist in der Tat ganz klärlich bewiesen worden durch die gedruckt vorliegenden Resultate der Sagenforschung in Ostfriesland. Letztere setzte mit 1842 ein, während das gelegentliche Aufzeichnen von Sagen bereits bei einem unserer ältesten Chronikenschreiber, Eggerik Beninga († 1562), und seit ihm bei vielen Autoren stattfand. Die Forschung, welche durch Dr. Schweckendieck in Emden, Dr. A. Kuhn und W. Schwartz aus der Mark, Dr. H. Pröhle vom Harze und H. Harrys aus Hannover etwa bis 1856 successive getrieben wurde, ergab ein sehr dürftiges Resultat. Ja, die Ausbeute war anfangs derartig gering, daß ein Mitforscher, der Amtmann H. Suur zu Norden, es zu leugnen versuchte, daß wir Ostfriesen überhaupt Sagen hätten. Und doch strotzte das gemeine Volk davon, wie das Euter von Milch. Kuhn und Schwartz brachten auf ihren eigenfüßigen Wanderungen, die sie anfangs mit ungenügender Kenntnis der Volksseele und seines Atems, der Volkssprache, und dazu nur auf einigen der gangbarsten Heerwege unternahmen, die Menschen nur wenig mehr zum Sprechen als andere Forscher vor ihnen; indessen waren es doch ungefähr 20 neue Sagen, die durch sie zum Vorschein kamen. Enno Hektor, 1847 von H. Harrys, dem verdienstvollen Herausgeber des ersten hannoverschen Sagenbuchs, zum Sammeln an der Küste aufgefordert, gestand, daß ihm nur drei Sagen bekannt seien. Und das bei dem im Norder- und Harlergau herrschenden Sagen-Reichtum! bei seiner genauen Kenntnis der Lebens- und Sprechweise dieses Landstrichs! Es ist schier unbegreiflich! Um ein ganz klein wenig den Schatz blinkern zu lassen, erwähne ich nur der hier gangbaren Sagen von Wodan unter der Gestalt des Königs Radbod; der Sagen von den aisken Mannen aus der quaden Hörn, den Dänen und Normannen; der Sagen von Inseln und untergegangenen Dörfern; von Störtebeker und Güdje Micheel; von Klöstern, Klosterspuk, unterirdischen Gängen; von Erdmännchen, Wâlridersten und sonstigen Geistern; von Gongern, Klabattermännchen, dem fliegenden Holländer und dem Riesenschiff – und was nicht alles mehr?! Es konnte denn auch nicht ausbleiben, daß endlich ein mit dem Volk innerlich verbundener Forscher sehr vieles davon auflesen mußte. So fand der Realschuldirektor L. Strackerjan zu Oldenburg, ein mit feinen Fühlfäden für den Pulsschlag des Volkes begabter Mann, ganz ungesucht eine lange Reihe ostfriesischer Sagen, als er für seine engere Heimat das Werk »Aberglaube und Sagen aus dem Herzogtum Oldenburg« vorbereitete. Dasselbe kam 1867 heraus. Unabhängig von der gesamten Sagenliteratur Nordwestdeutschlands hatte ich mir seit etwa 1857 zum eigenen Vergnügen Notizen über gehörte Sagen, Märchen, Tiersagen usw. gemacht, die sich so reichlich mehrten, daß ich auf Anraten eines älteren Freundes an die Bearbeitung zunächst eines Teiles der Sagenstoffe ging. 1869 erschien mein fast nur Originalien enthaltendes Büchlein »Sagen und sagenhafte Erzählungen aus Ostfriesland«, dem 1870 eine zweite Reihe originaler Aufzeichnungen im »Ostfriesischen Jahrbuch« (Emden, W. Haynel. 2 Lieferungen) folgte. Ein Wiederabdruck vieler dieser Sagen erfolgte 1880 ff. in Dr. Herm. Weichelts »Hannoversche Sagen und Geschichten« (Norden, Soltau). Das letztere Werk ist mit dem 4. Bande leider ins Stocken geraten, was sehr zu bedauern bleibt, da an eine Weiterführung nicht zu denken ist.
Bei den vergleichenden Sagen-Studien, an die man selbst, ohne es zu wollen, herangezogen wird, war es mir nun wiederholt vorgekommen, aus räumlich weit voneinander entfernten Orten und Gegenden denselben Sagenstoff auftauchen zu sehen. Noch interessanter war es indessen, zu finden, daß an einem Ort Sage war, was an einem andern unzweifelhaft Geschichte (Historie) sein mußte. Von diesen letztern Stoffen hebe ich heute für den Urds-Brunnen einen aus, der sowohl Schleswig-Holstein als auch Ostfriesland gleicherweise interessiert. Was in Husum als Sage geht, hat Emden in seiner Chronik als Historie verzeichnet. Ich will beide Stücke hierher setzen, wie sie »geschrieben stehen«.
Beginnen wir mit dem »Altmütterchen zu Husum«. Husum ist die bedeutendste Stadt an der Westküste des Herzogtums Schleswig. Sie liegt auf einem Geestabhange an einer kleinen Au, welche in die schiffbare Hewer, einen Wattstrom der sogenannten Husumer Bucht, fällt, und vermittelst dieser mit dem offenen Meere, der Nordsee, in Verbindung steht. Der Sage nach wäre es also wohl möglich, daß dort Folgendes geschehen sein könnte, was Müllenhof in seinen »Sagen« aus Schleswig-Holstein mitteilt, und Kopisch so hübsch verdichtert hat als
»Oldmütterchen«.
»Es war Winter und das Eis stand. Da beschlossen die Husumer, ein großes Fest zu feiern; sie schlugen Zelte auf und Alt und Jung versammelte sich draußen. Die einen liefen Schlittschuh, die andern fuhren im Schlitten, und in den Zelten erscholl die Musik, und Tänzer und Tänzerinnen schwenkten sich herum, und die Alten saßen an den Tischen und tranken eins. So verging der ganze Tag, und der helle Mond stieg auf; aber der Jubel schien nun erst recht anzufangen.
Nur ein altes Mütterchen war von allen Leuten in der Stadt zurückgeblieben. Sie war krank und gebrechlich und konnte ihre Füße nicht mehr gebrauchen; aber da ihr Häuschen auf dem Deiche stand, konnte sie von ihrem Bette aus aufs Eis hinaussehen und die Freude sich betrachten. Wie es nun gegen den Abend kam, da gewahrte sie, indem sie so auf die See hinaussah, im Westen ein kleines weißes Wölkchen, das eben über dem fernen Horizont aufstieg. Gleich befiel sie eine unendliche Angst; sie war mit ihrem Manne zur See gewesen und verstand sich recht auf Wind und Wetter. Sie rechnete nach: In einer kleinen Stunde wird die Flut da sein, dann ein Sturm losbrechen, und alle sind verloren. Da rief und jammerte sie, so laut sie konnte; aber niemand war in ihrem Hause, und die Nachbarn waren alle auf dem Eise; niemand hörte sie. Immer größer ward unterdes die Wolke und allmählich immer schwärzer, noch einige Minuten, und die Flut mußte da sein, der Sturm losbrechen. Da rafft sie all ihr bißchen Kraft zusammen und kriecht auf Händen und Füßen aus dem Bette nach dem Ofen; glücklich findet sie noch einen Brand, schleudert ihn ins Stroh ihres Bettes und eilt, so schnell sie kann, hinaus, sich in Sicherheit zu bringen. Das Häuschen stand nun augenblicklich in Flammen, und wie der Feuerschein vom Eise aus gesehen wird, stürzte alles in wilder Hast dem Strande zu. Schon sprang der Wind auf und fegte den Staub auf dem Eise vor ihnen her; der Himmel ward dunkel, das Eis fing an zu knarren und zu schwanken, der Wind wuchs zum Sturm, und als die letzten den Fuß aufs feste Land setzten, brach die Decke und die Flut wogte an den Strand. So rettete die arme Frau die ganze Stadt und gab ihr Hab und Gut daran zu deren Heil und Rettung.«
Soweit die Husumer Sage.
Viel einfacher und nüchterner dagegen erzählt uns der Nestor der ostfriesischen Chronisten, der gräfliche Rat und Drost Eggerik Beninga, Häuptling zu Grimersum usw., der von 1490 bis 1562 lebte, die Historie vom »Altväterchen zu Emden« in seiner »Chronyk van Oostfrieslant« (Edition Harkenroth. Emden 1723). Da heißt es auf Seite 490 zum Jahre 1503:
»Heft sick oock gebört (zugetragen), dattet Ys (Eis) in der Eems sick tho Hope (zu Hauf) gesettet heft tüschen (zwischen) der Stadt Emden und Nesse (der Landzunge des gegenüberliegenden Reiderlandes), dat ungefeer um St. Peter (22. Februar) up eenen hilligen Festdach de gemeene Borgeren (die Bürgersleute) uth der Stadt Emden mit vele Frauen, Mägeden (Mädchen, Töchter) und Kinderen up der Eems speelden (spielten, sich mit Schlittschuhlaufen vergnügten). So stond een olt erfaren Borger in der Stadt by den Boom (dem Zollbaum, Durchlaß zum Binnenhafen) an der Eemse, antosehende dat Spil, na deme ohne (ihm) darup to gahn nicht gelevede (nicht beliebte). Aldus (also) stahnde und sehende na der Eems, gaf (gab) Godt, dat he gewahr wurt, dat dat Ys begunde vaneenander to gahn (sich zu spalten), darvan he sehr verschrecket. Hout geringe (hielt in kurzem) mit den, de by em stunden, eenen Raad, umme de Borgeren van den Yse tho krigen, leet eenen (ließ einen) um de Klokken an Boort (am Rande, sogen. beiern) tho slaan, na den Kerckhofe lopen. Des stunt eene kleene Strohhütte an den Kerckoff, darut der Stadt Huseren genen (kein) Schade geschehen kunde, de welck he angesteken (angezündet). Als nu de (die Leute) up den Yse de Stormklocke hörden, und dat Für by der Kercken gewahr wurden, ileden (eilten) se haestig van den Yse na den Brand. So balde weren se nicht an den Boom tho Lande gekamen, de Eemse was ganz gahnde (da trieb das Eis). Und weer sodane (solcher) Raad door Verhencknisse des Allmachtigen nicht geschehen, hadden se alle na der See gedreven (wären sie alle in die See getrieben worden) und verdrincken moeten.«
Soweit die Emder Historie. Graf Edzard Cirksena von Ostfriesland residierte zu Emden; Beninga verlor als elfjähriger Knabe seinen Vater und kam dann alsbald in gräflichen Dienst, so daß er diese Eispartie von der unmittelbar an der Eems liegenden Burg mit angesehen haben wird. Sogar der Name des Retters scheint in einer sprichwörtlichen Emder Redensart erhalten geblieben zu sein. Man sagt nämlich in solchen Fällen, wo ein Unglück schleunige Rettung erfordert und zuläßt: »Dar kunn Aderjahns Für good to wäsen«, – d. h. dazu könnte Adrians Feuer von Nutzen sein! – was doch offenbar keinen Sinn hätte, wenn dessen Feuer nicht von großem Nutzen gewesen wäre. Sei dem aber, wie ihm wolle, die Historie ist verbürgt.