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Woher kommen die Kinder?

I. Aus dem Volksmunde.

»Die alte garstige Storchenfabel«, wie Dr. Pilz sie nennt, ist mir bis auf den Tag, wo ich sie las, unbekannt geblieben. Wir wohnten zu Hesel, im Amte Stickhausen, derzeit einem Zentrum der »Provinz« Ostfriesland, und das Elternhaus glich einem Taubenschlage. Der Vater hatte als Lehrer nicht nur die Schüler des Dorfes, sondern auch viele Zöglinge aus allen ostfriesischen Gauen zu unterrichten; als Begründer des ostfriesischen Lehrerbundes und seines Organs stand er allen Kollegen und Schulfreunden des Landes erreichbar da und war ein vielbesuchter (und vielgeplagter) Baumeister; als echter Demokrat und edler Volksfreund stand er für alle Interessen des Volkes Tag und Nacht bereit und wurde von Einzelnen wie von Gemeinden und Versammlungen fortwährend beansprucht; die Mutter war von Hilflosen belagert, und tat nicht bloß den Armen die Tür auf, erst recht die Elenden und Kranken drängten sich aus weiter Ferne herbei. Und trotz dieser unzähligen Besucher aus allen Gauen und Schichten des Landes, trotz einer sich auf alle Lebensgebiete erstreckenden Unterhaltung am häuslichen Herd – keine Storchenfabel. Noch mehr! Der Vater war ein in dem Norderlandsgau erwachsener Eingeborner, der danach fast alle Gauen Ostfrieslands genau kennen lernte; die Mutter eine Eingeborne aus dem Harlgau, die auch weit herumgekommen war; beider Wohnsitz im Moormergau von 1839-1854, von da an im Oberledingerland bis zu ihrem Tode (Vater † 1879, Mutter † 1889) – mithin war ein gut Stück Topographie nebst Zubehör hier an einem Fleck vereinigt, und doch – keine Kenntnis der Storchenfabel! – Wo ich selber später nach dem Storch als Kinderbringer bei Autochthonen anfragte, nirgends kannte man ihn. Ich stutzte darob und fing an zu untersuchen, wie man denn außerhalb der heimatlichen Grenzpfähle zu der Frage: Woher kommen die Kinder (Menschen)? stände. Da wurde mir denn im Groningenschen geantwortet, daß die »Leute« den Storch nicht nötig hätten. Im Oldenburgischen und Jeverschen wußten sehr wenige Eingeborne etwas vom Storch. Auch an andern Orten gab man dem Storch den Laufpaß, d. h. wohlgemerkt das Volk tat das, und nur dies ist hier maßgebend.

Nach den im Volke lebenden Worten gilt es, wie wir Ostfriesen zu der aufgestellten Frage stehen.

Zuerst vom Storch ist zu bemerken, daß er bei uns nur Störk, Stürk und Stoork heißt. Der ursprünglich hollandisierende Teil Ostfrieslands läßt mitunter in schwachen Stimmen ein Ojevar verlauten, das indessen ohne Bedeutung ist. Bedeutender erscheint mir der auf der hohen Mittelgast (wie wir nur die sogen. Geest nennen) vereinzelt vorgekommene Name Poggenfiller = Froschtöter, der ihn in seiner Eigenschaft als Sumpfbeherrscher volkstümlichst kennzeichnet.

Von seiner Heiligkeit weiß man bei uns auch nichts zu sagen; indessen wird er im allgemeinen freundlich aufgenommen, mit einem alten Wagenrade zur Grundlage seines Dachfirstnestes beschenkt und von den Kindern angesungen:

Störk, Störk, Langebeen,
Het sien Var un Mor nich sehn.

und:

Störk, Störk, Langebeen,
Steist dar up dien eene Been,
Hest de rode Strümpen an,
Geist ja as 'n Edelmann.

Mit der Unreinlichkeit des Storches ist es schon eine andere Sache, und sowohl seine Bekotung des Daches als das Herbeischleppen allerlei Ungeziefers und Gewürms ist der Anlaß, daß er nicht überall Heimstätte findet oder daß man ihm einen aparten Stangen- oder Baumsitz anweist. Als unreines Tier mag er Schonung genossen haben. Das Herbeitragen der so menschenähnlichen Frösche (wenn sie alle Viere von sich strecken) kann ihm ohne alle Mythologie, von der das Volk nichts weiß und auch nie gewußt hat, den Ruf eingetragen haben, menschliche Embryonen zu überbringen.

Nun aber zu unserer Frage: Woher kommen denn die Kinder? Den verschiedenen topographischen Verhältnissen Rechnung tragend, antwortet man den Kindern ( denn nur die Unmündigen sind die Fragenden), daß die Puppen (so der technische Ausdruck für Wickelkinder) aus Pütten = Brunnen; Maaren und Meeren = Landseen; Dränken = Viehtränken und Pferdeschwemmen; Deepen und Dieken = Kanälen und Teichen; Fleeten = Flußläufen; aus der Eemse = den Flüssen dieses Namens (der Lingener, der Salter und der Basseler Eems); aus den Dünen, vom Moor, vom Ihsken = Escherland und unter Flinten = erratischen Blöcken herkommen. Auch im meerverzweigten Krummhörn heißt es nicht »aus der See«, sondern nur: die Kinder kommen hinter dem Deich (Seedeich) = achter de Diek, hervor. Teils erinnert dies an altbekannte Ursprünge aus Felsen, teils an diejenigen aus Quell und Brunnen. Ich zweifle nicht, daß nicht unsere Altvordern ihren Kleinen auf ähnliche Weise Bescheid gaben, wie wir, und daß die ganze daraus geformte mythologische Tiftelei der Spekulation ihren Ursprung verdankt.

Um den neugierig fragenden Vorgeschwistern den Mund zu stopfen, wie auch um das Püppchen empfehlend einzuführen, wird im Namen desselben ein Leckerbissen verabreicht, der modern aus Torte, Bisquit, Zuckergut und allerlei andern Schnipp-Schnapp-Schnaren besteht, zu dem aber die Vorgegenwart an einigen Orten den richtigen Puppkekäse, mit Würze und Safran verschönt, noch immer spendete. Auch selbstgebackene Kringel und Plattenkuchen waren gauüblich.

Weil die Mutter krank zu Bette liegt, so muß ihr ein Unglück angedichtet werden. Was lag näher, als der Beinbruch, sie kann ja nicht aufstehen. Derselbe wird den Verhältnissen gemäß erklärt.

Der Bezug der Puppen aus Gewässern erstreckt sich nicht auf den Import aus der salzen See. Ob sie allzu salz dazu ist? Selbst auf den Inseln läßt man keine Schaumgebornen erstehen, alles Neugeborne kommt aus den Dünen, wie die letzte von mir angeführte Anekdote beweist.

Wo man nun ein größeres Gewässer in Sicht hat, da muß dasselbe den Mutterquell spielen. Je nach der Phantasie des Erzählers wird dies und jenes ausgeschmückt, abgeändert. Gewöhnlich ist ja die Fromoor = Hebamme, Wehemutter die leitende Person des Tages, oder aber die Kramwaarster = Kramwärterin, Pflegerin der Kramfrau, die Alleinbeherrscherin, was Wunder, wenn deren Erzählung, überall wiederholt, endlich ortsüblich und zur Sage wird.

Lassen wir uns auf einige Einzelheiten ein. Schon 1819 bearbeitete der Dichter Franz J. Weiß von Zug (Schweizer) die Sage vom Kinderbrunnen, welche in Emden und einigen benachbarten Ortschaften des Krummhörn = Unteremsland heimisch ist, als Poem. Fr. J. Weiß, von Zug, kam als Buchbinder und Schriftsteller 1812 nach Ostfriesland, wo er in Norden und bis 1831 in Emden verlebte. Von ihm sagt die »Liter. Beilage« zum Ostfr. Schulblatt 1905, S. 11 ff. etwas näheres. Ganz kurz zusammengefaßt heißt es: Die Kinder kommen vom Nesserland. – Dieses Nesserland ist der letzte Überrest jenes großen Landstrichs, der, zwischen 1400 und 1500 durch die Fluten inundiert, von den Bewohnern nach und nach aufgegeben wurde und heute als Meerbusen Dullert = Sumpfniederung (Dollart) die Landkarten ziert. Es liegt nahe, anzunehmen, daß die Emdener und ihre Gauverwandten, dem Sagenzuge folgend, das Eiland Nesse zum Ort des Mutterquells wählten, da es bis 1848, durch die alte Ems getrennt, als altes Eiland ( cum grano salis) für die Nachfragenden »so ferne« lag.

Was nun dem Niederemser der Dullert, das muß dem, der nicht an solch klassischen Gestaden lebt, der nächste Fluß (unsere Flüsse heißen sämtlich Eems, Äämse, latein. Amisia, und sind wohl dasselbe wie Themse, Thames, the Æmes der Engländer), ein Kanal, ein Maar, ein Teich sein. So heißt es im Nieder-Reidergau: Die Kinder kommen aus der Eems; zu Marienkoor: aus dem Koorster Meer; in den Wolden des Brookmergaues nennt man die verschiedenen Landseen der Nähe, z. B. zu Barstede: aus der Breike; im Moormergau, wo das fließende und stehende Wasser selten ist, behilft man sich mit den Ortsschwemmen; an andern Orten hilft die Bäke, die Ri(de), die Dobbe, die Hiwe, der Dellert, ja im Notfall und meines Erachtens am ursprünglichsten: die Pütte aus.

Die Pütte ist nur die Metapher für den Wasserquell am weiblichen Körper, den die Lateiner pudendum muliebre nannten. So wie derselbe als Watermöhlen scherzhaft umschrieben wird, spielt er hier den Brunnen, der bei uns nie Sood heißt.

Was sodann die Ursprünge aus Felsen oder Erde anlangt, so heißt es in Nord-Ostfriesland an der Seekante von Norden bis Jever überall: Die Kinder kommen »van Moor«, woher sie in Kutschen (glasen Wagens) geholt werden, wobei das Aussteigen der Mutter den Beinbruch verursacht. Ich finde in diesem Moor eines jener doppeldeutigen Worte wieder, die so häufig die Redensarten des Volkes würzen, und das hier sowohl Mor aus Moder = Mutter, als auch Moor = Moorerdboden, Torfboden heißen kann. Vom Moor holt man gleichfalls die Puppen in den moorumzirkten Gastdörfern Mittel-Ostfrieslands, wie auf vielen Fehnkolonien.

An andern Orten, wo das Moor nicht mehr paßlich liegt, wählt man einen anderen, den topographischen Verhältnissen angemessenen Ausdruck. Zu Utarp bei Esens heißt es: van de Ihsken – lehmige Sandgaste, und dort wieder »ünner de dicke Flint« = Hünenstein weg. Zu Burhafe bei Wittmund sagt man: ünner de Foßkutt = Hünenstein am Kirchhofe weg. An andern Orten gibt es andere Ausdrücke.

Auf den Eilanden kommen die Puppen aus den Dünen. Eine hierauf bezügliche Anekdote möge meinen kleinen Erkurs beschließen. König Georg V. von Hannover unterhielt sich, wenn er auf Nordernei residierte, öfters und populär mit den Eingeborenen. Einst traf er in den Dünen einen 85jährigen alten Hagestolz und ließ sich mit diesem in ein Gespräch ein. Der Alte war bereits über die Zurechnungsfähigkeit hinaus, also nach dem Volksmunde wieder in der Kindheit (für kindisch). Der König jedoch bemerkte dies nicht und fragte ihn nach seinen Verhältnissen. Als er nun auch die Frage stellte, ob er denn auch Kinder habe? schmunzelte der Alte und erwiderte: »Ja, Här Könink, twalfe!« – »Zwölf Stück?« fragte der König in verwundertem Tone; »und wo sind denn diese Zwölfe?« – »In de Dünen, mien leve Här Könink! in de Dünen!« antwortete der ledig Gebliebene und kicherte dabei leise in sich hinein. Dem König wurde, da seine Begleiter den Volksmund nicht lesen konnten, die Sachlage nicht klar.

II. Der Kinderbrunnen.

Franz Joseph Weiß.

Versenkt in seelenvolle Lust,
Saß mit dem Säugling an der Brust
Die Mutter in dem Wochenbette,
Und bald umwand ein Kinderkranz
Im unschuldsvollen Zauberglanz
Der Holden süße Ruhestätte.

»Zeig', Mutter, uns das Schwesterlein!
Ach Gott! wie niedlich, schön und fein! –
O, Schwester Linchen, mußt nicht weinen!« –
»Bleibt Schwesterchen nun immer hier? –
Sag, Mutter, wer gab Linchen dir?«
So riefen bunt hin alle Kleinen.

»Wenn still ihr seid und ordentlich,
Daß Püppchen schläft, erzähle ich,
Wer Schwester Linchen mir gegeben.«
Dies war der Kleinen höchstes Ziel,
Sie wurden leis' und mäuschenstill,
Man hörte kaum den Odem beben.

Und freundlich schloß das Schwesterlein
Die kleinen matten Äugelein.
Die Mutter legt es sanft auf Kissen,
Und treu zu lösen nun das Wort,
Das sie gegeben, war sofort
Die Herzensgute ernst beflissen.

»Ein kleines Püppchen, fein und zart,
So schön und klein, wie ihr einst wart,
Bat ich den Vater, mir zu geben;
Und Vater ging mit frohem Sinn
Zum kleinen schönen Schifflein hin,
Auf ihm nach Nesserland zu schweben.

»Dem Schifflein Vater sich vertraut;
Denn Schifflein ist gar schön gebaut:
Kristallnes Glas sind seine Wände,
Das Ruder ist ein Diamant,
Das Lenken sanft und wohlgewandt
Die Wogen durch der Engel Hände.

»Am einsam stillen Nesserland
Gewinnt das Schifflein dann den Strand.
Und Vater steigt vom Bord. Es ziehet
Auf unbekanntem Pfade ihn
Zu einem tiefen Brunnen hin,
Wo still der Menschheit Blume blühet.

»Vom Himmel bringt der Engel Schar
Beim Morgenrot ein Kinderpaar,
Und schifft es im verschlossnen
Nachen Dann in des Brunnens Demantschloß,
Wo sie, wenn sie des Wunsches Los
Der Mutter ruft, zum Sein erwachen.

»Des Brunnens schön geras'ten Rand
Umzieht ein duftend Blumenland.
Und dreimal geht die klare Quelle
Herum des frohen Vaters Fuß;
Da ebnet sich zum sanften Gruß
Des Brunnens stille Ringelwelle.

»Und aus des Brunnens Tiefe dringt
Das holde Wunderschiff und bringt
Ihm seiner süßen Schiffahrt Streben.
Und an den Strand der Vater eilt,
Wo schon auf ihn das Schifflein weilt,
Gewähr der Gattin Wunsch zu geben.

»Bei frommer Engel sichrer Hut
Im Nachen Püppchen friedlich ruht;
Ans Land es schnell der Vater leitet,
Wo er durch Püppchens Gegenwart
Mir süßes Weh und Lust gepaart
Und frohe Hoffnung sanft bereitet.«

Dies gab der Mutter frommer Sinn
Den Kindern als Erzählung hin. –
O Mütter, ehrt die fromme Sage!
Der Unschuld kindlich reine Brust
Hebt fröhlich sich in Leid und Lust,
Und sie besteht der Prüfung Tage.


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