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Gapohtinamit, die Jungfrauenstadt, war eine Tagereise entfernt. Über die Wiese und den Bach, dann immerfort durch Urwald führten die eskortierenden Mädchen. Nach fünfstündigem Marsch wurde wieder eine Waldwiese sichtbar. Hier sei ein Dorf – sagte eines der Mädchen –, und hier würden sie Mittagsrast halten. Aber Ordas und Doña Elvira vermochten nirgends ein Dorf zu entdecken. Erst als die Jungfrauen lachend hinauf ins Baumgeäst zeigten, gewahrten Ordas und seine Begleiterin, daß wolkenhoch in den Baumkronen Hütten gezimmert und durch Holzbrücken miteinander verbunden waren. Auf Leitern stiegen sie empor, nachdem Ordas sein Pferd an eine Palme gebunden hatte.

»Diese Gorgonen leben wie die Affen in luftiger Höhe! Es sind also Baumbewohner!« sagte Ordas keuchend und schnaufend zu Doña Elvira, als er dreihundert Leitersprossen unter sich hatte.

Oben wurden sie gut empfangen und bewirtet. Nur Jungfrauen bewohnten das Baumdorf. Als etwas lästig empfand es ja Ordas, daß keine der Jungfrauen es sich nehmen ließ, seine Eisenrüstung und sein weißhäutiges Antlitz zu betasten. Auch hätten die Mädchen bekleidet sein können ... Doch dann wäre das Abenteuer vielleicht weniger abenteuerlich gewesen.

Die zehn mit Bogen bewaffneten Mädchen hatten den anderen Jungfrauen erzählt, daß die beiden Fremden Jäger seien. Allgemeines Verwundern rief es hervor, daß man mit einem baumlangen Speer jagen könne. Ob er ihnen das nicht vorführen wolle? baten die Mädchen, – sie würden gar zu gern eine solche Jagd sehen.

Dawider hatte Ordas nichts einzuwenden. Eine Jagd unter Gorgonen war nach seinem Geschmack. Ob es Hirsche im Walde gebe? ließ er durch Doña Elvira fragen.

Die Antwort lautete verneinend. Auch anderes Wild gab es nicht in der Nähe des Baumdorfes. Aber Ordas hatte sich nun einmal eine Treibjagd in den Kopf gesetzt und ließ sich nicht abschrecken. Er sah vor der Tür einer benachbarten Hütte eine Truthenne. Auf die zeigte er triumphierend. Ja, auf diese Truthenne wolle er eine Hetzjagd veranstalten ...

Mit Jubel und Gekicher kletterten einige hundert Jungfrauen mit ihren beiden Gästen und der Truthenne die Leiter hinab. Sie wurden belehrt, was sie als Treiberinnen zu tun hätten. Hoch zu Roß erwartete Ordas das Wild. Als die Truthenne, von den lachenden Mädchen erschreckt, auf ihn zulief, galoppierte er ihr entgegen und durchbohrte sie mit seiner Lanze.

Dann wurde die Reise zur ›Tigerin‹ fortgesetzt. Und wieder schritten neben Ordas und Doña Elvira die zehn mit Bogen bewaffneten Mädchen.


Inzwischen hatte das Christenheer die für uneinnehmbar geltende Stadt Quauhnahuac erstürmt und geplündert, eine »recht ansehnliche Beute« gemacht »an großen Mänteln und tüchtigen Indianerinnen« (wie ein Chronist berichtet) und war nordwestlich durch das Axochco-Gebirge – den Ort-der-Wasserblüte – ziehend zurück ins Hochtal Anahuac und an das Südufer des Süßwassersees von Xochimilco gelangt.

Die älteste Siedlung im Wassergau war die Pfahlstadt Xochimilco, die Stadt »Am Blumenfeld«. In Urzeiten waren als erste aus der ersten der sieben Höhlen Aztlans, des Reiherlandes, die Xochimilcas in die Welt hinausgewandert und hatten sich an dem noch unbewohnten See niedergelassen. Sie wurden die besten Blumenzüchter, Baumeister und Steinschneider in Montezumas Reich. Weithin berühmt und von den Frauen der Seeanwohner als Wallfahrtsziel besucht war die unter dem Wasserspiegel liegende Steinfigur einer Acihua, einer Seejungfrau, welcher einstmals Prinzessin Perlmuschel – La Azteca – die heißen Lippen küßte, worauf Cortes sie in die Basaltgrotte trug ... Jetzt hatte er wohl Ursache, jener seligen Nacht und des Wandels der Zeiten zu gedenken. Denn nicht mit Rosen beworfen und umjubelt wie damals, sondern mit Wutgeschrei und mit Stein- und Speerwürfen wurden er und sein wegmüdes Heer vor Xochimilco empfangen. Die Adler und Jaguare Guatemocs verwehrten den Eintritt in die Stadt.

Cortes hielt eine kurze Ansprache an seine Mannschaft – »Die Hölle ist hinter euch, Kameraden, das Paradies ist vor euch! ...« – und befahl, die Stadt zu stürmen.

»Santiago und los auf sie!«

Trommeln und Trompeten rangen hoch in den Lüften mit Muschelhörnern ...

Im dichtesten Schlachtgewühl, auf einer halbverbrannten Holzbrücke glitt Molinero, der Apfelschimmel des Cortes, über Leichen stolpernd, aus und stürzte. Im selben Augenblick wurde Cortes von Azteken gepackt, entwaffnet und als Kriegssklave fortgeschleppt. Die Feldobristen und Reiter kämpften weitab von ihm und sahen seine entsetzliche Lage nicht, und die kastilischen Fußsoldaten, auf der engen Brücke eingezwängt und festgekeilt im Handgemenge, vermochten nicht durchzubrechen, um ihn herauszuhauen. Er war verloren, dem Adlerstein geweiht, wenn nicht ein Wunder geschah. Dies Wunder vollbrachte der Tlascaltekenkönig Piltecatl – er, der einst das Alte Raubtier in Cholula geschminkt hatte. Begleitet von einigen hundert Tlascalteken durchschwamm er unterhalb der Brücke den Wassergraben, fiel den triumphierenden Mexikanern in den Rücken und entriß ihnen Cortes. Er selbst trug bei diesem Kampf drei schwere Kopfwunden davon.

Als nach stundenlangem Ringen die Christen in Xochimilco eingezogen waren und ihre Wunden wuschen und verbanden, suchte Cortes seinen Lebensretter auf. Er fand ihn in der Schlafkammer eines geflüchteten reichen Blumenhändlers auf einem Bette liegend, den Kopf mit blutgetränkten Baumwoll-Lappen umwickelt. Mit wortereichem Überschwang bedankte sich Cortes und fragte, ob er ihm einen Wunsch erfüllen könne. Da brachte Piltecatl den Wunsch vor, die Berge und Täler seiner Heimat und den Schnee der Maid-mit-demblauen-Hüfttuch wiedersehen zu dürfen, am Ufer des Flusses Zahuapan seine Wunden ausheilen zu dürfen. Obgleich Cortes durchschaute, daß nicht die Sehnsucht nach der Maid-mit-dem-blauen-Hüfttuch, sondern die Hoffnung, mit Kreideschmetterling, dem im Kloster bewachten Hermaphroditen, in Verbindung treten zu können, Piltecatls Heimweh nach Tlascala verursachte, schlug er ihm die Bitte nicht ab und versprach, sobald sie nachTezcuco zurückgekehrt sein würden, ihm Urlaub zu geben.


Der tapfere Widerstand Xochimilcos und die Lebensgefahr, in welcher der General-Kapitän geschwebt hatte, veranlaßte die Kastilier, Akolhuaken, Tlascalteken und das sie begleitende indianische Verbrechergesindel, grausame Rache an Gebäuden, Gärten und Menschen zu nehmen. Die schöne Stadt wurde geplündert und in Brand gesteckt. Don Vicente-Kriegsmaske ließ mehrere Gefangene foltern und erfuhr so, wo die Kostbarkeiten des Stadtkönigs aufbewahrt wurden: das Schatzhaus war ein einsam aus der Lagune emporragendes Gebäude unweit der Uferstraße. Ohne Cortes oder einen der Hauptleute in Kenntnis zu setzen, ruderte Kriegsmaske mit vielen Tlascalteken und einigen Kastiliern auf die Lagune hinaus und drang in die Schatzkammern ein. Plötzlich wurden sie von mexikanischen Booten umzingelt. Noch rechtzeitig erkannte Kriegsmaske die Gefahr und konnte mit der Mehrzahl seiner Begleiter, die Beute im Stiche lassend, entkommen. Doch vier Europäer – Alonso Luis, den man das Kind nannte, der Levantefahrer Andrés de Mola, der hinkende Tuvilla und ein gewisser Cascorro – erlitten das grausige Geschick, lebendig nach Tenuchtitlan gebracht zu werden. Sie starben auf der Adlerschale. Und Guatemoc ließ ihre abgehackten Arme und Beine durch die Städte Anahuacs tragen, um den Mut seiner Anhänger zu heben ...

Von dieser Schändung erfuhren die Christen erst einige Tage später. Zunächst wußten sie nur, daß den vier verschleppten Kameraden Gräßliches bevorstand. Und sie schoben die Schuld dem Tlascaltekenkönig zu, weil er eigenmächtig das außerhalb der Stadt gelegene Schatzhaus angegriffen hatte. Wutschnaubend trat Olid vor Cortes und verlangte, daß Don Vicente von einem Kriegsgericht abgeurteilt werde. Alvarado, der zugegen war, entschuldigte und verteidigte seinen Schwager. Er warf Olid vor, daß er schon einmal während der Kämpfe Am-Kolibri-Wasser auf grundlose oder wenig stichhaltige Anschuldigungen hin Kriegsmaske und den Vogelsteller in Ketten gelegt und Cortes in die peinliche Lage versetzt habe, sich vor Indianern entschuldigen zu müssen. Olid könne sein damaliges Unrecht Kriegsmaske nicht verzeihen ... Der alte Haß zwischen Alvarado und Olid flammte von neuem auf. Nach der Schlacht von Otompan hatte im Königszelt Alvarado dem mit Don Gallejo fechtenden Olid das Schwert aus der Hand geschlagen, und dieser hatte sich auf ihn geworfen, ihn an die Gurgel gefaßt, ihn zu erwürgen versucht. Von Cortes war damals der Streit geschlichtet worden. Doch die erzwungene Aussöhnung hatte, statt Versöhnung, vermehrten Groll gezüchtet.

Für die Vernichtung der beiden Brigantinen vor der Nacht der Schrecken war Kriegsmaske noch nicht bestraft. Die Abrechnung war verschoben, nicht vergessen. Wie letzthin nach dem Frauen- und Kindermord in Itztapalapan, hielt auch jetzt Cortes die Gelegenheit noch nicht für günstig, den Anführer des halben Tlascaltekenheeres an einen Baum zu hängen. Die Schale der Schuld war noch nicht voll. Darum wollte er noch warten. Er lehnte Olids Begehren ab, um ihn aber nicht allzusehr zu kränken, bespöttelte er Alvarado –: daß er nur aus Widerspruch sich zum Verteidiger Don Vicentes aufwerfe, obgleich dessen zorneifrigster Widersacher und Ankläger seine eigene Schwester Rabenblume, Alvarados Gemahlin, sei ...

Ein Stachel blieb in Alvarados Seele zurück nach diesem Gespräch, obgleich er gegen Olid recht behalten hatte.

Nach dreitägigem Aufenthalt im brennenden, qualmenden Xochimilco – nur ein Stadtteil, wo die Christen lagerten, war vom Feuer verschont geblieben – zog das Heer nordwärts am Süßwassersee und dann an der salzigen Lagune entlang, immerwährend kämpfend bis nach Tlacopan. Auf dem Wege dahin gerieten der Stallmeister Martin de Gamba und ein anderer Diener desCortes in die Gewalt der Mexikaner. Beide wurden lebend nach Tenuchtitlan gebracht und angesichts des vorbeiziehenden Heeres auf der großen Pyramide von Tlatelolco geopfert. Die Marter seiner beiden Diener ging Cortes besonders nahe, er konnte sich der Tränen nicht erwehren. Weinend zog er in die Stadt Tlacopan ein.

Finsteres Gewölk ballte sich zusammen, dehnte sich und wuchs und türmte sich am Horizont, mit hochragenden Kuppen wie ein grauweißes Eisgebirge in den tiefblauen Äther schneidend. Unheilschwanger brütete, zuckte und flimmerte die Gewitterluft. Cortes, Alderete, Frater Aguilar und der Fahnenträger Corral erstiegen Tlacopans höchste Pyramide, jenen Stufentempel des unheimlichen Tezcatlipoca, auf dessen Altar Montezuma den abgeschnittenen Kopf Escalantes hatte niederlegen lassen. Vom Menschenwürgeplatz aus konnten die Kastilier den türkisvogelfarbenen See, die dunstweißen, silbrig flirrenden Ufer und die greifbar nahen blaßrötlichen Steinbauten Tenuchtitlans übersehen. Die Wolken und die Sonne wappneten sich zu einem titanischen Kampf. Doch noch war die Sonne sieghaft und wandelte hoch über dem Kamm des Wolkengebirges. Die sich schwärzenden Wände rings vermochten noch nicht die Bläue des Sees zu löschen, entfachten vielmehr das kristallene Blinken und glitzernde Lächeln der sonnendurchglühten Wellen. Wie aus Alabaster durchscheinend leuchteten die Türme der Königin aller Städte vor dem bleifarbenen Hintergrund.

Abseits stand Cortes, düster, sorgenbelastet, und horchte nicht hin, wie der Fahnenträger Corral dem Kron-Schatzmeister die Befestigungen der Wasserstadt und die Steindämme zeigte, ihm die furchtbaren Kämpfe an den Dammdurchstichen während der Nacht der Schrecken beschrieb. Von Aguilar ließ sich Alderete die Namen der vornehmsten Tempel und Paläste nennen.

»Ich werde Seiner katholischen Majestät schreiben«, sagte Alderete zu Cortes, »daß die Größe, Schönheit und Macht dieser Stadt ans Wunderbare grenzen wie ebenfalls Eure Taten – ohne Gottes schützende Hand, ohne des Allmächtigen offenbaren Beistand hätten Menschen nimmermehr vollbringen können, was Ihr vollbracht!«

Cortes gab keine Antwort. Wer lobt, überhebt sich. Allzusehr spielte sich dieser Schranze zum Mentor auf.

»Frater«, sagte Cortes, »es ist wie ein herrliches Frauenantlitz, das zwei Zahnlücken entstellen! ... Ihr seht mich fragend an? Schaut hin! Wie abscheulich in dieser Zauberwelt sind die beiden Brandstätten: Itztapalapan und Xochimilco! ... Unser Werk! Dürfen wir sagen: Gottes Hand? ...«

Scheu irrten Aguilars hohle Blicke zwischen Cortes und Alderete umher, er würgte an ungesprochenen Worten, brachte keines hervor, sein vorstehender Adamsapfel ging auf und nieder.

»Don Hernando«, sagte er nach längerem Schweigen, »denkt an das rauchende Herz Eures Stallmeisters Martin de Gambal«

Cortes' Augen füllten sich wieder mit Tränen.

»Trauert Ihr um ihn, Don Hernando, oder um Tenuchtitlan?«

»Um beide!« erwiderte Cortes.

Der Fahnenträger Corral war in das Sanktuar getreten. Jetzt brachte er den Schädel Escalantes, den er auf dem Altar gefunden hatte. Cortes nahm den Schädel in die Hand und betrachtete ihn. Plötzlich lächelte er:

»Ist es denn so grauenvoll? Es gibt häßliche Schädel, aber auch schöne. Dieser ist schön, ein Meisterwerk der Natur. Jeder Knochen sinnvoll erdacht vom Meister aller Meister ... Ja, schaut man dem Tode ins Auge, so entwaffnet man ihn. Fleischbedeckte Knochen sind wir alle, nur daß wir uns als solche nicht kennen. Das ist vielleicht der Zauber der Ruinen, daß sie ohne Tünche, ohne Tapeten und Vorhänge sind. Auch Ruinen müssen sein, sie sind eine Phase des wandelbaren Lebens!«

Der Kron-Schatzmeister bemerkte:

»Unwandelbar bleiben nur die ewigen Symbole: das Kreuz und die Krone!«

Ein skeptisches Lächeln glitt über Cortes' Gesicht. Dann aber sagte er ernst:

»Teilte ich Eure Meinung nicht, Señor Alderete, so wäre ich ja ein Verbrecher! Das Kreuz wird leben, wenn Tenuchtitlan starb, das Kreuz wird leben, wenn die Besten unseres Heeres, wenn wir alle vielleicht bei der Belagerung starben. Mehrmals sandte ich Friedensbotschaften, die herrliche Stadt vor dem Untergang zu bewahren. Nun wird geschehen, was geschehen muß. Viele Gräber werden zu schaufeln sein. Ich kann nicht helfen. Ich bin ein Diener des Kreuzes und der Krone – der Diener trägt die Verantwortung nicht! ...«

Der Himmel war schwarz geworden, als das Heer weiterzog. Die bläulichen Zickzacke der Blitze schossen nieder durch prasselnden Hagelregen, sie weißten den Apfelschimmel Molinero und das grambleiche Antlitz seines Reiters, der – die ragende Todeslanze in der Hand – an der Spitze der Vorhut nach Tezcuco ritt.


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