Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
An den erbeuteten Lebensmitteln hatte das Christenheer Hunger und Durst gestillt. Die Menge Goldes, teils auf dem Schlachtfeld den gefallenen Aztekenhäuptlingen abgenommen, teils im Lager gesammelt, war so groß, daß das Kronfünftel fast der Hälfte des verlorenen Schatzes gleichkam. Das Heer übernachtete auf dem feindlichen Lagerplatz und brach in der Frühe nach der nicht mehr weit entfernten Grenze Tlascalas auf, obgleich die ausnahmslos jeden Kämpfer brennenden Wunden eine Heilungsrast von mehreren Tagen erfordert hätten. Cortes' Kopfverletzung entzündete sich, weder in noch nach der Schlacht hatte er sich geschont, nun wurde er von Wundfleber geschüttelt und mußte, außerstande, sich im Sattel zu halten, auf einer Bahre getragen werden.
Der Weg nach Tlascala führte zunächst nordwärts durch die Ebene, an jenem Wald vorbei, wo Francisco de Lugo und die fünfundvierzig Mann der Vorhut von Prinz Ohrring-Schlange überfallen und gefangen wurden. Während Maria de Estrada am Waldrand entlangritt – stolzer denn je, denn sie hatte in der Schlacht von Otompan neue Lorbeeren gesammelt –, erblickte sie Becerrico, der sich mühselig aus dem Gehölz heranschleppte. Des armen Hundes Bauchwunde war nur zum Teil verheilt, was ihn indes nicht hinderte, die Amazone erkennend, freudig an ihrem Rosse hochzuspringen. Sie rief ihren Gatten, den weißhändigen Sanchez Farfan, und andere Gefährten herbei. Nach längerem Suchen wurde Ordas gefunden, schwer verletzt zwar von den Pranken des Bären, doch lebend. Das tote Tier lag neben ihm. Zu leidend war Ordas, als daß er hätte Auskunft geben können. Wieviel man ihn auch fragte, er schüttelte den Kopf, winkte schwermütig ab mit der spinnendürren Hand.
»Bringt mich in ein Narrenspital! Was soll ich noch unter Christenmenschen!« ächzte er.
Auch die Quelle wurde ausfindig gemacht, wo Lugo und seine Begleiter zuletzt gelagert hatten. Die hinterlassenen Spuren des Kampfes ließen über das schreckliche Los der Unglücklichen keinen Zweifel zu.
Als der Weg nach Osten in ein Tal der Quauhtepan-Kordillere – des Adlergebirges – einbog, war das Christenheer bald imstande, die Höhen von Tlascala und die Maid-mit-dem-blauen-Hüfttuch zu gewahren und durch freudige Zurufe zu begrüßen. Ein gemauerter, von Tempeltrümmem umgebener Brunnen, in dessen Umkreis die erste Nachtrast gehalten wurde, erquickte durch sein felsenkühles Wasser die Kranken und die Gesunden und bot wieder Anlaß zu Spötteleien über Ordas und seinen Jugendquell. Doch nicht Galgenhumor war diesmal, sondern Siegerfreude der Grund der harmlosen Ausgelassenheit. Cortes goß einen Tropfen öl in die hochgehenden Wogen der Heiterkeit. Das Lachen der Sorglosen schnitt wie ein grelles Licht in die finstere Dunsthülle seiner vom Wundfieber genährten Besorgtheit hinein. Ihm war das nahe Tlascala ein bedrückendes, unheimliches Rätsel. Noch hatte er kein Anzeichen dafür, welch ein Empfang ihn dort – am Tor der Großen Mauer – erwartete. Von Andres de Tapia, den er mit einem Trupp von achtzig Mann nach der Besiegung des Panfilo de Narvaez in der Stadt Tlascala zurückgelassen hatte, fehlte jegliche Nachricht. Und der Hohe Rat hatte weder Hilfstruppen noch Boten dem aus Mexico weichenden Christenheer entgegengesandt. Wenn nicht als Feindseligkeit, so doch als ein vorsichtiges Abwarten glaubte er diese Zurückhaltung deuten zu müssen. Ob die Kunde vom Sieg bei Otompan einen Umschwung bringen werde, stand dahin. Daher ließ er die Leute des Narvaez zusammenrufen, um sie zu ermahnen, kannte er doch ihre schlechte Manneszucht, während er zur Disziplin seiner Veteranen volles Vertrauen hatte.
»Wenn ihr in Tlascala seid«, sagte er, »so benehmt euch bescheiden, als gingt ihr durch die Straßen von Sevilla. Sprecht nicht überlaut, grölt nicht, rempelt die Indianer nicht an, lauft ihren Frauen nicht nach. Ein fluchwürdiges Verbrechen wäre es, wollte jetzt ein Soldat einen Tlascalteken oder eine Tlascaltekin kränken. In Gefahr brächte er damit das Leben seiner Kameraden, ja vielleicht den Verlust des Lebens uns allen, den Verlust vieler tausend Seelen der Kirche, den Verlust der treuesten Bundesgenossen dem Kaiser.«
Die Leute des Narvaez gelobten, es zu beherzigen.
Am Vormittag des folgenden Tages wurde endlich die Große Mauer erreicht. Cortes fühlte sich fieberfrei und kräftig genug, seinen Blauschimmel Molinero zu besteigen, und er ritt an der Spitze des Heeres durch die zwei verschlungen im Bogen geführten Gassen des turmartig aufragenden Tores. Die Otomis der Grenzwache widersetzten sich dem Einzug der Christen nicht. Sie grüßten ehrerbietig, erkundigten sich bei den heimkehrenden Tlascalteken nach ihren gefallenen Landsleuten und beklagten mit düsteren Mienen die große Zahl der Toten. Aus ihrem Benehmen ließ sich kein Schluß ziehen auf die Gesinnung des Rates der Alten in der Stadt Tlascala.
Huei-Otlipan, Am-großen-Wege, hieß die Tlascaltekenstadt unfern der Großen Mauer, wo das Christenheer zunächst Quartier nahm. Ein Empfang durch die Landesfürsten fand auch hier nicht statt. Zwei einheimische Botenläufer sandte Cortes an Andrés de Tapia und an den Senat von Tlascala, seine Ankunft und den Sieg von Otompan zu melden – obgleich er vermuten mußte, daß Tapia und der Senat längst davon unterrichtet waren.
Kühle Bergwinde wehten in Huei-Otlipan. Die Stadtbewohner lächelten ihre weißen Gäste freundlich an, zeigten sich aber, als Lebensmittel verlangt wurden, äußerst habgierig und auf Vorteil bedacht. Nur gegen Bezahlung verabreichten sie Speise und Trank. Die Kastilier hätten jenseits der Großen Mauer so unbescheidene Forderungen mit dem Degen beglichen. Der Mahnung des General-Kapitäns eingedenk, beschieden sie sich jedoch und entäußerten sich, um Zwistigkeiten zu vermeiden, eines Teiles ihrer neuen Goldbeute.
Am vierten Tage kehrten die beiden Boten zurück und kündeten den herannahenden Prachtzug des Hohen Rates und der Tetrarchen an, dem sie vorangeeilt waren. In der Tat ließ sich bereits eine Staubwolke im Südosten und bald darauf eine lange Prozession grellbunt aufgeputzter Indianer unterscheiden, die von achtzig in Stahl gekleideten Europäern begleitet waren. Die Feldobristen und Cortes befahlen ihren Pagen, Helme und Harnische blank zu scheuem, und sprengten in ritterlichem Festschmuck, eine stählern schimmernde Kavalkade, vor das Stadttor, den Kommenden entgegen.
Die königlichen Sänften wurden niedergestellt, und ihnen entstiegen die Stadtkönige: die Sammelnde Biene, das Offene Gesicht, der Rauchende Schild und Tecayahuatzin, »der Herr des Nebels«, ein Fürst des Freistaates Huexotzinco. Auch eine fünfte Sänfte wurde herangetragen; – die Christen trauten ihren Augen nicht, als sie in ihr Don Vicente Kriegsmaske, den Vernichter der beiden Brigantinen, erblickten. Wie selbstsicher oder wagehalsig mußte dieser Indianer sein, daß er eine so hohnvolle Frechheit wagen konnte!
Außer dem Hauptmann Andrés de Tapia mit seinen achtzig Fußsoldaten hatten sich zur Begrüßung auch der Prior des Klosters von Tlascala, Juan de las Varillas, und eine Anzahl Klosterschüler – tlascaltekische halbwüchsige Adelskinder in Mönchskutten – eingefunden. Die verwaisten Söhne des Fürsten Fichtenzweig jubelten mit am lautesten und warfen Blumen vor die Hufe der Pferde.
Von den Häuptlingen der Hilfstruppen waren mehrere mit den Kastiliern vor das Stadttor getreten, unter ihnen auch die Feldherren Tehuch, König Truthahn, die Schwarze Blume und Piltecatl (jener Neffe des Offenen Gesichts und Beschützer Kreideschmetterlings, der in Cholula das Alte Raubtier weiß geschminkt hatte). Zu Marina äußerte Piltecatl im Flüsterton, auf Kriegsmaske weisend:
»Wenn der Grüne Stein erlaubt, steche ich ihn nieder!«
Marina wiederholte Cortes die Worte. Der aber sagte kurz:
»Ich verbiete es!«
Und vom Pferde steigend, um den Hundertjährigen und die anderen Tetrarchen zu umarmen, rief er seinen verdutzten Offizieren zu:
»Laßt euch nichts anmerken! Wir müssen gute Miene zum bösen Spiel machen – nur so können wir das Spiel gewinnen! ... Noch kam die Zeit nicht, mit ihm abzurechnen!«
Der Großvater des Prinzen Kriegsmaske, der blinde Hundertjährige, vergoß Tränen der Rührung, während er die zitterigen Arme um Cortes' Nacken legte. Nach ihm umarmte Cortes das Offene Gesicht, den Rauchenden Schild und mit nicht weniger Innigkeit schließlich den Prinzen Kriegsmaske. Und auch dieser verhielt sich bei der Begrüßung tadellos und trug eine beflissene Herzlichkeit zur Schau. Es war, als wenn sich zwei spiegelglatte Schlangen liebkosend umeinanderringelten.
Erst mehrere Tage später erfuhr Cortes, daß die Abberufung des Herabstoßenden Adlers von Chalco nach Tenuchtitlan es Kriegsmaske und den mit ihm geflohenen Tlascalteken ermöglicht hatte, in ihre Berge zu entkommen. Die näheren Umstände erfuhr Cortes nie.
Im Auftrage des Überwältigers war der Herabstoßende Adler mit einer größeren Heeresabteilung in Eilmärschen vor die befestigte Stadt Chalco gerückt, um Verhandlungen mit Kriegsmaske anzuspinnen, durch ihn ein Bündnis mit Tlascala anzubahnen und ihn zu gewinnen für des Königs Ziel: Eintracht, Einigung, Zusammenschluß aller indianischen Völker. Kriegsmaske befand sich innerhalb der Mauern von Chalco. Seinethalben, in der Absicht, ihn zu schützen, setzte sich Chalco zur Wehr, wies Guatemocs Angebot eines Waffenstillstandes ab und brachte mit hartnäckigen Ausfällen den Mexikanern manche Verluste bei. Aus Rücksicht auf die Bewohner Chalcos sah sich auch Kriegsmaske gezwungen, die Bitte des Herabstoßenden Adlers um eine friedliche Zusammenkunft abzulehnen. Als eines Vermittlers bediente sich daher der Herabstoßende Adler des alten Zauberers Zacatzin, dessen Klugheit zu schätzen er in der Totenkammer der Laguneninsel oft Gelegenheit gehabt hatte. Glühende Liebe zum Land der Seen, an welchem er hing wie ein Kind an seiner Mutter, Besorgnis um die Zukunft der chichimekischen Völker erleichterten dem Zauberer die Ausführung des schwierigen Auftrages, einen Widersacher Mexicos in einen Freund Mexicos zu verwandeln. Mit ehrlicher Überzeugung machte er sich die Pläne des Überwältigers zu eigen. Es gelang ihm, zu Kriegsmaske vorzudringen und ihn für das große Ziel zu gewinnen.
Der Vorschlag des Herabstoßenden Adlers ging dahin, daß Kriegsmaske mit den Seinen bei einem Ausfall sich von den Kriegern Chalcos trennen und in der Richtung der Weißen Frau fliehen solle, Mexico gewährleistete ihm–zum Dank für die Verbrennung der Brigantinen – sein Entweichen nach Tlascala, nur der Herabstoßende Adler mit einer kleinen Leibwache werde ihn (zum Schein) verfolgen, um fern von Chalco mit ihm Frieden und Bundesgenossenschaft zu schließen.
Kriegsmaske willigte in den Vorschlag ein, bat jedoch, von einer Begegnung abzusehen. In Tlascala werde er besser für die gemeinsamen Pläne wirken können, wenn er nicht als Freund Mexicos dastehe. Auch äußerte er Zweifel darüber, ob seine Landsleute Einsicht genug haben würden, die Vorteile, ja die Notwendigkeit der Eintracht und des Zusammenschlusses der indianischen Völker zu erkennen und die Drangsale des Blumenkrieges zu vergessen. Das Schlimme sei, daß, seit Tlascala sich taufen ließ, das Band des gemeinsamen Glaubens mit Anahuac zerrissen wurde. Sein Volk fürchte weder die Götter, noch achte es die Priester mehr. Es müßten aus Mexico Priester geschickt werden, die den Tlascalteken die Ehrfurcht und Furcht vor den alten Göttern einflößten und ihnen dartun könnten, daß die Götter nicht tot seien.
Mit großer Lebhaftigkeit griff der alte Zauberer diesen Gedanken auf. Das sei richtig, daß die Tlascalteken als Christen für ein Bündnis nicht taugten. Erst müßten wieder die Götter Anahuacs und ihre Priester einziehen durch die Große Mauer. Er werde nicht ruhen, bis das geschehen sei. Und sollte Mexicos König und Priesterschaft zögern, so wolle er ganz allein es auf sich nehmen, dem Volke Tlascalas die Größe seiner Götter vor Augen zu führen ...
Die Verwirrung, in welche das Aztekenreich durch die unglückliche Schlacht bei Otompan und den Tod seines Königs, des Überwältigers, gestürzt worden war, rief den Herabstoßenden Adler vom chalkischen Kriegsschauplatz ab nach der Hauptstadt. Das Belagerungsheer aber blieb. Und einen Tag nach Guatemocs Abreise vollführte Kriegsmaske, wie verabredet, seine und seiner Tlascalteken Flucht, mit schnödem Undank den Bewohnern Chalcos ihre Gastfreundschaft und Beschützung dankend. Er erreichte ungehindert das Land des Gewittergottes, das Wasserparadies Tlalocan (wo die Mutter der Hexen mit der Bergblume genannten Hexe ihr Unwesen trieb) und langte früher an der Großen Mauer an als Cortes, so daß ihm Zeit verblieb, künftigen Anklagen der Kastilier vorzuarbeiten. Dem Umstand, daß er mit tausend Anhängern das bedrängte Christenheer im Stich gelassen, gab er die harmlose Auslegung: er sei Kreideschmetterlings wegen mit Piltecatl in Streit geraten und habe, da man ihm sein Recht vorenthielt, nach Tlascala zurückkehren wollen.
Cortes trug bei der Begrüßung mit den Tetrarchen weder Helm noch Barett noch Toque-Hut. Mit Tüchern war sein Kopf ganz und gar umwickelt, so daß Augen, Nase und Mund wie aus dem offenen Visier eines schlohweißen Helmes hervordunkelten. Die linke Hand, an welcher er drei Finger eingebüßt hatte, trug er gleichfalls verbunden. Und auch die anderen Christen waren mit weißen Binden kläglich und stolz geschmückt, als wären es Ordenszeichen. Besorgt erkundigten sich die Stadtkönige nach den zwei Kopfwunden des Cortes. Er lachte:
»Umsonst kauft man nicht einmal Lebensmittel in Huei-Otlipan. Zahlen muß man, wenn man siegen will wie wir bei Otompan! Ich hätte ein Auge und die rechte Faust ohne Murren hingegeben für einen so unerhörten Sieg!«
Er lachte seiner Wunden, auch der seelischen. Seine fiebrigen Augen straften ihn Lügen. Er war kränker, als er es wahrhaben wollte.
Das Offene Gesicht hielt eine feierliche Ansprache:
»0 großer Krieger, o Grüner Stein! Der Himmel hat dich beschützt, der Himmel hat dich zurückgeführt zu deinen Freunden. Hättest du doch auf mich gehört! Oftmals habe ich dir abgeraten, habe ich dich gewarnt vor dem heimtückischen Mexico. Voll Hinterlist – denn nur durch Hinterlist war es möglich – hat es den Giftstachel gezückt gegen die Tausende, die von den Männern und Frauen, den Greisen und Greisinnen, den Knaben und Mädchen Tlascalas beweint werden. Aber wahrlich, bei Otompan hast du ihm den Stachel entrissen, ehe sein Stich und die Stiche seiner hunderttausend Hornissen und Mücken dir Schaden taten! Nun ruhe dein Herz aus bei deinen wahren Freunden, den Tlascalteken. Der Himmel und die Erde seien mit dir! Der Himmel und die Erde hören meine Worte: Tlascala freut sich deiner Ankunft und wird, wenn du dich ausgeruht hast, mit dir Rache nehmen und das Angesicht Mexicos dem Untergang weihen!«
Eine Zentnerlast sank den Kastiliern von der Seele. Jetzt erst, jetzt endlich war alle Gefahr überstanden.
Dankerfüllt umarmte und küßte Cortes das Offene Gesicht. Und er ließ das dem Überwältiger entrissene Matla Xiquipilli – den goldenen »Netz-Sack« – herbeibringen, überreichte es ihm als Geschenk. Nicht höher konnte ein Tlascalteken-Fürst geehrt werden als durch den Besitz der mexikanischen Königsstandarte. Die Tetrarchen und ihre Begleiter brachen in maßlosen Jubel aus.
Auf dem Wege nach der Hauptstadt ritt Cortes neben dem Prior und äußerte seine Zufriedenheit über die Haltung, das Aussehen und die scheinbar aufrichtige Begeisterung seiner Zöglinge. Einer der Klosterknaben hatte ihn mit einer lateinischen Rede willkommen geheißen und auf seine lateinisch gestellten Fragen in gutem Latein geantwortet.
Juan de las Varillas sagte:
»Den Tertullian lesen können jetzt fast alle. Bloß die Otomis sind unbegabt. Die tlascaltekischen und aztekischen Kinder sind wie geschaffen für die Klosterschule. Sie wollen streng gehalten sein – das Calmecac, die heidnische Erziehungsanstalt, war ja bei weitem noch strenger. Nur eines ist gegen die Kinder einzuwenden: sie werden christlicher als die Christen.«
»Ist das ein Übel?«
»Zuweilen schon, Euer Gnaden. Frömmigkeit ist unantastbar, sie läßt sich nicht bestrafen, sie bindet dem Lehrer die Hände. Ja, sie kann sich auch gegen den Lehrer wenden.«
»Nennt mir ein Beispiel, damit ich Euch verstehe!«
»Als hier bekannt wurde, daß Ihr in Tenuchtitlan belagert wurdet, war kein Unterricht mehr möglich: meine Zöglinge beteten Tag und Nacht, um des Herrgotts Beistand für Euch zu erzwingen. Ich entdeckte ein Komplott unter den Kindern: verschworen hatten sie sich, den Hauptmann Andrés de Tapia umzubringen, weil er das Angebot des. Offenen Gesichtes ausgeschlagen ...«
»Welches Angebot? ... Davon weiß ich nichts.«
»Ich mag kein Angeber sein, Euer Gnaden ...«
»Das seid Ihr nicht, wenn Ihr die Wahrheit sprecht. Um Euch Ärger zu ersparen, will ich verschweigen, von wem ich's erfuhrt ... Also?«
»Das Offene Gesicht, Euer Gnaden, bot dem Hauptmann Tapia siebzigtausend Mann Hilfstruppen an, um Euch in Tenuchtitlan beizustehen. Aber Tapia schlug es aus.«
»Warum?«
»Er sagte, ihm sei von Euch, Euer Gnaden, nach dem Sieg über Narvaez – als Ihr ihn mit den achtzig Mann in Tlascala zurückließt – aufs strengste verboten worden, sich ohne ausdrücklichen Befehl aus der Stadt Tlascala fortzurühren.«
Molinero die Sporen gebend, ritt Cortes an die Sänfte des Offenen Gesichts heran. Erst sprach er von gleichgültigen Dingen, brachte dann das Gespräch auf die großen Verluste des Heeres und beklagte sich, daß ihn Tlascala ohne Beistand gelassen habe. Da rechtfertigte sich das Offene Gesicht. Siebzigtausend Mann habe er angeboten, Tapia jedoch habe sie ausgeschlagen.
Nachdem Cortes durch weitere Fragen die Angaben des Priors in allen Einzelheiten bestätigt fand, ließ er den Hauptmann Tapia rufen.
»Eben erfahre ich vom Kaziken, daß er Euch siebzigtausend Mann Hilfstruppen angeboten hat. Warum seid Ihr mir nicht zu Hilfe geeilt?«
»Ihr verbotet mir, Tlascala zu verlassen, Don Hernando! Genau nach Euren Befehlen habe ich gehandelt!«
»Hängen lassen sollte ich Euch! Nur Eurer früheren Verdienste wegen will ich vom Galgen absehen! Aber ich kann keinen Offizier brauchen, der durch meinen Befehl gehindert wird, sich selbst zu befehlen. Unwürdig, Feldobrist zu heißen, ist, wer sich an den Buchstaben eines Befehls hält, statt selbst zu wissen, was die Notwendigkeit erfordert. Tretet die Führung Eurer achtzig Mann Don Alonso de Ojeda ab, den ich an Eurer Stelle zum Hauptmann ernenne. Ihr seid kein Hauptmann mehr!«
Andrés de Tapia ertrug den Schimpf der Degradierung mannhaft und ohne Rachegefühl. Er sagte schlicht:
»Auch als einfacher Soldat werde ich Euch treu sein, Don Hernando!«
Als tags darauf der Einzug in die blumengeschmückte Stadt Tlascala erfolgte, kamen in Scharen weinende Mütter und Schwestern den Kastiliern entgegen und fragten angstvoll nach ihren Anverwandten. Die Zahl der Vermißten und Gefallenen war erschreckend groß: in der Nacht der Schrecken allein waren viertausend Tlascalteken umgekommen, an jeder Feuerstelle wurden Tote beklagt. Trotzdem ließ das Volk es sich nicht nehmen, den Weg der weißen Götter mit Blumen zu bestreuen und Kürbisrasseln zu schwingen.
Diesmal wählte Cortes den (auf steilem, jäh am Ufer des Zahuapan emporragenden Felshügel) einer Zitadelle ähnlich erbauten Tecpan des Offenen Gesichts inmitten der Stadt als Wohnung und Standlager. Da die Sammelnde Biene, der einstige Gastfreund der Kastilier, sich, gekränkt über die Zurücksetzung, beklagte, bezogen, ihn zu beschwichtigen, Alvarado, Sandoval, Luis Marin und Quiñones seinen Palast.
In den weiten Räumen seines Palastes wurde denselben Abend noch ein indianischer Ball für Kastilier und Tlascalteken veranstaltet. Doch die Freude des Festes fand ein jähes Ende durch die Leidenschaftlichkeit der Enkelin des blinden Hundertjährigen, Doña Maria Luisa Rabenblume.
Ihr Bruder, Don Vicente Kriegsmaske, war zum Tanzfest geladen worden und war erschienen. Dem Gebot des General-Kapitäns gemäß hatten die Christen keinen Vorwurf gegen ihn erhoben, selbst nicht andeutungsweise war von einer Schuld die Rede gewesen. Aber Rabenblume, ohne ihren Gatten Alvarado von ihrem Vorsatz in Kenntnis zu setzen, hatte ihre europäische Kleidung abgelegt und nahm als indianische Prinzessin, die sie war, an dem Reigen teil, in der Absicht, ihren Bruder vor ganz Tlascala an den Pranger zu stellen.
Das Haar in Zöpfe geflochten, in langen Kleidern und Jaguarfell-Mänteln tanzten die jungen Tlascalteken und im Schneckengehäuse-Schmuck der Tanzgöttinnen die jungen Tlascaltekinnen zum ohrenbetäubenden Geschrill der Tlapitzalli-Flöten und tönernen Pfeifen, zum Gedröhn der Huehuetl-Tamburine und den eintönigen Weisen eines Sängerchors. Kriegsmaske ging auf Sandovals Gattin Doña Ximena, die Tochter des Offenen Gesichts, zu und fragte sie, warum sie nicht mitsingen und mittanzen wolle. Die hübsche, tapfere Doña Ximena (sie, die bei langen Ritten hinter Sandoval auf Montillas Kruppe zu sitzen pflegte) war verwirrt durch die Frage und fand nicht gleich eine Antwort. Rabenblume kam ihr zuvor und schrie Kriegsmaske an. So laut erhob sie die Stimme, daß die Musik der Flöten und Trommeln verstummte, daß bald die Tänzer stehenblieben und alle Festteilnehmer zu lauschen begannen.
»Sie will nicht tanzen«, schrie Rabenblume, »weil ihr Schwager Velazquez in Tenuchtitlan erschlagen wurde! Sie will nicht tanzen, weil ihre Schwester Doña Violante auf dem Dammweg erstochen wurde! Von den Brigantinen wären sie ans andere Ufer des Schilfsees getragen worden und wären am Leben geblieben, wie auch die viertausend toten Tlascalteken-Krieger, um die Tlascala trauert! Aber schurkisch hast du, Bruder, die beiden Schiffe in Brand gesteckt, – das Blut der Toten komme über dich, Mörder!«
Ein ungeheurer Tumult erhob sich. Die Freunde Don Vicentes umringten ihn, sein Leben zu schützen. Sie waren eine kleine Minderzahl. Die anderen rasten und wiederholten das Wort Mörder. Geballte Fäuste hoben sich.
»Mörder, gib uns unsere Toten wieder!« schrie eine schrille Stimme.
»Verleumdung!« brüllte Kriegsmaske in den Tumult hinein. »Als ich Tenuchtitlan verließ, fiel versehentlich die Fackel meines Sklaven auf den Werg, und von einem Windstoß ward der Werg auf die Schiffe geweht. Der Gott des Windes, Quetzalcoatl, war schuld – nicht ich!«
Hohnvoll, herausfordernd blickte er seine Widersacher an. Der Lärm erhob sich von neuem, wilder als zuvor. Eine Blasphemie waren die Worte Don Vicentes, eine Verspottung des christlichen Tlascala, eine Kränkung des weißen Gottes und der weißen Götter. Es mußte zum Handgemenge kommen, die Erbitterung war zu groß. Aber ehe ein Unheil geschah, schaffte sich Cortes Bahn durch die Menge der Tänzer und trat dicht an Kriegsmaske heran, ihm mit fiebrig glanzvollem Blick die Seele durchdringend und durchforschend. Kriegsmaske hielt den Blick nicht aus und schaute trotzig zur Seite. Da ließ ihm Cortes durch Marina sagen:
»Als du mir gestern in Huei-Otlipan entgegenkamst, mich zu begrüßen, vertrautest du auf meine Großmut. Du sollst dich nicht getäuscht haben. Ich glaube dir und will, daß auch ...«
Weiter konnte Cortes nicht reden. Er taumelte. Weiß wie eine Kopfbinde wurde sein Mund. Er stürzte ohnmächtig zu Boden.
Der Aufschrei Marinas lähmte die Anwesenden fast noch mehr als der Anblick des Leblosen. Alle waren überzeugt, ein Herzschlag habe seinem Leben ein Ende bereitet.
Um Kriegsmaske kümmerte sich niemand mehr. Unbehelligt konnten er und seine Freunde den Tecpan verlassen.