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Die erzenen Münder waren verstummt. Die Nacht und ihr Sohn, der Schlaf, hatten sich auf Tenuchtitlan herabgesenkt. Der zarte Schleier der lautlosen Stille wurde nur selten zerrissen durch Schifferrufe in den engen schwarzen Kanälen, durch Wächterrufe der christlichen Posten auf der Umfassungsmauer des alten Tecpan oder durch Lockrufe der dem großen Freudenhaus Tlatelolcos entschlichenen Süßduftenden.

Kurz bevor es zu tagen begann, lief atemlos ein Bote aus dem Huaxtekenlande auf dem Steindamm von Iztapalapan der Wasserstadt zu. Das Abzeichen des Läufers verriet die Bedeutsamkeit seiner Sendung. Von den Besatzungen des Bollwerkes Acachinanco und des südlichen Stadttores wurde er ohne Verzug durchgelassen und durch Trompetenstöße dem Huei-Tecpan gemeldet. Bei seiner Ankunft im Huei-Tecpan trat ihm der inzwischen von den Sklaven geweckte Vorsteher des Hauses der Teppiche im ersten Palastsaal entgegen, fragte ihn aus, von wo und von wem er komme, und begab sich, nachdem er erfahren, daß der Läufer vom Schwelenden Holz Botschaft bringe, ins königliche Schlafgemach, den Weltherrn aus dem Schlummer zu stören.

Wie damals vor acht Monaten, als der Staubaufwirbler nachts ankam, über die blutlose Opferhandlung unter freiem Himmel, den Wettlauf der Hirschmenschen auf den Dünen, die Donnerwaffen, die Trunkenheit der Tochter der Sonne, die mit Goldkörnern zu füllende Sturmhaube des Namenlosen Bericht zu erstatten und das Hirschhauptpergament seines Menschenmalers vorzulegen – so wollte auch diesmal der Zornige Herr die nächtliche Schreckenskunde nicht in seinem Schlafgemach entgegennehmen und ließ den Läufer in den Saal der Botschaften führen. Freilich, fünf nackten, mit Kreide geweißten Opfersklaven wie damals den Edelstein aus der Brust zu schneiden, lag diesmal kein Anlaß vor, denn nicht »im Angesicht der Götter geweilt« hatte der Läufer, hatte nicht »mit Göttern Reden gewechselt« und mußte daher nicht mit Blut übergössen werden. Der Glaube an die Göttlichkeit der weißen Götter war geschwunden.

Mit Schmetterlingsgesichtsbemalung und in einem Prunkkleid, auf welches skelettköpfige Waldkatzen gestickt waren, begab sich Montezuma in den Saal der Botschaften und nahm auf dem Thron unter dem Baldachin aus Adlerdaunen Platz.

Er trug eine Krone aus übereinandergeschuppten Silberplatten – einer Wangen und Stirn einrahmenden Haube ähnlich –» aus deren becherförmiger Spitze ein grüngoldener Springquell von Quetzalfederbüschen emporsprudelte. Ein Ohrenschmuck in Gestalt silberner Maisähren hing ihm von den Ohrläppchen bis zu den Schultern herab.

Kienfackeln, von Haus-Erleuchtern gehalten, füllten den weiten Saal mit Rauchstreifen. Schummrig belichtet vom hüpfenden Flammenschimmer, tauchten die blankpolierten Götzenskulpturen der Jaspiswände wie aus Nebelfernen auf, immer wieder verbleichend. Nicht weniger geisterhaft schwebten und wogten die Menschen im gaukelnden Feuerschein.

Montezuma war wach – und dennoch hörte er die Nachrichten von den Geschehnissen an der Meeresküste an, als wären sie eine Fortsetzung seiner bösen Träume. Mit verängstigten Blicken starrte er eine kleine Kiste aus Sandelholz an, welche vom knienden Boten ihm hingereicht wurde. Er nahm die Kiste nicht entgegen, er ließ sie auch nicht öffnen.

»Erzähle erst!« sagte er zum Läufer.

Und der Läufer erzählte. Mit vierzig Gelbhaarigen und tausend Totonaken war der Befehlshaber der Hafenfestung ins Feld gezogen, das furchtbare Gastmahl des Schwelenden Holzes zu strafen. Doch das Schwelende Holz nahm die Schlacht nicht sogleich an. Sein Sohn, der Blitzende Schild, lockte mit seinen Adlern und Jaguaren die Feinde in das Landesinnere, mit dem Hauptteil der mexikanischen Truppen aber durchzog das Schwelende Holz Totonacapan, verlangte die Herausgabe des seit der Gefangensetzung Guatemocs verweigerten Tributes, erklärte, als der dicke Kazike sich auf das Verbot der weißen Götter berief, die weißen Götter seien bereits Opfersklaven in Tenuchtitlan und ihr Edelsteinwasser werde in den nächsten Tagen schon über die Tempeltreppen herabfließen. Und er drohte mit der Zerstörung der Stadt Sempoalla, im Falle die Totonaken bei der Weigerung verharrten. Der Tribut wurde gezahlt. Und nun wandte sich das Schwelende Holz gegen das Heer der Weißen. Als eben die Schlacht begann, ließen – auf Befehl ihres Königs – die tausend totonakischen Krieger die Weißen im Stich. Allein mußten die vierzig Weißen gegen die mexikanische Streitmacht kämpfen. Trotz ihrer Blitzwaffen wurden sie in die Flucht geschlagen, sieben fanden den Tod – der tödlich verwundete Anführer und eines der Hirschungeheuer gerieten in die Gewalt der Mexikaner.

»Öffne die Kiste!« sagte Montezuma zum Boten. »Ich will das Geschenk des Schwelenden Holzes sehen!«

Der Bote hob den Deckel ab. In viele farbige, mit Paatl-Wasser parfümierte Tücher eingewickelt, lag dort ein unkenntlicher, kugelförmiger Gegenstand.

»Entferne die Tücher!« befahl Montezuma.

Der Bote entnahm der Kiste das Geschenk des Schwelenden Holzes und schälte von ihm die Hüllen ab. Nun wurde sichtbar, was er in den Händen hielt: es war das abgeschnittene Haupt Escalantes.

Blauweiß, pergamenten leuchtete die runzlige Haut des eingefallenen Gesichtes. Die scharfe Adlernase trat unnatürlich weit hervor. In den halboffenen Augen glomm ein Widerschein des Kienfackellichtes. Welk, vergilbt blinkte der weiße Knebelbart.

Einen kurzen scheuen Blick warf Montezuma auf das abgeschnittene Haupt, einen Blick voll Grausen und Triumph. Jetzt sah er es mit eigenen Augen, daß die Söhne der Sonne nicht unsterblich, nicht unbesiegbar, nicht allwissend waren. Alle seine Pläne – der Hinterhalt in Cholula, die Entsendung des falschen Montezuma, die gelockerten Felsen an der beim Popocatepetl vorbeiführenden Straße – waren von den weißen Göttern durchschaut und hintertrieben worden, nur dies hatten sie nicht hindern können, nur dies war voll und ganz gelungen, hatte sich abgespielt, wie es geplant worden war: das schaurige Gastmahl, das Herauslocken der Besatzung, der Verrat der Totonaken, der Tod des weißen Anführers. Zum erstenmal seit Jahresfrist waren die Himmelsgötter auf Seiten Mexicos. Wollten sie in die Königin aller Städte zurückkehren? Durfte er es als ein Zeichen auffassen, daß ihm fortan – bei einer gewagteren Tat – ihr Beistand nicht fehlen werde?

Er ertrug den Blick der verglasten Augen nicht. Selbst im Tode übte der weiße Mann einen Zauber, eine magische Anziehungskraft aus. Montezuma hatte nach ihm greifen wollen, doch seine Hände zitterten zu sehr. Scheu senkte er den Blick.

Man müsse das abgeschnittene Haupt den Göttern Mexicos darbringen, sagte er. Als aber der Vorsteher des Hauses der Teppiche an ihn die Frage richtete, auf dem Altare welches der Götter Mexicos der Kopf niedergelegt werden solle, besann sich der Zornige Herr und widerrief seinen Befehl. Es würde bald ruchbar werden, wenn das Haupt in einem der Gotteshäuser Tenuchtitlans liege, und die weißen Götter könnten versuchen, es zu befreien– darum wünsche er, daß das Haupt heimlich über den Steindamm von Tepeyacac nach Tlacopan gebracht und dort Tezcatlipoca geweiht werde ...


Die Sonne war inzwischen aufgegangen. Und zu erregt war Montezuma, sich wieder schlafen zu legen.

Um sein wallendes Blut wieder zur Ruhe zu bringen, rief er seine Krüppel und Narren. Fade waren, nicht des Hinhorchens wert, ihre Späße, unschmackhaft nach solch einer Nacht. Da hieß er die schönsten Mädchen aus dem Haus der Vierhundert Frauen kommen, setzte sich in ihre Mitte und lauschte dem Musikmeister Löffelreiher-Schlange und seinem Chor. Zwei Stunden lang ließ er sich von den Gesängen in ein mildes Wunschland entführen.

Dann nahm er – früher als sonst – den mit Vanille und Honig gesüßten Kakaotrank ein. Der Rührlöffel in der buntbemalten, aus Cholula – der Stadt der Majolikaarbeiter – stammenden Kakaoschale war ein geschliffenes stielförmiges Stück Bernstein, in Gold gefaßt. Unversehens entglitt der Bernsteinlöffel der noch immer zitternden Hand Montezumas, fiel auf den marmornen Estrich und brach in zwei Hälften. Tränen stürzten aus den Augen des Zornigen Herrn. Nicht um die entwertete Köstlichkeit weinte er – denn jederzeit konnte er einen gleichen Löffel von den berühmten Steinschneidern der Künstler- und Blumenstadt Xochimilco erhalten –, um sich selbst weinte er, ihm war, als sei der in zwei Stücke gebrochene Stab ein Bild von ihm, als sei er selbst der Bernsteinlöffel, eine entwertete Köstlichkeit ...

Der Hohepriester von Mexico, das Mexikaner-Priesterchen, wurde nun gemeldet. Montezuma ließ ihn in den Audienzsaal bitten und zugleich mit ihm auch den Überwältiger und den Edlen Traurigen. Beim letzten Kronrat hatte sein Bruder gefordert, dem Grünen Stein die Tore Mexicos zu verschließen, sein Neffe aber hatte es für unwürdig der Größe Mexicos erklärt, ihm die Gastfreundschaft zu verweigern. Sie waren die Vertreter der zwei schroff entgegengesetzten Anschauungen unter den Adligen der Kriegerkaste, und Montezuma wollte, daß beide Parteien zu Worte kämen, falls im Gespräch mit dem Hohenpriester (wie zu erwarten war) die Geschehnisse in der Huaxtekischen Provinz und, im Zusammenhang damit, die Frage erörtert würde, was mit dem Grünen Stein und seinem Heer nunmehr geschehen müsse ... Ein hoher hagerer Greis mit düsteren Gesichtszügen war das Mexikaner-Priesterchen. Seit König Molchs Zeiten Oberster der Edelsteinentreißer, hatte er einst Montezuma – als dieser noch ein mit geschmolzenem Kautschuk schwärzlich bemalter Unterpriester im Schlangenberg war – seine Strenge oft fühlen lassen und war sich seiner ungeminderten Macht über den König bewußt. Es war sein Wille, sein öffentlich ausgesprochener Wille, daß der König von den Göttern gestraft werde, weil er sein Versprechen nicht gehalten hatte, den Sternhimmel am Huitzilopochtli-Turm mit Geschmeiden zu überdecken. Das Mexikaner-Priesterchen war von der Allgewalt des mexikanischen Kriegsgottes zu sehr überzeugt, um die seitens der weißen Götter drohende Gefahr ernst zu nehmen. Die lächerlich kleine Schar der Gelbhaarigen hatte er beim Einzug gestern gesehen und gezählt – ein Wort Montezumas genügte ja, sie zu zermalmen. Aber darauf kam es ihm gerade an, Montezuma zu hemmen, daß er das Wort nicht zu früh ausspreche. Es lag ihm daran, Montezuma in Angst zu erhalten, auf daß er noch lange die Ungnade, die Strafe des Himmels spüre. Verlassen von den Göttern, im Stich gelassen von den Orakeln sollte er sein, bis er, reumütig den Schatz Tezcucos für den Sternhimmel herausgebend, sich des Wunderbaren Huitzilopochtli Verzeihung und Gunst erkauft haben werde.

In der letzten schweren Zeit hatte der Hohepriester dem König Beistand und Rat versagt. Heute aber kam er ihn zu demütigen, zu erniedrigen, ihm die Abhängigkeit von der hohen Geistlichkeit zum Bewußtsein zu bringen.

Mit unterwürfiger Körperhaltung und mit kriecherisch devoten Worten stellte er den Zornigen Herrn streng zur Rede, warum er das abgeschnittene Haupt des Gelbhaarigen dem Tezcatlipoca von Tlacopan geschenkt habe, statt es dem Huitzilopochtli von Tenuchtitlan zu geben. Und er verlangte im Namen der gekränkten Göttergesamtheit Mexicos, daß der König unverzüglich den Kopf durch Schnelläufer zurückholen lasse.

Montezuma entschuldigte sich: die kostbare Trophäe habe er aus Tenuchtitlan entfernt, damit sie von den weißen Göttern nicht entwendet werde, und er wolle sie feierlich nach Tenuchtitlan wieder zurückbringen, sobald die weißen Götter vernichtet wären, – das könne vielleicht schon in wenigen Tagen geschehen sein.

Der Überwältiger bemerkte hierzu: Nach einigen Tagen werde es wahrscheinlich zu spät sein. Mehr als einmal habe er gewarnt und gefleht, der Zornige Herr möge nicht Leute in sein Haus laden, die ihn hauslos machen könnten. Doch Vorwürfe zu erheben, sei jetzt nicht die Zeit. Und obgleich seine Ratschläge nicht beachtet worden seien, wolle er nicht aufhören, die Stimme zu erheben und zu helfen, soviel in seinen Kräften stehe. Sein Rat gehe nun dahin: noch an diesem Tage die Gelbhaarigen zu überfallen, sie zu opfern, den Kriegsgott durch ihr Blut zu ehren. Alle Vorbereitungen seien getroffen, schon würden die Pfeile, Speere und Schilde verteilt, die Adler und Jaguare stünden bereit und warteten nur auf das Losungswort des Zornigen Herrn. Heute sei noch Zeit zu kühnem Entschluß – morgen könne die Tat vielleicht schon unausführbar sein.

Der Edle Traurige widersprach. Ritterlich trat er für die Heiligkeit des Gastrechts ein. Beim letzten Kronrat habe auch er sich bereit erklärt, an der Ausrottung der Gäste teilzunehmen, sobald sie sich anmaßend benehmen, sich eines Übergriffes schuldig machen würden. Das sei indes bisher nicht geschehen.

Erregt entgegnete der Überwältiger: es sei schon zu viel gewartet und verschoben worden. Alle Schildträger lechzten nach Rache für Cholula. Heute, spätestens morgen müsse es geschehen, sonst stehe er für das Gelingen nicht ein. So günstige Vorzeichen wie augenblicklich, so günstige Kalendertage wie heute und morgen würden so bald nicht wiederkehren. Auch beweise die Kunde aus dem Huaxtekenlande, daß die Unbesiegbarkeit der Söhne der Sonne eine Fabel sei und daß die Himmelsgötter den Kindern Mexicos ihre Liebe und Huld wieder zugewandt hätten.

Das sei ein Irrtum, unterbrach ihn das Mexikaner-Priesterchen. Die Götter grollten noch immer, die Orakel, die er täglich befragen lasse, lauteten ungünstig. Und das Los Cholulas beweise, wie unklug es sei, Orakel zu mißachten. Er teile die Ansicht des Edlen Traurigen, daß man jetzt noch nicht losschlagen dürfe – wäre es auch nur, um die Tlascalteken ebenso gänzlich auszurotten wie die weißen Götter. Ein zerschnittener Wurm sei nicht tot, solange sein Kopf noch lebe. Darum solle man abwarten, bis sich die Tlascaltekenführer Kriegsmaske und Fichtenzweig gleichfalls in der Stadt der vier Steindämme eingefunden hätten – dann werde der Schimpf des unerbetenen Einzuges der Tlascalteken wettgemacht werden, und die Geduld der empörten Bevölkerung Tenuchtitlans werde belohnt sein.

Der Überwältiger machte dagegen geltend: wichtiger, als den Freistaat seiner Führer zu berauben, sei es, den weißen Göttern zuvorzukommen. Die Nachricht von der Niederlage ihres Küstenheeres werde ihnen nicht lange verborgen bleiben und werde sie vielleicht zu einer Verzweiflungstat drängen. Aber leider scheine die Zerstörung Cholulas manchen Mexikanern das Herz erweicht zu haben ...

Bisher hatte Montezuma geschwiegen. Jetzt äußerte er seine Meinung – und seine mit leiser Stimme, fast zaghaft vorgebrachte Meinung bedeutete einen unumstößlichen Beschluß, der keine Widerrede mehr duldete.

Solange der Grüne Stein, sagte er, vom abgeschnittenen Haupt nichts wisse, halte er es für klug, ihm und allen frechen Eindringlingen das Leben zu fristen. Auch glaube er, daß es nicht von Menschen, sondern vom Himmel abhängen werde, wie lange diese Frist dauern und über wessen Geschick sie wie eine Wolke schweben werde ... Inzwischen werde er die Gäste wie Gäste behandeln, durch Güte und Huldbeweise sie in Sicherheit wiegen ...

Der Vorsteher des Hauses der Teppiche trat ein und meldete Malintzin. Montezuma ließ sie hereinführen. [leer] Unter dem Schutz ihres Hofmeisters Pérez de Arteaga, ihres Pagen Santa Clara und zweier Musketiere kam Marina, den Großkönig zu fragen, ob ihm Cortes im Laufe des Vormittags seine Aufwartung machen dürfe. Nachdem sie einen bejahenden Bescheid erhalten, wollte sie sich wieder entfernen, wurde jedoch von Montezuma zurückgehalten, der ihr und ihren Begleitern Sessel hinstellen ließ und sie in ein Gespräch zog. Um Cortes nicht warten zu lassen, schickte sie Santa Clara in den Tecpan Königs Wassergesicht mit dem Auftrag, Montezumas Antwort auszurichten und zu erklären, warum ihre Rückkunft verzögert sei.

Allberühmt wie ihre Schönheit war die Legende ihres Lebens. Die nackten Tatsachen ihrer absonderlichen Erlebnisse muteten ja an sich schon wie ein Märchen an. Und seit einem Jahr war von den Bewohnern Anahuacs an diesem Märchen weitergedichtet worden, war es zu einem grotesken Mythus umgedichtet, entstellt und verzerrt worden. Tonantzin, »Unser Mütterchen«, wurde sie angeredet, wie die Maisgöttin. Sie sei die Tochter eines Königs, behaupteten die einen, sie sei die Tochter eines Gottes, behaupteten die anderen. Bei einer Seejungfrau unter dem Wasser habe sie ihre Jugend verlebt und sei dort mit Weisheit und Zauberkunst beschenkt worden, wurde erzählt, oder; sie sei eine Schwester der Bergblume, manche wiederum wollten wissen: als Schlachtopfer sei sie der Unratgöttin geweiht gewesen, die habgierigen Priester aber hätten sie an Menschenhändler verkauft ...

Alle diese Sagen hatten am Hofe Mexicos willige Hörer gefunden und waren auch dem Zornigen Herrn zu Ohren gekommen. Seine Teilnahme für das seltsame Mädchen war gesteigert seil der ersten Begegnung tags zuvor. Er konnte sich selbst darüber nicht Rechenschaft geben, was ihn zu ihr hinzog, die doch eine Feindin und Verräterin war. Ihre Schönheit – so außergewöhnlich sie war – konnte auf ihn, den Herrn des Hauses der Vierhundert Frauen, so tief nicht wirken, und menschliche Schicksale (sein eigenes ausgenommen) hatten bisher noch nie ein Mitgefühl in ihm geweckt.

Jetzt forderte er sie auf, ihm die Geschichte ihrer leidvollen Jugend zu erzählen.

Sie tat es. Als sie geendet hatte, fragte er sie: ob ihre böse Mutter noch am Leben sei.

Das wisse sie nicht, antwortete sie. Doch flehe sie zu Gott, daß ihre Mutter noch lebe.

»O Malintzin«, sagte Montezuma, »willst du, daß ich deine böse Mutter töten lasse?«

Wie zur Abwehr streckte Marina beide Arme aus und rief:

»O Herr, o König! Das Zeichen deiner Augenbrauen ist der Blitz, – was du befiehlst, geschieht sofort. Doch ich möchte nicht, daß du dieses befiehlst! ...«

»Oder willst du«, fuhr der König zu fragen fort, »daß ich das schlechte Weib, das dich verkauft hat, nach Tenuchtitlan schaffen lasse, damit du dich an ihr rächen kannst? Meine Schnelläufer können Oaxaca in einem Tage erreichen. Deine Mutter wird morgen abend im Huei-Tecpan sein.«

»0 Herr, o König, dessen Macht ohne Grenzen ist – ja, das will ich!« rief sie mit Tränen in den Augen. »Laß meine Mutter herkommen, daß ich sie wiedersehe! Doch nicht rächen will ich mich an ihr. Denn mein Gott Christus hat mir befohlen, die zu lieben, die mir Schlimmes zugefügt haben.«

Die letzten Worte machten einen ungünstigen Eindruck auf den König und seine Umgebung. Es war bekannt, daß Cortes solche Rede im Munde führte – in Cholula aber hatte er keine Liebe zu seinen Feinden bewiesen! Warum sprach ihm das Mädchen solche Heucheleien nach? Allzu unwahrscheinlich klang es, daß man lieben könne, was man hassen mußte ...

Unwillig blickte Montezuma Marina an. Ehe er jedoch eine zurechtweisende Antwort fand, kam seine Schwester, die vom Gott besessene Prinzessin Papan, in den Saal.

Mit weit aufgerissenen Augen stand sie vor Marina. Wirre, unzusammenhängende Sätze schrie der Gott aus ihr:

»Tochter Montezumas! Wehe dir, daß du nicht als Kind starbst!

... Wehe dir, daß du herangewachsen bist, du Unheil Mexicos! ... Nun kommst du in Blut gekleidet! ... Der König der Hirsche und die Hirschgöttin entsetzen sich vor dir ... Die Sterne zittern ... Eine Schlange bist du und warst eine Königstochter ... Weh mir Unglücklichen, daß ich dich retten half ... Du warst des Maisgottes Braut, doch leid taten mär deine Kinderhändchen ... Nun wird statt deiner Mexico der Adler mit der geöffneten Brust ... Die Fratzen der Finsternis steigen aus dem Westhimmel herab auf die Erde – siehst du sie nicht, o mein Bruder Montezuma? ... Im Skelettgefäß habe ich dein Kind verborgen ... Nicht Malintzin heißt sie – ihr Name ist: die Welle ... Bald wird der Komet bei Tageslicht scheinen, und die Sonne wird erbleichen und sich schwärzen vor ihm, der wie ein glühender Besen Tenuchtitlan fortfegt! ... O ihr Söhne Mexicos, kämpft gegen die rote Blutschlange, kämpft gegen die Prinzessin Welle, bringt sie in das Brautgemach des Maisgottes, dem sie als Wiegenkind versprochen wurde!«

Alle waren von ihren Sitzen emporgeschnellt. Montezuma sagte zu Papan:

»Es ist gut, ich habe deine Worte vernommen, beruhige dich ...«

Er faßte sie bei der Hand, führte sie zur Tür, übergab sie ihren Wärterinnen. Dann kehrte er zum Silberthron zurück, setzte sich, stützte das Kinn auf die Hand und schwieg lange, in Sinnen verloren.

Von einer Nebenfrau hatte er einst eine Tochter – Acueyotl, die Welle – gehabt. Bei einer Hungersnot vor mehr als einem Jahrzehnt, die infolge von Regenmangel ganz Anahuac heimsuchte, war die kleine Königstochter vom Volk und den Priestern als Regenmädchen für den Gewittergott Tlaloc gefordert worden. Zum Wohl des Landes hatte Montezuma sein Fleisch und Blut hergegeben, nur geweigert hatte er sich, bei der Opferhandlung zugegen zu sein. Seitdem war er immer des Glaubens gewesen, das Kind sei auf einer Bergspitze dem Regengott dargebracht worden. Aber freilich, undenkbar war es nicht, daß von Wärterinnen oder weiblichen Verwandten ein Sklavenkind als Regenmädchen untergeschoben worden war.

Als er den Blick hob, trafen seine Augen auf die sinnenden Augen des Hohenpriesters. Auch das Mexikaner-Priesterchen entsann sich der Welle, wußte bestimmter als der König, daß die gemütskranke Papan sich irrte. Doch gelegen kam ihm dieser Irrtum. Eine neue Handhabe gab ihm der aufsteigende Zweifel Montezumas, ihn zu foltern, an seiner kranken Seele zu zerren.

Man müsse Nachforschungen über die Geburt Marinas anstellen lassen, äußerte das Mexikaner-Priesterchen. Des Königs Augen seien wie die Sonne: wo sie hinblicken, hellt sich das Dunkel auf!

Montezuma nickte.

»Ich werde nachforschen, bis ich es aufgeklärt habe!« sagte er.

Und er schaute voll Schrecken und Liebe auf die verloren lächelnde Marina.

Da wurde die Ankunft von Cortes gemeldet. [leer] In Galakleidern traten Cortes, Velazquez de Leon, Alvarado, Ordas und Sandoval ein. Eine Leibwache von fünf Soldaten begleitete sie.

Nachdem man sich begrüßt und Platz genommen hatte, machte Cortes seinen zweiten Bekehrungsversuch – hatte er doch schon im alten Tecpan dem König nahegelegt, sich durch Taufwasser gegen die Qualen in den sieben Trichterkreisen der Gehenna zu feien. Während er sprach, zählte er die Türen des Saales. Marina, noch wirr und erschüttert von den Worten Papans, hatte Mühe, die christliche Mystik in mexikanische Worte zu kleiden. Denn Cortes nahm die Gelegenheit wahr, die Entfernung von Montezumas Thronsitz bis zur nächsten Tür zu messen, während er redegewandt in Gegenwart des blutfinster dreinschauenden Mexikaner-Priesterchens die Eschatologie des Christentums entwickelte, beginnend mit der Erbsünde als Auftakt zum Jüngsten Gericht. Wie ein Theologe sprach er von der Trinität, der Inkarnation, der Transsubstantiation, der Passion und Resurrektion und überlegte, ob dreißig bewaffnete Besucher genügen würden, den König zu fangen ... Doch wie sehr auch Marina bestrebt war, das Transzendentale faßlich, das Unverständliche verständlich zu machen – es gelang nicht, Montezuma davon zu überzeugen, daß seinetwegen der Christengott am Kreuze gestorben war.

Wie tags zuvor lehnte Montezuma das dargebotene Heil ab. Freundlich und höflich tat er es, indem er dasselhe Argument vorbrachte, mit welchem früher, in gleicher Lage, schon die Tlascalteken und die Totonaken sich gegen die Bekehrung verschanzt hatten: der Christengott möge gut sein, die Götter Anahuacs wären aber gleichfalls gut ... Und er lenkte geschickt das Gespräch ab, indem er die unsinnigen Gerüchte beklagte, die schuld seien an so vielen Mißverständnissen und bewirkt hätten, daß Mexico vor den Söhnen der Sonne ergrauste, so daß er sich veranlaßt gesehen habe, ihnen vom Besuch Tenuchtitlans abzuraten. Jetzt wisse er, daß die weißen Götter keine greuelhaften Ungeheuer mit Hirschfüßen seien und auch keine bösen Götter, wie erzählt wurde, sondern gütige, freundliche, die Gerechtigkeit liebende Menschen von Fleisch und Bein, Menschen mit hellerer Haut. Doch auch sie sollten den falschen Gerüchten über ihn und den Verleumdungen der Tlascalteken keinen Glauben schenken: auch er sei kein Gott, sei Fleisch und Bein, weder habgierig noch grausam, und sein Tecpan sei nicht aus gelbem und weißem Götterdreck erbaut, sondern aus Stein und Mörtel – davon könnten sie sich ja überzeugen. Das wenige, was er an Götterdreck besitze, pflege er zu verschenken. Er habe ihnen schon einiges gegeben und hoffe sie noch oft damit zu erfreuen.

Und Montezuma ließ Goldgeschenke für Cortes und die Feldobristen hereintragen. Auch jedem der gemeinen Soldaten hängte er zwei Goldketten um den Hals.

Für sein Heer erbat und erhielt Cortes die Erlaubnis, den Huei-Tecpan und die Gärten Montezumas zu besichtigen.

Als er aber den Wunsch äußerte, die Schlangenberg-Pyramide zu ersteigen, zögerte Montezuma, beschwichtigte mit einer Handbewegung den aufbegehrenden Überwältiger, noch ehe dieser seine Empörung Luft machen konnte, winkte das Mexikaner-Priesterchen heran und sagte, nachdem er mit dem Hohenpriester eine Weile im Flüsterton geredet hatte: er werde am Nachmittage den Grünen Stein auf dem Menschenwürgeplatz erwarten und ihm das Heiligtum zeigen.


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