Autorenseite

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Achtzehntes Kapitel

Ruprecht erwachte mit unangenehmen Gefühlen. Auf den freudigen Aufschwung des gestrigen Nachmittags und Abends war eine tiefe Mutlosigkeit gefolgt. Jetzt lastete es wieder schwer auf ihm. Das Gespräch mit Schiereisen hatte Felsblöcke über seine Seele gewälzt und ihr Licht und Luft genommen. Er sah, daß es unmöglich war, länger so neben Helmina hinzuleben. Es mußte etwas geschehen … aber das war das Schrecklichste, daß er nicht wußte, was zu tun war. Sollte er Helmina vor Schiereisen warnen? Dadurch wurde er zum Mitschuldigen an ihrem Verbrechen. Konnte er es zugeben, daß Schiereisen seine Untersuchungen fortsetzte und Helmina überraschte …? Sollte er den Ereignissen ihren Lauf lassen und es als ein Gottesurteil betrachten, wie sie ausgingen?

Zergrübelt und abgespannt kam er zum Frühstück. Nur die Kinder und Miß Nelson waren da. Ruprecht saß der Engländerin gegenüber und hatte auf einmal eine Empfindung, die sehr sonderbar war. Wenn er sie so ansah, wie sie dasaß, schwarz, schlank, korrekt, immer gleichmütig, so erschien sie ihm wie die Achse aller Ereignisse in diesem Schloß. Die Verbindung zweier Pole, selbst unbewegt, doch Mittellinie und Rückgrat aller Bewegung ringsum. Mit einer heftigen Aufwallung beschloß er, sich seinen Gleichmut wiederzugewinnen.

Er stieß seinen Stuhl zurück und ging fort, um mit Helmina zu sprechen. Das Stubenmädchen sagte ihm, daß die gnädige Frau noch nicht nach ihr verlangt habe. Es war fast acht Uhr, sie sollte nur schon aufstehen. Auf sein Klopfen kam keine Antwort. Die Tür war versperrt. Plötzlich, wie Ruprecht so dastand, mit dem Ohr am Holz, da trieb es ihm langsam einen Keil ins Gehirn. Ah … sie hatte sich verstellt, sie hatte Schiereisen durchschaut, sie wußte von seiner gestrigen Unterredung mit dem Detektiv, sie war geflohen! Eine Weile stand er noch unbeweglich, dann rief er den alten Johann und befahl ihm, ein Brecheisen, eine Hacke und ein ähnliches Werkzeug zu bringen.

Bis zur Rückkehr des Dieners stand Ruprecht unbeweglich wie eine Wache vor der Tür. Seine ganze Besonnenheit war zurückgekehrt, seine Nerven leiteten klare Empfindungen, seine Gedanken waren praktisch auf das Nächste gewandt.

Johann brachte eine Holzhacke. Ruprecht schob ihre Schneide unten in die Türspalte, drückte sie fest ein, hob dann mit einem Ruck die Tür aus und warf sie krachend in das Zimmer. Entsetzt folgte ihm der alte Diener.

Helmina war fort. Ihr Bett stand unberührt. Das Fenster war offen und der Morgensonnenschein lag auf den weißen Polstern und der blauseidenen Decke. Ruprecht ging suchend im Zimmer herum … nirgends ein Brief für ihn, keine Erklärung …

Hinter ihm stand ein alter Mann, gebrochen, wankend, durch den plötzlichen Zusammensturz eines Tempels vernichtet.

Schiereisen trat ein. Ruprecht wandte sich um, und in einem Blick auf das Gesicht des Detektivs faßte er die Bedeutung dieses Ereignisses. »Du kannst gehen, Johann,« sagte er, »du kannst den Leuten sagen, daß die gnädige Frau abgereist ist.«

Als Johann draußen war, trat Ruprecht an Schiereisen heran: »Sie wissen schon, was geschehen ist?«

Der Detektiv nickte: »Ja … ich weiß es. Ich war bei der Abreise Ihrer Frau zugegen. Ungeladen natürlich.«

»Sie haben Helmina gesehen? Sie waren dabei? Ich verstehe nicht … und Sie haben sie nicht festgenommen? Warum haben Sie sie nicht aufgehalten? Sie haben sie doch in einem schweren Verdacht …«

»Ja … sehen Sie, Herr Baron, ich hätte sie freilich festhalten können. Vielleicht! Gewiß! Ich war auch im Begriff, es zu tun … aber ich habe es doch nicht getan. Warum? Ich bin stolz darauf, Ihr Freund zu sein, Herr Baron.«

»Aus Freundschaft für mich?«

»Ja … es ist so … das war nicht ganz pflichtgemäß … aber vielleicht ist es doch mit meiner Pflicht vereinbar. Ich bin hier im Auftrag des Herrn Peter von Zaugg, des Schwagers des verstorbenen Herrn Dankwardt. Dem liegt vor allem daran, festzustellen, daß Frau Helmina sich der Besitzungen des Verstorbenen durch ein Verbrechen bemächtigt hat. Daraus will er die Erneuerung gewisser Erbansprüche ableiten. Diesem Auftrag bin ich so weit nachgekommen, als es mir möglich war. Dann habe ich aber auch noch eine andere Pflicht … gegen die Öffentlichkeit. Die gebietet mir, so gefährliche Verbrecher von der Art Ihrer Frau und dieses Lorenz unschädlich zu machen. Ich werde auch noch diese Pflicht erfüllen. Aber Ihretwegen habe ich die Erfüllung aufgeschoben.«

»Aufgeschoben? Sie werden also Helmina noch verfolgen?«

»Ja. Ich habe ihr einen Vorsprung gegeben. Vor zehn Uhr treffen zwei Leute unseres Bureaus hier ein. Um zehn Uhr werde ich die Spur der Frau Helmina aufnehmen. Der Zufall, das Glück oder meine Geschicklichkeit sollen dann entscheiden. Ich werde dann selbstverständlich alles daransetzen, um Helmina festzunehmen. Unnachsichtlich! Aber den Vorsprung habe ich ihr geben müssen … das bin ich meiner Freundschaft zu Ihnen schuldig gewesen … Ich weiß, daß Sie diese Frau lieben.«

»Sie irren,« sagte Ruprecht ruhig, »ich liebe sie nicht mehr. Aber es war mir unmöglich, sie zu verraten. Sie werden mir rechtgeben …«

Schiereisen sah Ruprecht aufmerksam ins Gesicht: »So,« sagte er langsam, »Sie lieben Helmina nicht mehr … ja, dann …«

»Haben Sie von ihrem Fluchtplan gewußt?«

»Nein … es war eine Eingebung. Ich höre plötzlich in der Nacht ein Geräusch, wie wenn jemand an einer Tür rüttelt. Meine Sinne sind sehr wach und scharf in solchen Stunden. Ich höre also dieses Geräusch. Ich springe zur Gartentür … ich sehe jemand an der kleinen Tür des Turmes herumarbeiten … in diesem Augenblick hatte ich nur den selbstverständlichen Antrieb, zuzugreifen. Ich schleiche mich also um den Hof, längs der Mauern. Bevor ich aber noch hinkomme, geht die Tür auf … jemand schlüpft hinaus. Ich springe hin … es ist Helmina.«

»Sie waren also diese Nacht über im Schloß?«

»Ja …ich war im Schloß.«

Vor Ruprechts Augen war wieder die flimmernde Bilderjagd eines Kinematographenapparates. Aber er faßte sich sogleich, rückte einen Hebel und stellte sich ganz klar ein. »Sie haben gesucht?« fragte er.

»Und ich habe gefunden«, antwortete Schiereisen ruhig.

Ruprecht zuckte doch zusammen.

»Ja … ich bin dem Geheimnis auf den Grund gegangen,« fuhr Schiereisen fort, »ich habe endlich das Selbstverständliche getan, was ich schon längst hätte tun sollen. Die einfachsten und notwendigsten Dinge fallen einem immer zuletzt ein. Ich bin heute nacht in den alten Turm eingedrungen, auf den doch alle Ereignisse wie mit Händen gewiesen haben.«

Ruprecht schwieg und faßte den Säulenknauf am Bettende mit einer eisernen Faust.

»Ich sehe, Sie wissen, was ich gefunden habe«, sagte Schiereisen. »Es war keine leichte Arbeit. Jérome Rotrehl hat tüchtig helfen müssen. Sie wissen vielleicht, daß ziemlich hoch oben im Turm eine Öffnung ist. Da sind wir eingestiegen. Es war ungemein interessant. Der Turm ist mit Geröll angefüllt. Man ist immer in Gefahr, zerquetscht zu werden. Es scheint, daß man noch vor kurzem recht viele Hindernisse angelegt hat. Wir sind unter einem Steinblock durchgekrochen, der auf seiner Kante steht. Eine Berührung mit der Fingerspitze, und er fällt um. Es ist die reine Mausefalle. Aber wir haben uns doch hineingearbeitet. Immer tiefer. Und da sind wir endlich in ein Gewölbe gekommen, ganz tief unten. Da war dann nichts mehr. Aber ich habe mich nicht irreführen lassen. Wir haben weiter gesucht. Und sind dann endlich auf das Versteck gestoßen. Es war sorgsam angelegt, wie die versteckten Leichenkammern der ägyptischen Königsgräber … Ja … es waren ja auch hier Leichen zu verbergen. Drei. Sie verstehen. Man hat Ätzkalk angewendet, offenbar vor ganz kurzer Zeit … nun gut, lassen wir das. Wir wissen nun, warum Jana verunglückt ist, nicht wahr? Ich war am Ziel. Dann … das mit Helmina, die Entdeckung ihrer Flucht … war noch eine Draufgabe.«

»Und Sie haben sie entkommen lassen … was soll ich sagen …« Der Säulenknauf knarrte in Ruprechts Faust.

Da legte ihm Schiereisen die Hand auf die Schulter und senkte einen guten und besorgten Blick in seine Augen. »Wissen Sie,« sagte er mit einem halben Lächeln, »daß ich zuerst geglaubt habe … nun, ich hätte mich ja auch gar nicht wundern dürfen, wenn Sie Helmina gewarnt hätten.«

»Ich habe ihr kein Wort von unserer Unterredung gesagt.«

Schiereisen nickte: »Ich weiß es. Das war mir augenblicklich klar, wie ich vor das Tor gekommen bin. Sie haben ihr nichts gesagt! Ihre Flucht war längst beschlossen und besprochen. Ein fremder Mann hat sie vor dem Tor erwartet.«

»Lorenz!«

»Nein! Lorenz war unten auf der Straße, mit einem Automobil. Es war ein anderer.«

Ruprecht stand fest, sein Blick verwirrte sich nicht. Er fragte nur kurz und fordernd.

»Ich hoffe, Sie täuschen sich nicht, daß Sie Helmina nicht mehr lieben,« sagte Schiereisen, »wenn das wahr ist, dann ist es gut für Sie. Der Mann, der sie erwartet hat, ist Fritz Gegely. Er ist mit ihr fort –«

»Fritz Gegely!« sagte Ruprecht. Er verstand zuerst den Zusammenhang nicht, dann drängte sich aus der Wirrnis ein einziger Gedanke vor … »Ich muß zu ihr … er ist fort … ich muß zu ihr …« Und er rannte fort, nahm seinen Hut und lief die Stiegen hinab.

Schiereisen hielt sich neben ihm. Das Benehmen Ruprechts erschien ihm mit einemmal so wunderlich, die Fassung war so plötzlich verschwunden, daß er glaubte, er dürfe ihn nun nicht allein lassen. Er wußte keine Erklärung.

Auf halbem Wege, gerade auf der Brücke, traf Ruprecht eine Botin, die ihn schon zu Hedwig berief. Das Stubenmädchen aus dem »Roten Ochsen« war ganz aufgeregt und konnte nur stammelnd ihren Auftrag ausrichten. Ihre Entrüstung war ebenso groß wie ihr Mitleid mit der Verlassenen. Es ballte sich in ihr zusammen. So ein niederträchtiges Gesindel waren die Männer, und der Schorsch sollte es schon noch heute zu hören bekommen.

Hedwig lag sehr blaß in ihrem Rollstuhl am offenen Fenster, im Morgensonnenschein, und ihre Hände bedeckten ein Papier. Sie wandte ihren Kopf der Türe zu, und da stand ein Strahlenkranz um ihr lichtes Haar.

Ruprecht erfaßte ihre Hand: »Hedwig!« sagte er, ganz aus bebenden Tiefen.

»Ja!« sagte sie, und es bedurfte keines weiteren Wortes zwischen diesen zwei Menschen. Sie reichte ihm den Brief, den Fritz Gegely zurückgelassen hatte.

Ruprecht las: »Ich bringe vielleicht Leid und Schmerz über Dich, meine Hedwig, ja, ich weiß es, aber dennoch kann ich nicht anders. Richte mich nicht, suche mich zu verstehen. Eine neue Liebe ist in mein Leben getreten, eine neue Sonne ist mir aufgegangen, ich muß einen neuen Kurs beginnen. Ich muß … es ist zwingender als der Tod. Ich halte eines aufrechten Menschen für unwürdig, Dir das zu verheimlichen, was Dir die Brutalität des Geschehens doch ohnehin allzu deutlich macht, daß ich das Leben mit Dir nicht länger zu tragen imstande war. Ich habe Dich geliebt, das weißt Du. Aber nun reißt mich das Leben von Dir fort. Das Leben und die große Pflicht gegen mich selbst. Ich bin ein Aufrechter, die große Kraft ist in mir, aber an Deiner Seite hatte ich mich nicht aufrechthalten können und mein Flug hätte sich nicht mehr gehoben. Ich fühle, wie mich die Kraft des Schaffens verlassen hat. Meine ›Marie Antoinette‹ wäre mein einziges Werk geblieben. Das kann ich nicht ertragen. Deine Gegenwart ist mir die stete Erinnerung an eine Demütigung. Ich muß mir eine andere Welt aufsuchen, ohne diese Mahnungen und Erinnerungen. Ich muß wieder fliegen können. Man hat mich aufmerksam gemacht, daß Du eine alte Freundschaft erneut hast. Das macht mir das Scheiden leichter. Ich weiß, daß Dir ein Trost verbleibt. Lebe wohl.«

Ruprecht legte den Brief wieder auf die Decke über den Knien Hedwigs. Sie sah zu ihm auf, hingegeben an ihr Schicksal, mehr verwundert als empört oder traurig.

Schiereisen ging leise aus dem Zimmer. Er wußte nun genug, es war wie eine große Befreiung in ihm. Die abgerundete Wirtin hielt ihn vor dem Haus auf, mit entrüsteten Fragen und Ausrufen. Es hatte sich bereits herumgesprochen, daß auch Helmina verschwunden war, und nun rasten die scheugewordenen Vermutungen dahin. Ein Wagen kam die Dorfstraße entlang und hielt vor dem »Roten Ochsen«. Zwei fremde Herren stiegen aus und begrüßten Schiereisen. »Sie sind pünktlich, ich danke Ihnen,« sagte der Detektiv, »wir werden sogleich beginnen.« –

Ernst Hugo hatte den Besuch bei seiner alten Mutter in Linz in aller Hast abgetan. Die alte Frau hatte diesmal wenig Freude an ihrem Sohn. Er war voll nervöser Unruhe, mißgestimmt, und es war zu sehen, daß seine Gedanken anderswo waren. Die kleinen Angelegenheiten, in denen seine Mutter lebte, waren ihm nur Belästigungen, und er konnte sich nur mühsam dazu zwingen, so zu tun, als höre er ihre Geschichten von Linzer Bekannten und Verwandten an. Diese kleinen, dummen Geschichten aus der Gevatternschaft, von Verlobungen, Geldverlusten und ungeratenen Söhnen. Und was ging inzwischen in Vorderschluder vor? Ernst Hugo hatte dem anderen das Feld überlassen müssen. Nur auf achtundvierzig Stunden. Dann kamen noch ein paar Urlaubstage. Und dann verschlang ihn wieder der Rachen des Dienstes. Wie das werden sollte, vermochte sich Hugo nicht einmal auszudenken, wenn er schon jetzt, bei einer Abwesenheit von zwei Tagen, den Verstand verlor. Es mußte zwischen ihm und Helmina zur Entscheidung kommen, bevor er nach Wien ging. Fritz Gegely war ein Eindringling in älteren Besitz, er verschob die Feldmarken auf dem Gebiet der Liebe. Er mußte unschädlich gemacht werden. Ernst Hugo war entschlossen, alle Anständigkeit beiseite zu setzen und die Geschichte des Heidelberger Diebstahls richtig zu beleuchten.

Als Ernst Hugo am Abend vor seiner Abreise von seiner Mutter Abschied nahm – denn er wollte ins Hotel gehen, um sie nachts nicht zu stören –, sah ihm die alte Frau in die Augen. »Was hast du, Ernst?« fragte sie, »ich glaube, du bist sehr verliebt …«

»Ach, was dir einfällt, Mutter«, antwortete er.

Sie aber schüttelte den Kopf: »Ja, mein Lieber, das wirst du mir nicht ableugnen … ich seh' es dir ja an. Du bist ganz verändert. Warum sagst du mir nichts davon?«

Und jetzt war es Ernst Hugo, als wäre es vielleicht wirklich besser geworden, wenn er seiner Mutter von seinem Verhängnis erzählt hätte. Aber nun war es zu spät. Er leugnete weiter und riß sich los. Dann auf der Fahrt kam die Unruhe noch ärger über ihn. Diese Leidenschaft hatte sich wirklich seiner wie ein Verhängnis bemächtigt, sie durchbrauste ihn und riß ihn fort, sie wühlte in seinem Innern und fraß an ihm, geierhaft, mit gierigem Schnabel. Er sehnte sich nach etwas Gutem, Klugem, Ruhigem, aber er wußte zugleich, das war ein Land, das er nie erreichen würde. Der ratternde Rhythmus des Zuges teilte sich ihm mit, er empfand sich eins mit diesem rasenden Ungetüm, und dennoch war es ihm, als kämen sie nicht von der Stelle, als säßen sie in einer Schraube ohne Ende.

So fuhr er die halbe Nacht hindurch.

Am frühen Morgen kam er nach Sankt Pölten. Die Sommersonne war schon auf und schaute dem Stationsgebäude über die Schulter. Ernst Hugo ging fröstelnd auf und ab. Er schaute nach den Fenstern der Beamtenwohnungen hinauf. Ein Vorhang bewegte sich. Eine Hand mit einer Gießkanne kam hervor und begoß die Blumentöpfe vor dem offenen Fenster. Ernst Hugo hatte die Vorstellung eines von frischer Nachtluft erfüllten Schlafzimmers, eines Bettes von weißer Leinwand und von Spitzen, einer blauseidenen Decke. Er biß die Zähne zusammen und ballte die Fäuste.

Der Schnellzug nach Salzburg–München war eingefahren und stand verschnaufend auf dem Geleise. Die Türen klappten auf und zu, die Kondukteure liefen auf und ab, die verschlafenen Kellner trugen den Frühkaffee längs der Wagenreihe. Ernst Hugo beachtete das Treiben nicht weiter. Er war in seine Gedanken eingesponnen, rang mit ihnen und vermochte sich nicht zu befreien. Sie fielen immer wieder über ihn her wie Wölfe.

Der Tumult des Zugaufenthaltes verebbte. Die Kondukteure schlossen die Türen, hoben die Hände einer zum andern … in diesem Augenblick stürmten aus dem Wartesaal erster Klasse drei Menschen. Sie liefen über die Geleise, dem Zug zu … voran ein breitschultriger Riese, der zwei Handtaschen trug … dann eine Dame und ein Herr … Ernst Hugo bekam einen flüchtig vorübergleitenden Bildeindruck. Dann, nach einer Ewigkeit, folgte ein Stoß: das war Helmina … und Lorenz lief voran … und der Mann neben ihr war … Fritz Gegely … als Englishman, in korrekter Reisekleidung.

Ernst Hugo hat später, als er sich der Psychologie zuzuwenden begann, dieses Erlebnis bei sich stets als ein Beispiel für die langsame Arbeit der Bahnen zwischen Entschluß und Ausführung angesehen.

Er setzte eben zum Sprung an, als es schon zu spät war. Der Kondukteur hatte eine Wagentür aufgerissen, die drei Reisenden waren in wilder Eile eingestiegen, und schon hatte sich der Zug in Bewegung gesetzt. Er glitt langsam an Ernst Hugo vorüber, ein graues, verschwimmendes Band … eine große Leere blieb dort zurück, wo er gestanden hatte. Sie erhitzte sich von innen, begann weiße Glut auszustrahlen … griff auf Ernst Hugo über, wuchs in ihn hinein … und verwandelte sich in einen maßlosen Zorn.

Ah … Frau Helmina war also mit Herrn Gegely, dem Dichter der »Marie Antoinette«, dem Heidelberger Manuskriptendieb, durchgegangen. Das war vortrefflich. Was sollte er sonst davon denken? Es war deutlich, daß sie mit Absicht erst im letzten Moment eingestiegen waren, um nicht vielleicht angehalten zu werden. Es war nur gut, daß er sie erblickt hatte, wenigstens konnte er Ruprecht sagen, daß Helmina sehr frisch und angeregt gewesen war. Das war das einzige, das ihm noch zu tun übrigblieb.

Ein wenig später ging sein Zug ab. Ernst Hugo saß in seiner Ecke, von Haß, Wut, Empörung und Enttäuschung bis oben voll. Wie eine Leidener Flasche voll Elektrizität, daß sogleich ein knisternder Funke überspringt, wenn man den Knöchel hinhält.

Auf dem Bahnhof in Gars bat er zwei Herren, die sich telegraphisch einen Wagen bestellt hatten, ihn nach Vorderschluder mitfahren zu lassen. Es waren zwei wortkarge Menschen, die stillschweigend rauchten und nichts Wichtigeres zu tun hatten, als den blauen Rauchfahnen nachzusehen, die in den gütigen Sommermorgen hineinflatterten. Ernst Hugo drückte sich ihnen gegenüber in eine Wagenecke, zog den Hut über die Augen und tat, als schliefe er.

Vor der Brücke über den Kamp stieg er aus, dankte hastig und lief den Schloßberg hinan. Dem ersten Menschen, der ihm in den Weg kam, warf er seine Frage hin, wie einen Stein. Ach ja … natürlich … die gnädige Frau war verreist … und der Herr Baron war unten im Dorf. Ernst Hugo lachte höhnisch und lief wieder den Berg hinab. Er sah immer ein von frischer Nachtluft erfülltes Schlafzimmer vor sich … Jetzt mußte er Frau Gegely aufsuchen. Er wollte ihr seine Nachricht ins Gesicht schleudern. Jemand sollte sich krümmen …

In der Tür des »Roten Ochsen« stand die rundliche Wirtin und füllte den Rahmen angenehm aus. Und unweit waren drei Männer in einem leisen Gespräch.

Ernst Hugo erkannte seine beiden Wagengefährten und den Keltenforscher, den er einige Male mit Ruprecht gesehen hatte. Er stürmte gegen die Wirtin an.

»Ist Frau Gegely oben?« fragte er.

»Ja!« antwortete die Wirtin, aber sie wich nicht aus der Tür, als sei sie zum Schutz hingepflanzt.

»Ich habe mit ihr zu sprechen. Ich muß ihr etwas sagen.« Und Ernst Hugo machte Miene, gegen sie anzurennen.

»Der Herr Baron ist bei ihr … ich weiß nicht …«

Schiereisen trat mit höflichem Gruß an Hugo heran: »Ich möchte Sie bitten, Herr Sekretär, jetzt nicht hinaufzugehen. Die arme Frau …« Das war der Knöchel, der sich der Leidener Flasche nähert. Die Entladung ließ nicht auf sich warten.

»Ich weiß … ich weiß,« schrie Ernst Hugo, »aber ich muß Ihnen doch sagen, daß ich sie mitsammen gesehen habe. Ich habe sie gesehen, verstehen Sie mich. Es wird sie freuen, wenn ich ihnen das sagen werde.«

Schiereisen faßte Hugos Arm mit festem Griff am Handgelenk: »Wo?« fragte er hastig.

»Wo? In Sankt Pölten … Schnellzug Salzburg … und so weiter … was weiß ich … sie fahren in die Welt hinein.«

Vom Kirchturm lösten sich zehn helle Schläge. Schiereisen ließ Hugos Handgelenk los und wandte sich zu seinen Kameraden: »Also los … aufs Telegraphenamt …« Seine blauen Augen strahlten ehern; sein Gesicht war bis in den letzten Muskel von einem starken Willen belebt: »Jetzt wollen wir zeigen, was wir können.«

Während sich die drei rasch entfernten, sank Ernst Hugo in sich zusammen, wurde kleiner … tastete mit unsicheren Fingern neben sich; dann wandte er sich und ging wie durch einen Nebel langsam davon. –

Zehn Tage später kehrte Schiereisen von seiner Jagd nach Vorderschluder zurück. Sein erster Weg führte ihn auf das Schloß. Er traf Ruprecht mit Hedwig im Garten. Der Rollstuhl stand unter einer Laube von wildem Wein. Der Maurerwenzel saß im Hintergrund der Laube und schlief. Frau Hedwig aber ging, auf den Arm Ruprechts und einen Stock gestützt, langsam im hellen Sonnenschein auf und ab. Zwei Rosenhecken säumten ihren Weg.

Ein Wunder war geschehen.

Schiereisen ehrte es, indem er nicht darüber sprach. Er zog den Hut und wartete, bis sich die beiden umwandten und ihn sahen. Da fuhr Frau Hedwig zusammen … und Schiereisen sah, wie sie sich fester auf Ruprechts Arm stützte.

»Herr Schiereisen ist zurück,« murmelte Ruprecht, »Herr Schiereisen … willst du ihn anhören, Hedwig? … Es wird besser sein …«

»Nein … nein … ich will ihn gleich hören. Ich muß es ja doch erfahren. Nicht wahr?« Sie machte ein tapferes und entschlossenes Gesicht.

»Nun, also … wenn sie es so will … Sie können sprechen, Schiereisen. Ich habe ihr alles gesagt, sie weiß alles.«

Schiereisen hielt noch immer den Hut in der Hand. Sein mächtiger Schädel wölbte sich kräftig, die Augen lagen beschattet unter den starken Brauenbogen.

»Haben Sie eine Spur gefunden …?« fragte Ruprecht, als Schiereisen nicht sogleich sprach.

»Sie sind noch nicht festgenommen, aber sie sind uns sicher. Sie schwimmen noch auf dem Atlantik.«

»Und wie haben Sie? … Sprechen Sie nur. Sehen Sie, wir sind gefaßt und können alles hören.«

»Es war nicht ganz leicht … trotzdem sie offenbar nicht daran gedacht haben, daß sie verfolgt werden könnten. Sie wären sonst noch vorsichtiger gewesen. Wozu soll ich Ihnen Einzelheiten erzählen? Sie haben sich nach Le Havre gewandt, nach verschiedenen Kreuz- und Quersprüngen, die uns einige Mühe gemacht haben.«

»Und dann haben sie sich eingeschifft?«

»Ja … wir sind zu spät gekommen, um sie daran zu hindern. Aber es ist heute schwer … die drahtlose Telegraphie, nicht wahr? Wir haben sofort ein Marconitelegramm nachgeschickt, und sie werden mit dem nächsten Dampfer wieder zurückkommen.«

»Auch … er? Haben Sie ihn auch festnehmen lassen?«

Schiereisen setzte seinen Panamahut auf. Nun war sein Gesicht ganz im Schatten. »Nein …« sagte er unsicher, »ihn nicht … warum? Wir haben ihn … nun: ich bitte Sie, ruhig zu sein, gnädige Frau. Wir sind zu spät gekommen … für Ihren Gatten. Es ist nicht unsere Schuld.«

»Mein Gott … was wollen Sie sagen … er ist …«

»Ja … er ist verunglückt, gnädige Frau. Er hat sich in seinem Hotel … nämlich, sie haben nicht zusammengewohnt, und Helmina … wahrscheinlich, um ihre Verfolger irrezuführen, falls man ihnen doch nachsetzen sollte … er hat sich in seinem Zimmer selbst gerichtet … vergiftet.«

Hedwig stieß einen leisen Schrei aus und schloß die Augen. Das also war das Ende.

»Sie glauben nicht daran, Schiereisen!« sagte Ruprecht nach einer Weile. Er hatte überlegt, und es war ihm, als sei die unverhüllte Wahrheit heilsamer als dieser Gedanke, aus dem er für Hedwig ein feines Gift von absonderlichen Gewissensqualen entspringen sah. »Sagen Sie uns aufrichtig, was Sie davon halten.«

»Sie haben recht, Herr Baron! Ich glaube nicht daran. Es war alles sehr klug und geschickt gemacht. Aber Fritz Gegely hat keinen Grund gehabt, sich umzubringen. Und dann … wir wissen, daß er fast sein ganzes Vermögen bei seiner Wiener Bank behoben hat. Er hatte es bei sich, weil er das Geld doch nicht nach Amerika überweisen lassen wollte. Er hätte sich ja sonst verraten. Nun … das ganze Geld ist fort …«

Da warf sich Hedwig, von Grauen geschüttelt, an Ruprechts Brust. Er stand still und seine Arme lagen weich und schützend um ihren Nacken. Und da kam ein befreiendes Weinen aus Hedwigs Tiefen, ein lösendes Schluchzen … ihre zuckenden Finger beruhigten sich und schmiegten sich vertraut an Ruprechts Schultern. Er sah geradeaus … ernst in die Zukunft.

»Nun müssen wir also noch den Prozeß auf uns nehmen …« sagte er leise, »den Prozeß und alles das. Das müssen wir noch …« Dann richtete er seinen Blick auf Schiereisen: »Sagen Sie Herrn von Zaugg, daß ich jederzeit bereit bin, das Schloß zu räumen. Jederzeit! Seine Ansprüche sind mir heilig. Ich habe mich hier immer nur als Verweser betrachtet. Ich bleibe noch so lange er will … ich will ihm den Besitz in aller Ordnung übergeben. Inzwischen suche ich mir etwas in meiner Heimat … einen Boden, der mein ist …« Und er beugte sich wieder zu Hedwig nieder.

Sie hob den Kopf. Da war noch viel Angst und Schrecken auf dem blassen Gesicht, aber Schiereisen sah, wie im Blick Ruprechts eine zaghafte Zärtlichkeit dies alles überhauchte.

Und da wandte er sich und ging langsam aus dem Schloßgarten, an der Stelle vorüber, wo man damals Jana gefunden hatte, durch das Tor, durch das Helmina geflohen war. Und die Gewißheit war wie ein breiter ruhiger Strom in ihm, daß diese beiden Menschen gut und eng verbunden waren; daß alle Erregungen und Qualen, alles, was ihnen noch an Aufwühlendem bevorstand, unvermögend war, sie in ihrem von der Zukunft bestrahlten Glück zu erschüttern.

Er blieb auf der Brücke neben dem steinernen Johannes stehen und sah ins Wasser. Und lächelte …

Darüber konnte man schon auf das bißchen Dank verzichten, das man sich vielleicht verdient hatte.

 

*

 


 << zurück