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Sechstes Kapitel

In einer der wenigen Gassen Wiens, die noch nicht alle Erinnerungen an die Vergangenheit der Gegenwart hingegeben haben, befindet sich das Haus des Heiratsbureaus »Fortuna«. Ein schmales Haus mit nicht mehr als zwei Fenstern Breite. In einer kleinen Nische über dem dunklen Eingang steht eine Mutter Gottes mit dem Jesusknaben. Die kleine Madonna trägt ein Kleidchen aus Seide, das zweimal im Jahr gewechselt wird. Der Jesusknabe sitzt auf ihrem rechten Arm und streckt seine Händchen verlangend nach dem Weltapfel aus, den ihm seine Mutter scherzend vorzuhalten scheint. Vor dem Glas, mit dem die kleine Gruppe gegen den Straßenstaub geschützt ist, brennt jahraus, jahrein ein Flämmchen in einem roten Kelch. Wenn man unter dem Segen der Madonna in das Haus eingetreten ist, steigt man eine dunkle Treppe hinan und mag im ersten Stock an die Tür klopfen, an der ein blechernes Schild mit der Aufschrift »Fortuna« angebracht ist. Hier wird also die Madonna durch die heidnische Glücksgöttin abgelöst.

Das »Herein«, mit dem dem Klopfen geantwortet wird, ist wie aus einer Donnerbüchse geschossen. Und wenn man eintritt, steht Herr Anton Sykora da, und dann wundert man sich nicht mehr über die Donnerbüchse. Man weiß sogleich, Herr Anton Sykora muß einmal Athlet gewesen sein. Seine Schultern könnten noch immer ein Klavier mit zwei Spielern tragen, sein Nacken ist ein Wulst, seine Arme stecken prall und von Muskeln geschwellt in dem schwarzen Gehrock. Er trägt sich glattrasiert, schaut lustig durch eine goldgefaßte Brille und macht den ganzen Tag Kaubewegungen. Seine Lippen sind üppig entwickelt, die obere beginnt unweit der Nase, die untere stülpt sich gegen das massige Kinn um, das stumpf nach hinten flieht. Wenn Anton Sykora durchs Zimmer geht, kaut, den Unterkiefer vorschiebt und die langen Arme hängen läßt, dann hat er etwas von einem großen Menschenaffen an sich. Solche Riesen sind immer gutmütig. Gutmütigkeit und Gemütlichkeit ist auch das erste, was dem Fremden an Anton Sykora auffällt. Aber diese Eigenschaften gehen nicht so weit, daß sie ihn hindern würden, ein guter Geschäftsmann zu sein. Im Gegenteil, er ist sehr tüchtig in seinem Fach. Er hat eine gute Kundschaft, und seine Verbindungen erstrecken sich auf alle Gesellschaftskreise. Sein Lager ist wohlassortiert. Man kann durch ihn alle Arten von Ehen eingehen. Man findet im Bereich der »Fortuna« Mitgiften in jeder beliebigen Höhe, die verschiedensten Stände, Titel, ja sogar die besterhaltensten Charaktere in reichster Auswahl.

Der Chef dieses Heiratsbureaus ist von der Wichtigkeit seines Berufs durchdrungen. Er pflegt zu sagen: »Die Heiratsvermittlung ist eine der sinnreichsten Institutionen des modernen Lebens. Die Ehen werden nicht mehr durch den Himmel, sondern durch den allgemeinen Anzeiger geschlossen. Das hat seine praktischen und sittlichen Vorteile. Die praktischen Vorteile liegen auf der Hand. Man weiß sogleich, woran man ist und braucht keine Zeit zu verlieren. Die sittlichen Vorteile sind nicht minder einleuchtend. Wie beschämend ist es für die Eltern, ihre Töchter einige Jahre hindurch auf den Markt der Bälle und Unterhaltungen zu führen. Das ist gegen alle Menschenwürde. Es geht nicht ohne moralischen Defekt ab. Das Selbstbewußtsein bekommt ein Leck. Das ist alles anders, wenn man sich an uns wendet. Wir sind im wahren Sinne Wohltäter der Menschheit.«

Anton Sykora hatte sich in seinem langjährigen Verkehr mit allen Gesellschaftskreisen eine große Beredsamkeit und eine Fülle von Begriffen und Ausdrücken angeeignet, die er am gegebenen Ort mit voller Wirkung losließ. Er konnte stundenlang sprechen und seine Rede passend schmücken oder durch kleine Scherze unterbrechen.

Sykora war bei der Steuerbehörde ungemein beliebt. Er ließ sich widerstandslos einschätzen und legte niemals eine Berufung ein. Den Herrn Steueradministrator seines Bezirks begrüßte er mit bis auf die Erde gezogenem Hut.

Sykora erfreute sich auch unter den frommen Gemütern seiner Umgebung eines großen Ansehens. Was ihm die heidnische Glücksgöttin einbrachte, verwendete er nicht etwa ganz für sich allein. Er gab auch den Kirchen, den frommen Stiftungen, den Jungfrauen- und Jünglingsbünden und den Armen. Niemals wandte man sich wegen eines Beitrages zu einem wohltätigen Zweck vergebens an ihn.

An einem Dezembertag, nicht lange vor Weihnachten, erhielt er ein Telegramm aus Vorderschluder: »Kaufet sofort Südbahn nach Ordre H.«

Anton Sykora glättete das Telegramm mit dem Falzbein, besserte das n in »Südbahn«, das aussah wie ein u, mit dem Bleistift aus, denn er hielt auf Ordnung und konnte Schlampereien der Post durchaus nicht vertragen, und stand dann von seinem Drehstuhl auf. Der ringförmige Gummipolster auf dem Sitz kehrte mit einem Seufzer in seine frühere Form zurück. Sykora klopfte an die benachbarte Glaswand. Dahinter saß Herr Moritz Diamant, Sykoras Sekretär, der zweite Mann im Betrieb der »Fortuna«. Dieser zweite Mann war eigentlich früher Mediziner gewesen, hatte jedoch das Studium aufgegeben, als er erkannt hatte, daß die meisten Krankheiten der Menschen in den Zuständen der Geldbörse begründet sind und von dort aus auch am ehesten geheilt werden können. Er hatte sich auf diesem Gebiet zum vortrefflichen Diagnostiker ausgebildet, seine Therapie war außerordentlich wirksam. Wenn er guter Laune war, so pflegte er zu sagen: »Ein Heiratsbureau ist das beste Sanatorium.« Er war ein kleiner, schmächtiger Mann mit einem buschigen Haarwusch auf dem Kopf, der ihm mit zwei Zipfeln bis weit in die Schläfen reichte. Neben Sykora sah er aus wie David neben Goliath. Er mußte zu seinem Chef aufsehen. Er tat es aber niemals ohne ein lustiges Blinzeln, das zu sagen schien: »Genoß, wir kennen uns.«

Jetzt kam er aus seinem Verschlage hervor und sah Sykora zerstreut an. »Hören Sie, Edelstein,« sagte der Chef, »ich muß nachmittag verreisen.«

Sofort war die Zerstreutheit von dem Gesicht des Sekretärs gewichen. Er war ganz Aufmerksamkeit: »Aha!« sagte er, »Vorderschluder!«

»Sein S' nicht frech, Doktor; das geht Sie nichts an.«

Diamant blinzete Sykora an: »Genosse, wir kennen uns!«

»Also, nachmittag muß ich weg. Es ist doch alles in Ordnung. Haben S' dem Früchtel, dem jungen Kanitz, schon von der Margarete Schweigel geschrieben?«

»Wird schon geklappert!«

»Und was ist mit dem Statthaltereirat aus Graz?«

»Die Dingsda … wie heißt sie denn? … na, die Prager Fabrikantentochter will nicht. Er ist ihr zu alt.«

»Für das Fräulein mit ihren Fünfzigtausend wird sich ganz was Besonderes finden. Was sich diese Frauenzimmer manchmal einbilden. Also schicken S' ihm eine andere Auswahl. Sonst nichts?«

»Nein, das heißt: ich möcht' halt schon wieder um einen kleinen Vorschuß bitten.«

Anton Sykora legte seinem Sekretär eine Pranke auf die Schulter. Diamant blieb standhaft und zuckte nicht: »Ich werde Ihnen etwas sagen, Juwel. Sie kommen ein bissel häufig um Vorschuß!«

»Na – auf das Vorderschluder Geschäft hinauf.«

»Sie, Krondiamant, das Vorderschluder Geschäft mach' ich allein. Übrigens, was soll es denn dort für ein Geschäft geben? Sie wissen ja doch …«

David blinzelte zu Goliath hinauf: »Genosse, wir kennen uns.« Und Goliath zog die Pranke zurück und brummte: »Na, wir reden noch drüber – bis ich wiederkomm'.«

Dann zog er seinen Winterrock an, stellte den Pelzkragen auf und ging in ein lichtes Schneegestöber hinaus, das auf den Straßen einen dünnen, kaffeebraunen Quatsch machte. Er begab sich zu seinem Rechtsanwalt, wo er eine Besprechung mit dem Inhaber der Leichenbestattungsanstalt »Misericordia« hatte. Es handelte sich darum, als Teilhaber in die Firma einzutreten. Dann besuchte er die Vorstandssitzung des Bundes christlicher Fortschrittsfreunde, von dem er vor zwei Wochen zum Ehrenobmann gewählt worden war. Und nachdem er in seinem Stammwirtshaus, zusammen mit einem Bankprokuristen, zwei Finanzbeamten und einem Staatsanwaltsubstituten, sein Mittagessen eingenommen hatte, fuhr er auf den Bahnhof.

Bald nach Einbruch der Dämmerung rollte der Wagen, den man ihm nach der Station entgegengeschickt hatte, in den Schloßhof von Vorderschluder. Hier fiel der Schnee in festeren und größeren Flocken als in der Stadt. Es hatte sich bereits eine handbreite Schicht über den Hof gezogen. Zwischen dem Stall und dem Gesindeflügel kehrte ein Knecht den Weg frei. Er fuhr mit dem Besen links und rechts aus, daß es um ihn nur so stäubte. Drüben, unter der geöffneten Tür seiner Wohnung stand der Schaffner. Hinter seinen Schultern war ein gelbrotes, warmes Licht. Er war neugierig, wer da vom Bahnhof geholt worden war.

Als Sykora den Vorraum betrat, stand schon Lorenz da, um mit der hochmütigen Unterwürfigkeit des Lakaien seinen Pelz in Empfang zu nehmen. Dann schritten sie die Treppe hinan, Sykora voran, Lorenz mit dem Pelz hinterdrein. Es war eine behagliche Wärme; unten auf der Diele knackten die großen Holzscheite im Kamin.

Im ersten Stock öffnete Lorenz die Türe zu den Zimmern der Gnädigen und ließ den Gast eintreten. Sie waren in einem achteckigen blautapezierten Zimmerchen. »Also, Servus!« sagte Anton Sykora.

»Servus!« sagte Lorenz.

Sie lachten und schüttelten sich die Hände. Sie gaben einander an Größe und Stärke nichts nach. Sie hatten dieselben Nasen und dieselben Stirnen; ihre Gesichter zeigten eine weitgehende Ähnlichkeit; nur war der Ausdruck des Kammerdieners mehr ins Verschlossen-Energische, der des Anton Sykora mehr ins Gutmütig-Leutselige gewandt.

»Na also,« sagte der Chef der »Fortuna«, indem er sich die Hände rieb, »da wären wir wieder einmal. Wo ist die Helmina?«

»Sie erwartet dich, komm nur!«

Frau Helmina saß in ihrem Boudoir, auf einem mit Perlmutter und Elfenbein ausgelegten Taburett, das ihr Herr Dankwardt einmal von einer orientalischen Reise mitgebracht hatte. Sie wandte sich um und reichte Sykora die Hand.

»Grüß dich Gott, Helma,« sagte er, »wie geht's, was machst du immer? Sapperment, bei dir riecht's aber immer gut.« Er steckte seine kurze Nase vor, daß die wulstigen Lippen auseinanderklafften, und zog die Luft ein. »Nirgends riecht's so gut wie bei dir. Das verstehst du, das muß man sagen. Also der liebende Gatte ist fort?«

»Ja, er ist nach Krems gefahren. Morgen ist eine Hengstenschau. Er will etwas kaufen …«

»Bravo, er kümmert sich also um die Wirtschaft. Er ist tüchtig. Bist du mit ihm zufrieden? Er tut seine Pflicht in Haus und Hof.« Anton Sykora schüttelte sich in einem gutmütigen Gelächter.

Helmi war aufgestanden. Sie stand zwischen den beiden schweren Männern, schlank und biegsam, wie eine Klinge aus gutem Stahl zwischen zwei hölzernen Keulen.

»Na also, hast du nichts für mich?« sagte Sykora, nachdem das Lachen in einem Glucksen geendet hatte, »einen anständigen Kognak oder so was. Die Fahrt hierher … das ist ein hübsches Stück Weg. Mir ist ganz schwach davon im Magen. Der Göttergatte hat doch hoffentlich so was im Haus. Laß nur … der Lorenz wird mir's schon holen. Bring' mir auch gleich eine Zigarre mit, Lorenz. So … und jetzt setzen wir uns gemütlich zu einem Plausch.«

Lorenz nickte und ging. Während Helmina über den schwarzen Afghanistanteppich zur Vorzimmertüre ging und sie absperrte, sank Sykora mit einem Seufzer des Behagens in den breiten Polsterstuhl hinter einem kleinen, runden, indischen Messingtisch. Er legte die Hand auf dieses Tischchen. Sie bedeckte ein Viertel der Platte.

»Du hast mich lange auf Nachrichten warten lassen, Helmina«, sagte er, indem er schnaufend mit den mächtigen Kiefern kaute.

Helmina stand vor ihm. »Was hätte ich dir schreiben sollen? Es ist nichts Wichtiges vorgefallen.«

»Wie steht denn die Sache mit der Erbschaft nach dem Baron?«

Geärgert sah Helmina ihren Gast an: »Wie? Na … ich weiß nicht. Wir prozessieren. Die Verwandten wollen nicht nachgeben. Sie wenden ein, daß er unzurechnungsfähig gewesen ist. Es ist eine abscheuliche Bande. Ich weiß nicht, wie es schließlich ausgehen wird.«

»Es wäre ja ganz gut, wenn wir Rotbirnbach hätten. Aber schließlich, wenn es nicht geht, so wird uns das auch nicht umbringen. Wir haben ja noch andere Eisen im Feuer.«

Lorenz kam aus dem Schlafzimmer mit einer Kognakflasche, zwei Gläsern und einer Zigarrenkiste. Er goß ein Gläschen voll, trank aus, nickte dem Besucher zu, als ob er bestätigen wolle, daß der Kognak trinkbar sei. Dann goß er noch einmal beide Gläser voll, setzte sich neben den Gast auf den niedrigen Diwan, streckte die Beine von sich und schloß die Augen.

»Die Sache ist nämlich die,« sagte Anton Sykora, nachdem er getrunken hatte, »wir brauchen Geld, sehr viel Geld.«

»Ich kann euch nichts geben,« sagte Helmina mit Nachdruck, »ich habe in der letzten Zeit wenig Glück gehabt. Ich habe dreimal gründlich daneben gegriffen.«

»Ja … ja … so was kommt vor. Unsere Fahrrad- und Automobilfabriken wollen auch nicht recht … so wie sie sollten. Lorenz wird das ja schon gesagt haben, nicht wahr?«

Lorenz nickte mit geschlossenen Augen. Eine lange, dünne Havannazigarre baumelte ihm zwischen den Zähnen.

»Aber jetzt haben wir etwas Neues … etwas ganz Vortreffliches. Ich sage nichts als: galizisches Petroleum. Galizien, das ist unser europäisches Amerika. Da ist noch etwas zu machen. Kein Mensch weiß etwas davon. Wir haben einen famosen Tipp. Du beteiligst dich mit 33&#8531; Prozent.«

Helmina hatte sich wieder auf das Taburett gesetzt. Sie saß höher als die beiden Männer, die in den weichen Polsterungen versanken. Sie sah auf sie herab. »Ich habe aber kein Geld, wie soll ich mich denn beteiligen?« sagte sie höhnisch.

»Wozu hast du denn deinen Göttergatten?«

»Du weißt doch, Anton, daß wir Gütertrennung bedungen haben. Er bestreitet das ganze Hauswesen, er gibt mir monatlich soundso viel für meine Toiletten und kleinen Bedürfnisse. Aber sonst – kann jeder tun und lassen, was er will. Da ist keine Gemeinschaft.«

»Du wirst ihn schon herumkriegen.«

»Das stellst du dir leichter vor, als es ist. Er hat einen harten Kopf. Er hat mir zum Beispiel übelgenommen, daß ich mich um die Erbschaft dieses Barons Kastelli herumraufe.«

»Idiot!« brummte Anton Sykora in sein Kognakgläschen.

Eine weiße Manschette blitzte um sein Handgelenk, als er jetzt den Kognak mit der Festigkeit eines Kundigen wippte.

»Ruprecht ist ein eigentümlicher Mensch. Es war schwer, ihn überhaupt zu fangen. Er ist nicht so dumm wie die anderen. Ich habe ihm in Abbazia geschrieben und ihn zu einem Rendezvous bestellt. Er hat mir durch seinen Diener sagen lassen, daß er nicht kommt. Da habe ich eingesehen, daß ich es bei ihm ganz anders machen muß.«

»Du hast ihn ja schließlich doch bekommen.«

»Ja … aber es war eine schwere Arbeit. Das ist nicht nach einer Schablone zu machen gewesen. Ich habe schließlich psychologisch vorgehen müssen.«

Anton Sykora bekam wieder einen Lachkrampf: »Oh … diese Psychologie … die ist sehr einfach … die ganze Natur ist auf diese Psychologie aufgebaut …« Er mußte einen Kognak drauf setzen, dann schüttelte er sich: »Übrigens, dieser Kognak ist wirklich vorzüglich – ja!«

Dann erhob er sich und ging auf dem schwarzen Afghanenteppich schwerfällig durch das Zimmer. Mit hängenden Armen. »Na – wenn er nicht in Güte dazu zu bringen ist … dann haben wir ja zum Glück noch die wechselseitige Erbeseinsetzung.« Der Ofen zog ihn an. Er schob den Paravent weg, gähnte ein wenig und ließ sich den Rücken wärmen.

Helmina sah vor sich hin: »Er ist der vierte«, sagte sie.

»Ja, ja!« lächelte Sykora gutmütig, »der vierte, die anderen ungerechnet. Die, von denen niemand etwas weiß.«

Da nahm Lorenz die baumelnde Havanna aus den Zähnen und öffnete die Augen ein wenig. »Helmi ist in ihn verliebt.«

Frau Helmina fuhr ihn an: »Das ist nicht wahr. Das ist lächerlich. Es fällt mir nicht ein, mich in einen Mann zu verlieben.« Ihre Augen funkelten grün.

»Na – na,« beruhigte sie Sykora, »er gefällt dir eben. Das ist nicht zu leugnen. Aber wir haben dir Zeit genug gelassen. Du könntest das neue Eheglück schon satt haben. Früher hast du keine solchen Umstände gemacht, wenn wir verlangt haben, daß du ein Ende machen sollst. Ich wiederhole dir, wir brauchen Geld. Und noch etwas. Ich habe Ahnungen, weißt du. Ich fürchte, daß der Boden uns hier zu heiß werden könnte. Dieser Doktor Edelstein tut so, als ob er etwas wüßte. Er hat ja auch seinerzeit einen Teil deiner Kandidaten besorgt. Da ist es ihm wohl aufgefallen, daß sie verschwunden sind, niemals mehr aufgetaucht. Jetzt wird er zudringlich!«

Lorenz hatte die Augen ganz geöffnet: »Dann ist es Zeit, daß wir weiterkommen. Der Diamant ist ganz brauchbar, aber man darf ihm nicht trauen. Dann wird die galizische Petroleumgeschichte unsere letzte Aktion sein müssen. Wir haben für diesen Fall verabredet, daß wir nach Amerika gehen. Du wirst immer schöner, Helmi; du hast deine schönsten Jahre noch vor dir. In Amerika können wir dann die Sache noch in größerem Stil betreiben. Da sehen sie einem nicht so auf die Finger und in die Häuser.«

Während Lorenz sprach, nickte der Chef der »Fortuna« unaufhörlich beifällig mit dem Kopf. Er sah den anderen mit einem gewissen väterlichen Stolz an. Jetzt fuhr er mit der breiten Hand durch die Luft, als wolle er einen dicken Schlußstrich unter eine Rechnung ziehen: »Sehr richtig,« sagte er, »du mußt dich entschließen, Helmi. Wir haben nicht viel Zeit, Herr von Boschan hat sich durch seinen Ehevertrag selbst geschadet. Seine Vorsicht ist sein schlimmster Feind. Warum hat er uns mit dem Fall seines Versterbens eine so günstige Möglichkeit geboten. Die anderen haben es viel besser getroffen. Besonders dieser Dankwardt hat sein Leben zu verlängern verstanden. Als ob er gewußt hätte, daß sein Testament sein Todesurteil ist … na, und zu essen bekomme ich heute nichts.«

»Ich gehe schon«, sagte Lorenz, zog die Beine ein, schlug sich kräftig auf die Knie und erhob sich. »Wollen mal sehen, wie die Sache steht.«

Mit einem gutmütigen und vergnügten Lächeln sah ihm Sykora nach, wie Lorenz da gestrafft und in der Haltung eines selbstbewußten Lakaien aus dem Zimmer ging: »Hast du gehört, Helmi: ›Wollen mal sehen, wie die Sache steht‹ … wie der deutsche Reichskanzler … sapperment … der Junge hat sich herausgemacht … es ist eine rechte Freude. Der weiß, was er will, und kann, was er will … ›Wollen mal sehen‹ … das ist ein Ton, da merkt man gleich, daß man jemanden vor sich hat. Ein Prachtkerl. An euch zweien kann man sehen, was die Erziehung macht. Er war ein so schwaches Kind … zum Umblasen. Und jetzt ist er ein Bär. Ich glaube, er ist beinah' so stark, wie ich früher war. Seine Matrosenjahre haben ihm gut getan, dem schwachen Brüderlein.«

Und Sykora fuhr fort, von Lorenz zu schwärmen, wie ein Verliebter, lobte seinen Mut, seine Entschlossenheit, sein Auftreten, seine Klugheit. Inzwischen zauste Helmina an den Fransen des goldgestickten Deckchens auf der Lehne eines Fauteuils. Sie erwiderte kein Wort.

Nach einer Weile hielt er inne, kaute mit den mächtigen Kiefern, schnaufte und fragte dann: »Also, Helmi, wann sollen wir mit dem galizischen Petroleum anfangen?«

Helmina zuckte mit den Achseln.

»Es hängt von dir ab. Du mußt uns das Geld verschaffen. Vergiß nicht, daß ich dich zu dem gemacht habe, was du jetzt bist. Du wärst auf der Gasse verkommen, wenn ich dich nicht gefunden hätte. Ich glaube, daß ich auf Dankbarkeit rechnen kann. Du bist jetzt Gutsbesitzerin und Frau ›von‹. Und wer weiß, was dir noch bevorsteht, wenn wir erst einmal drüben sind.«

Eine Klingel schrillte. Helmina erhob sich: »Du brauchst mir das nicht alles vorzuhalten. Ich weiß, daß wir miteinander auf Tod und Leben verbunden sind. Also, es wird geschehen, was du willst. Aber ich will zuerst doch versuchen, ob ich ihn nicht dazu bewegen kann, daß er freiwillig mit dem Geld herausrückt. Wieviel braucht ihr?«

»Eine halbe Million.«

»Das ist ganz hübsch für den Anfang. Ich werde es also versuchen. Aber ihr müßt mir dazu Zeit lassen.«

»Nur nicht zu lange … bitte. Gehen wir. Mein Magen wütet schon gegen mich.« –

Vor der Schloßfrau und ihrem Gast riß Lorenz die Schiebetür zum Speisezimmer auseinander. Er stand in hochmütiger Unterwürfigkeit als tadelloser Lakai, bis sie hindurch waren. Kein Blick der beiden fiel auf ihn. Dann zog er die Türe wieder zu und gesellte sich zu Johann, um servieren zu helfen. Das behäbige Tischgespräch, an dem Anton Sykora der größere Anteil zufiel, hatte zuerst den verstorbenen Gatten Helminas zum Gegenstand. Herr Dankwardt war Sykoras Freund gewesen. Mit großer Rührung führte der Überlebende Züge von Edelmut, Herzlichkeit und philosophischer Besonnenheit an, die den Toten ausgezeichnet hatten. Als er eine Stelle aus Herrn Dankwardts letztem Brief an ihn erwähnte, stockte seine Stimme, und er konnte nicht weitersprechen.

Dem alten Johann liefen die Tränen über die Wangen. Sie tropften in die Majonnaise, die er zu reichen hatte. Er hatte Sehnsucht nach einem Taschentuch, die nachgerade zu einem dringenden Bedürfnis wurde.

Dann ging das Gespräch auf etwas anderes über. Der Karl-Borromäus-Verein in Vorderschluder wollte eine neue Kirchenfahne stiften. Die Sammellisten wanderten über Land; die Klingelbeutel musizierten vor den Türen. Man mußte etwas zum guten Zweck beitragen. Frau Helmina erzählte, daß in Vorderschluder selbst der Sammlung ein Widerstand erwachsen sei. Da waren die Arbeiter der Papierfabrik, unter denen der Geist der Empörung umging. Sozialdemokratische Agitatoren hatten sie aufgehetzt. Sie hatten sich organisiert und wollten bei der nächsten Landtagswahl den Redakteur eines sozialistischen Winkelblattes durchdrücken. Inzwischen gefielen sie sich darin, gegen jene zu hetzen, die sich um den Karl-Borromäus-Verein geschart hatten. Anton Sykora versprach, von Wien aus, seine Bestrebungen kräftig zu unterstützen.

Nach dem dritten Glas Gumpoldskirchner, als die Zigarre zu Ende ging, erhob sich der Gast, küßte der Hausfrau die Hand und verabschiedete sich mit einigen Worten herzlichen Dankes.

Lorenz schritt ihm mit dem Leuchter voran.

Auf dem Korridor des zweiten Stockwerkes kam ein brauner Mensch an ihnen vorüber. Ein weißer Turban und ein weißer Gürtel leuchteten einen Augenblick lang. Dann klappte eine Türe.

»Wer ist das?« fragte der Chef der »Fortuna«.

»Ein malaiischer Diener des Herrn von Boschan.«

»Gefährlich?«

»Ich glaube nicht. Man kann mit ihm fertig werden.«

Als Sykora sein Schlafzimmer betrat, blieb er stehen und horchte. Aus dem Hof kam ein heulender Gesang. Es war wie die Stimme einer mit Schrecknissen erfüllten Dunkelheit, eine Stimme der Tiefe. »Lebt die Alte noch immer?« fragte er verdrießlich.

Lorenz setzte den Leuchter nieder und schob den Tüllvorhang vor dem Gastbett zurück: »Helmi behauptet, daß sie ganz harmlos ist …«, sagte er.

»Und was hältst du von ihr – von Helmi?«

»Ich habe es schon gesagt … sie ist verliebt. Es wird nicht lange dauern, hoffe ich.«

»Wir haben auch nicht lange Zeit. Du mußt ein bißchen nachhelfen.«

»Wenn er ihr erst einmal lästig wird, so ist er auch verloren. Man darf sie aber nicht zu sehr drängen.«

»Mit Frauenzimmern arbeiten …«, brummte Sykora, »ist doch immer ein unsicheres Geschäft. – Aber geh' jetzt, Lorenz, man wundert sich sonst, daß du so lange bei mir bleibst. Gute Nacht.«

Die beiden Riesen schüttelten sich die Hände. Der Fußboden zitterte leise. Dann zog sich Sykora langsam aus, saß eine Weile noch nachdenklich auf dem Stuhl und legte sich, als ihm kalt wurde, ins Bett. Er verlöschte das Licht, kaute zufrieden vor sich hin und schlief ein.


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