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Nach Schiereisens Abgang blieb Ruprecht in einem seltsamen Zustande zurück. Die Kraft, mit der er das Fechterspiel voll Finten und Gegenfinten durchgeführt hatte, verließ ihn augenblicklich. Er hatte einige Schritte gemacht, aber er mußte sich bald wieder niedersetzen. Da hockte er zusammengesunken auf einer gotischen Truhe, ließ die Zotten des Bärenfelles, mit dem sie bedeckt war, durch seine Finger gleiten und sah vor sich hin.
Er war vollständig erschlafft und teilnahmslos.
Und dennoch fühlte er wildestes, bewegtes Leben in sich. Er empfand sich als Gefäß, in dem eine Gärung stattfindet. So wenig der Krug vom Sturm des jungen Weines versteht, so wenig verstand er von dem, was in ihm vorging.
Es dachte in ihm.
Es war ein Denken, losgelöst von der Körperlichkeit, als fremde Macht in einem engen Raum eingeschlossen, dessen Unzulänglichkeit sie hemmt und den sie entschlossen scheint, zu zerstören.
Aber trotz dieses Gedankentumultes wurde er immer müder und matter. Und endlich schlief er ein … auf seiner gotischen Truhe sitzend, mit hängendem Kopf. –
Als er erwachte, dämmerte es bereits. Er fühlte sich etwas kräftiger, und seine Gedanken rannten nicht mehr durcheinander, sondern hatten sich ein wenig geordnet. Er begriff nun, daß sie in seinem schmerzenden Kopf entstanden und daß er eine Betäubung vollends abzuschütteln hatte, um zu verstehen, was sie wollten.
Das Fenster auf! Tiefe, heftige Atemzüge, eine ganze Brust voll Abendluft! Der Frühling stand reif und jugendsicher in der Welt, eine goldene Krone, von Straußfedern überwallt, schwebte im Westen über den schwarzen Wäldern. Auf dem Hof unten sprach jemand … der Schaffer, zwei Kinder sprangen um ihn herum. Eine Kuh brüllte langgezogen und hohl, als ob ein großes, hallendes Tor geöffnet würde. Die Schaffersfrau stand an der niedrigen Gartenmauer und schlug mit beiden Armen auf die aufgeplusterten Federbetten, die sie noch vor Abend an die Luft gegeben hatte.
Das war ja das helle, jauchzende, trotz der Dämmerung noch unermüdete Leben.
… Und ein Mensch war dagewesen, den man bis jetzt für einen Gelehrten gehalten hatte und der ganz sicher keiner war. Wenigstens nicht jemand, dessen Beruf die Wissenschaft ist. Was er wollte, war nach allem kaum zu bezweifeln. Aber zu welchem Zweck?
Nun gingen die Gedanken schon wieder schön ordentlich hintereinander her. Einer hing am Rockschoß des anderen.
Es war keine Frage, daß er sich hatte zu erkennen geben wollen. Warum? Er hatte Vertrauen gefaßt und warb um einen Bundesgenossen. Aber Ruprecht wollte ihm nicht Bundesgenosse sein. Noch immer war die Lust an dem gefährlichen Spiel nicht in der Asche der Leidenschaft begraben. Sie brannte noch, die wilde Fackel, wenn auch schwelend und manchmal fast erstickt, wenn diese Schwäche und Schlaffheit wie eine Wolke betäubender Gase herabsank. Darin hatte Schiereisen recht: Ruprecht war krank. Etwas Arges schlich in ihm. Er hatte es sich bisher nicht selbst eingestehen wollen, aber nun wäre es feige gewesen, sich abzuwenden und sich einzureden, es wäre nichts. Diese Zustände, diese Schlafsucht, diese Mattigkeit, dieses zeitweise Absterben der Glieder und vor allem diese rasenden Kopfschmerzen waren Anzeichen des Verfalls. Ebenso wie die taumelnden, blinden Begierden, die ihn noch jetzt manchmal mit Helmina vereinigten, ohne ihn zu befreien.
Man mußte wieder klar sehen und noch vorsichtiger werden.
Ruprecht schloß das Fenster und ging zum Abendessen. Die Beine schlenkerten immer ein wenig, ehe sie den Boden fanden. Die Hände zitterten, als er Gabel und Messer aufnahm. Ruprecht scherzte ein wenig mit den Kindern und hörte Helmina zu, die von der Fahnenweihe erzählte, die nun bald stattfinden sollte …
Sie hatte einen großen Betrag gespendet und war nun zur Fahnenpatin ausersehen worden. Das war nicht nach Ruprechts Sinn. Er meinte, es wäre verdienstlicher gewesen, den Betrag zu irgendeinem gemeinnützigen oder wohltätigen Zweck zu widmen. Die Arbeiter der Papierfabrik seien aufgereizt und erbittert, sie strebten eine Lohnerhöhung und die Erbauung von billigen Wohnhäusern an. Solche Dinge brächten die Unzufriedenen nur noch mehr auf.
Helminas weiße Stirn wurde trübe und drohend. »Ich begreife nicht, was du willst,« sagte sie überlegen, »ich habe doch davon gesprochen, was ich tun will. Du hast damals keine Einwendungen gemacht. Jetzt ist es zu spät.«
Darauf konnte Ruprecht nichts entgegnen. Ja, Helmina hatte davon gesprochen. Ihre Worte waren in eine jener Stunden wahnsinniger Kopfschmerzen gefallen, in denen Ruprecht gegen alles gleichgültig war. Gewiß: er hatte keine Einwendungen gemacht, weil er unfähig gewesen war, sich zu rühren und Worte zu bilden …
Sie saßen noch eine Weile beisammen. Helmina war sehr aufgeräumt, weil sie Ruprecht zum Schweigen gebracht hatte. Sie begann von Schiereisen zu sprechen und verspottete sein Ungeschick, seine spießbürgerliche Beschränktheit. Plötzlich unterbrach sie sich: »Warum schaust du mich so sonderbar an?« fragte sie.
»Ach nichts! Ich glaube nur … er ist sehr tüchtig – in seinem Fach.«
»Die Tüchtigkeit in seinem Fach hat noch niemals jemanden bewahrt, langweilig zu sein. Aber komisch. Fachmenschen sind immer langweilig oder komisch. Ich sehe mit Bedauern, daß du auf dem Wege bist, ein Fachmensch zu werden.«
Das war wieder einer der Hiebe mit der Peitsche, wie sie Helmina in der letzten Zeit dem Wehrlosen zu versetzen liebte. Aber heute fühlte er ihn und schrieb ihn auf Helminas Rechnung. Inzwischen war es besser, zu tun, als nehme er ihn hin.
Als er in seinem Schlafzimmer allein war, versperrte er die Türe und setzte sich in seinen Schaukelstuhl, um nachzudenken. Es galt eine Waffe gegen Helmina zu schmieden. Er hatte es bisher Jana überlassen, die Nachforschungen fortzusetzen. Und Jana war darüber gefallen. Was der Malaie geplant hatte, wußte Ruprecht selbst nicht, denn er hatte sich geweigert, vorläufig Berichte entgegenzunehmen. Aber so viel war sicher: Jana hatte einen Zugang in das unterste Geschoß des Turmes gesucht, da das Loch im Keller unter Lorenz' Aufsicht vermauert worden war …
Ah … heute ging es nicht mehr … die Nacht war da, und Ruprechts Kraft war zu Ende. Und morgen würde er wieder aufwachen, von rasenden Kopfschmerzen gequält, schlaff und mutlos. Diese Nächte waren fürchterlich, von grauenhaften Träumen erfüllt und von dem Gefühl einer Knechtschaft. Der Schlaf erneuerte nichts in Ruprecht, er zehrte nur an ihm …
Schiereisen hatte so seltsam vom Schlafen gesprochen oder … vom Bette …? Ja – es wäre vielleicht ganz gut, doch einmal genauer zuzusehen, wie das Lager beschaffen war, dem man sich anvertraute.
Ruprecht überzeugte sich, daß die Fensterladen sorgsam verschlossen waren, er verdeckte das Schlüsselloch der Türe mit einer Reisekappe, die er über den Schlüssel hängte, und dann drehte er das elektrische Licht auf dem Nachttisch an.
Seine Untersuchung war gründlich und systematisch. Noch vermochte er seine Nerven für diese Arbeit anzuspannen. Beim Fußende begann er, nachdem er alles Bettzeug hinausgeräumt, Polster und Decken geöffnet und die Federn durchgewühlt hatte. Was er eigentlich suchte, wußte er nicht. Aber es war ihm, als müsse er ein Versprechen einlösen, das er einem Menschen gegeben hatte, dem man vertrauen mußte.
Er leuchtete mit der elektrischen Lampe in jede Ritze, er verfolgte jede Spalte des Holzes, fuhr mit dem Finger die Kanten ab und wischte den Staub aus den Ecken. Der Lichtschimmer tanzte über die Politur des Mahagoniholzes hin, rann zwischen den eingespreizten Brettern auf den Fußboden. Da fiel ihm ein anderes trauriges Bett ein. Das Bett auf Schloß Rotbirnbach, auf dem ein Toter lag. Und jener Platz voll Staub, jene rechteckige Stelle auf dem Boden eines Schlafzimmers, der anzusehen war, daß dort das Bett gestanden hatte. Nein – Ruprecht wollte nicht als Opfer Helminas fallen, wie Kastelli, wie Jana, wie die anderen.
Eifrig suchte er weiter. Die Seitenteile entlang bis zum Kopfende. Sein Auge, das auf den Pampas und im indischen Gebirge geschärft war, gewann in der Erregung des Suchens seine Sehkraft wieder. Mit sorgsamem Tasten glitten seine Finger über das Holz hin … immer mehr bestärkte sich in ihm die Zuversicht, daß er etwas finden müsse. Sein Schicksal hatte durch Schiereisen eine Warnung an ihn gelangen lassen.
Plötzlich fühlte er eine kleine Rauheit unter seinem tastenden Finger. Er fuhr auf und ab. Eine ganz feine Linie ließ sich verfolgen. Die Lampe hochhebend, sah er ein Viereck kaum wahrnehmbarer Spalten im Holz, die sorgsam wieder verklebt schienen, aber nun doch wieder ein ganz klein wenig klafften; das war in der Kopfwand des Bettes, gerade dort, wo sich sein Scheitel befinden mußte, wenn er nach seiner Gewohnheit auf der rechten Seite lag.
Ruprecht zog sein Taschenmesser und zwängte die Klinge in den Spalt. Der Stahl bog sich und das Holz knirschte. In diesem Augenblick hörte Ruprecht leise, vorsichtige Schritte draußen auf dem Gang. Jemand kam da längs der Mauer heran. Alle Sinne Ruprechts waren angespannt. Er glaubte sogar das Tasten der Hände an der Wand zu hören. Jetzt war das Geräusch ganz nahe … Ruprecht verlöschte das Licht … jetzt stand jemand draußen vor der Tür. Ah … Donnerwetter, man belauerte seinen Schlaf. Man legte das Ohr an seine Tür! Gut. Der Lauscher sollte nicht um sein Vergnügen kommen. Ruprecht legte die Zunge an den Gaumen und begann röchelnd und ungleichmäßig zu atmen, dann stöhnte er ein wenig und drückte die Bettwand zurück, daß die Fugen knarrten. Wildwestliche Instinkte waren erwacht, Erinnerungen an Lagerfeuer und Jägerabenteuer. Die Schlauheit des Gefahrensuchers leistete Beistand. Es machte Ruprecht eine herzhafte Freude, den da draußen zu täuschen. Der sollte glauben, er höre die Geräusche eines unruhigen Schlafes, ein Stöhnen aus schlimmen Träumen. Das war wieder ein erster kleiner Sieg nach einer Reihe von Niederlagen.
Nach einer Weile entfernte sich der Lauscher. Die leisen Schritte und das Tappen längs der Mauer versanken in der Stille.
Ruprecht wartete noch ein wenig. Dann entzündete er wieder seine Lampe und leitete ihr Licht auf alle Fälle durch einen Schirm von der Türe ab. An der einen Wand des Schlafzimmers war eine kleine Waffensammlung: Gewehre, lange arabische Flinten, Handschare, südamerikanische Bolas, das Lasso, mit dem sich Ruprecht den Dank des Polizeikommissärs Mirko Bovacs verdient hatte, und eine Menge mörderisches Kleinzeug. Ruprecht wählte ein Jagdmesser mit Hirschhorngriff und breiter, starker Klinge. Das war am geeignetsten für eine solche Arbeit.
Ruprecht ging mit aller Vorsicht zu Werke. Nach einer Viertelstunde glitt langsam und lautlos ein viereckiges Stück Bettwand in seine Hand. Er sah, daß es zersägt und wieder zusammengeleimt worden war. Das Jagdmesser versah seinen Dienst weiter und zerlegte das Brett in seine beiden Hälften. Ein Stückchen Seidenpapier fiel zu Boden. Ruprechts Herz klopfte stark und fest. Er hatte sich selber wieder und seine Besonnenheit. Ruhig betrachtete er die zwei Hälften, die er in der Hand hielt. In jede von ihnen war eine kleine Mulde eingearbeitet, so daß sie zusammen eine kleine Höhlung bildeten, in der sich das Seidenpapier befunden hatte. Ruprecht hob das Papier auf und entfaltete es. Ein kleines Körnchen einer grauen Substanz war darin, einer unscheinbaren Masse – sonst nichts.
Ruprecht betrachtete es verwundert. Sonst nichts? Das war alles – und dazu dieser ganze geheimnisvolle Apparat? Aber was denn? Was hatte er denn zu finden erwartet? – Plötzlich überlief es ihn kalt. Ein Gedanke war in ihm aufgefahren wie eine Stichflamme. Und mit andächtiger Scheu betrachtete er das graue Klümpchen, das er zwischen den Fingerspitzen hielt. Hingen nicht an dieser unscheinbaren Substanz Weltallrätsel? Verknüpfungen von grauen Vergangenheiten mit blassen, kaum zu ahnenden Möglichkeiten in fernsten Zeiten. Hier war ein Ding, das ein Symbol für das Wort von kleinsten Ursachen und größten Wirkungen war. Eine Abbreviatur für alle Gedanken von der Unsterblichkeit der Materie, von der Ewigkeit der Kraft. Und zugleich – ein Mordwerkzeug.
Vorsichtig legte er das Klümpchen auf eine gläserne Aschenschale, die neben der Uhr auf der Kommode stand. Dann machte er sich daran, seine Bettwand wieder in den früheren Stand zu setzen. Er fügte die beiden Hälften des Brettchens zusammen und setzte es ein. Nun war nicht zu erkennen, daß es entfernt worden war.
Ruprecht wusch sich die Hände und rauchte dann, in seinen Schaukelstuhl hingestreckt, eine ägyptische Zigarette. Er sah den blauen Rauchringeln nach und dachte gar nichts. Ein tiefes Behagen war in ihm, Mittelpunktsgefühl und Ruhen. Der Kopf schmerzte. Aber das hatte nun gar nichts mehr zu sagen. Als die Zigarette zu Ende war, zerdrückte er den Stumpf und zog sich dann bedächtig aus.
Er schlief traumlos und tief bis weit in den Morgen hinein. Nach dem Ankleiden schrieb er einen Brief und verpackte seinen seltsamen Fund in eine kleine Pappschachtel. Der alte Johann mußte dann beides zur Post tragen und einschreiben lassen. Brief und Schachtel gingen an Ruprechts Jugendfreund, den Chemiker Wetzl.
Und nun war vorläufig nichts anderes zu tun, als zu warten. –
Im stillen Vorderschluder war Sturm und Wogendrang. Fanfaren schmetterten, Heerhaufen bereiteten sich zur Schlacht. Unter den Arbeitern der Papierfabrik war der Streik ausgebrochen. Ihre Forderungen waren von der Direktion abgeschlagen worden, und sie hatten den Krieg erklärt.
In Wien zog man die Fäden der Empörung. Ein Redakteur war hier gewesen und hatte den Leuten die Schlagworte zugetragen, deren sie bedurften. Rauß, der Radaubruder, warf sich zum Unteranführer auf. Er focht mit den Armen, brüllte, und wenn es nach seinen Mienen und seinem gewaltigen Schreien gegangen wäre, so hätte das Kapital schon morgen verschwinden müssen, und die Arbeit hätte überall triumphiert.
Die Bauern sahen zu. Ein Teil stumpfsinnig, weil er überhaupt nicht verstand, um was es ging. Und ein Teil nicht ohne Schadenfreude, weil die »Herrschaften« eins ausgewischt bekamen. Aber sie beteiligten sich nicht an den Vorgängen. Die Arbeiter der Papierfabrik waren zumeist Landfremde und konnten keinen Anhang gewinnen. Sie saßen im »Hotel Bellevue« am unteren Ende des Dorfes und feuerten sich gegenseitig an. Sie zerrissen ihre Feinde in der Luft und verspeisten einen zu jeder Mahlzeit. Noch gab es Mahlzeiten. Das Streikkomitee hatte aus Wien eine ausgiebige Unterstützung erhalten. Man konnte leben und leben lassen.
Der Wirt des »Hotels Bellevue« machte sein Geschäft dabei. Er war eine Art von verkommenem Genie. Viel in der Welt umhergetrieben, hatte er endlich hier einen Stand gefunden, wo er zu bleiben gedachte. Er hatte in eine Bauernfamilie hineingeheiratet, sehr zum Ärger des Vaters, und hatte nach und nach die Herrschaft an sich gerissen. Mit den Ersparnissen der Alten hatte er aus dem Bauernhof das »Hotel Bellevue« gemacht, wobei die schöne Aussicht in einer Perspektive auf die wohlgefüllten Taschen der Sommerfrischler bestand. Sonst war der großartige Name eigentlich nicht ganz gerechtfertigt. Denn vor dem Verandafenster des Hotels Bellevue floß der Kamp trüb und dunkel mürrisch vorbei, eingeengt und doch ohne Schönheit schäumender Wirbel. Und jenseits war eine fast kahle Wand aus grauem Gneis, die immer aussah, als ob sie eben naß geworden sei. Nur wenige Birken hatten in Felsritzen Wurzel geschlagen, aber sie schienen es zu bedauern und ganz unglücklich ins Tal hinabzuschauen, ob sie nicht irgendwie hinunterkommen könnten. Die hinteren Fenster des Hotels aber gingen auf ein großes Loch im Hügelhang, aus dem der Wirt den Lehm für seine Bauziegel gegraben hatte. Dort sah es immer etwas unaufgeräumt aus. Und nur ein überaus gutmütiger Mensch hätte behaupten können, das sei malerisch.
So hielt also die Wirtin des »Roten Ochsen« den Wettbewerb aus. Die Sommergäste blieben ihr treu. Ihre saubere, lächelnde, heitere Wohlgenährtheit wurde nicht von Sorgen angegriffen. Man zog ihre walzige Behaglichkeit der aufgeregten Beflissenheit des Herrn der schönen Aussicht vor.
Nachdem diesen so der Weg zum Kapital ins Holz geführt hatte, wandte er sich und schlug sich auf die Seite der Arbeiter. Das »Hotel Bellevue« wurde ihr Zusammenkunftsort und war nun ihr Hauptquartier.
Hier hielt Rauß seine Brandreden und begeisterte seine Gefolgschaft zu kühnen Taten. Man begann nach gutem alten Brauch damit, die Fensterscheiben in der Fabrik einzuschlagen. In der Wohnung des Direktors blieb auch nicht eine ganz.
Dann zog man abends im Ort hin und wider und brüllte. Die vom Feld heimkehrenden Knechte und Mägde mußten sich allerlei Spott gefallen lassen.
Und eines ganz besonders schönen Vorsommerabends wurde jemand durchgehauen. Das war niemand anders als Jérome Rotrehl, der »Krampulljon«. Sein Unstern hatte ihn in den Ort geführt. Und man brauchte gerade jemand zum Durchhauen. Rauß war unparteiisch genug, sich an diesem Geschehnis zu beteiligen, obzwar ihn doch eine alte Bekanntschaft mit Rotrehl verband. Aber Grundsätze waren ihm wichtiger als Menschen.
Die Bauern saßen im »Roten Ochsen« und besprachen die Ereignisse. Sie ärgerten sich darüber und waren gar nicht mehr schadenfroh, aber sie konnten zu keinem Entschluß kommen, was zu tun. Der Oberlehrer erinnerte sich des Jahres 1848 und sprach davon, eine Bürgergarde zu bilden zur Aufrechterhaltung der Ordnung.
»Mir san aber kane Bürger«, brummte der Gemeindevorstand. Und das war richtig. Also fiel des Oberlehrers Gedankensaat auf steiniges Feld. Denn von einer Bauerngarde hatte man noch nichts gehört.
Eine Weile später kam der Rauß mit zwei Genossen in die Gaststube des »Roten Ochsen«. Das war eine unerhörte Frechheit. Der sollte doch im Hotel Bellevue bleiben, bei den anderen! Die Bauern rückten zusammen, sahen ihn finster an und spuckten alle aus dem linken Mundwinkel, nur der Peterlehner spuckte aus dem rechten Mundwinkel, weil er ein schiefes Maul hatte, das nach dieser Seite verzogen war.
Aber sie hörten zu, wie der Rauß Krawall machte, wie er auf den Tisch schlug und ein mörderliches Schimpfen anhub auf die Schwefelbande, auf die Lehmkratzer, denen man in die dicken Schädel ein Loch schlagen müsse, damit man ihnen einen Trichter in den Kopf stecken könne, um ihnen die Menschenrechte einzutrichtern. Und es sei eine Gemeinheit, eine teuere Kirchenfahne zu kaufen, während das arbeitende Volk hungern müsse und um seine Existenz kämpfe. Himmelsakrament! Und das sei eine Pro–vo–ka–tion! Aber sie sollten ihn kennenlernen, ihn und die Genossen, wenn sie morgen die Fahnenweihe begehen würden. Sie ließen sich nicht verhöhnen, dazu sei sich das arbeitende Volk zu gut, Himmelsakrament!
Aber in der walzigen Wohlgenährtheit der Ochsenwirtin steckte eine heldenhafte Seele. Den Mut, der den Männern fehlte, brachte sie auf. Sie trat vor den Rauß hin und erklärte, daß sie nicht dulde, daß in ihrem Gasthaus Krawall geschlagen würde. Hier sei eine anständige Wirtschaft, und der Rauß solle nur wieder ins Hotel Bellevue gehen, wo er hingehöre.
Da wurde der Rauß noch wütender. Er schlug mit der Faust den Takt zu einem Gläsertanz und schrie: er werde es ihr schon weisen, sie sei auch so eine, die sich vom Schweiß und Blut der Arbeiter gemästet habe.
Das ging der Ochsenwirtin gegen die Reputation. So etwas ließ sie sich nicht sagen. Und so erklärte sie dem Rauß mit zornblitzenden Augen, daß seine Arbeiter bleiben könnten, wo sie wollten, und wenn sie etwas rund geraten sei, so wäre das nur von Erdäpfeln und höchstens Schmalznudeln, keineswegs aber von solchen Sachen – pfui Teufel! – wie Schweiß und Blut. Hierauf ging sie unter dem beifälligen Schmunzeln ihrer Gäste hinaus und schlug die Küchentüre hinter sich zu.
Der Rauß behauptete das Schlachtfeld und tobte weiter. Aber nicht lange, denn nach einer kleinen Weile kam der Schorsch ganz bescheiden durch dieselbe Türe, durch die vorhin die Wirtin verschwunden war, und fragte den Rauß, ob er lieber durch die Türe oder durch das Fenster hinaussteigen wolle. Der Schorsch war Hausknecht im »Roten Ochsen«, und der einzige im Ort, der sich vor dem Rauß nicht fürchtete. Man erzählte im ganzen Kamptal von seinen Heldentaten, die er während seiner Dienstzeit beim Infanterieregiment Nr. 49, Freiherr von Heß, in Brünn ausgeführt hatte. Er war sogar bei der Maschinengewehrabteilung gewesen, und wenn man ihm so etwas anvertraute, während alle anderen bloß gewöhnliche Gewehre hatten, so mußte er eine solche Auszeichnung schon verdienen. Jetzt stand er vor dem Lärmmacher und stülpte die Hemdärmel bis an die Achseln auf.
Der Rauß wollte sich nichts vergeben und antwortete hochfahrend, zum Hinauswerfen gehörten zwei. Da machte der Schorsch keine Umstände weiter, zog sich den Rauß beim Hals heran, schlug ihm die riesigen Pranken um die Brust und trug ihn zur Türe, aus der er ihn mit einer Drehung und einem Tritt kunstgerecht beförderte. Der Tisch und die Gläser waren umgestürzt. Es sah zuerst aus, als wollten aus ihren Trümmern die zwei Genossen als Rächer erstehen. Wenigstens äußerte sich der Maurerwenzel so ähnlich. Aber der Schorsch hob seine rechte Pranke und zeigte ihre offene Innenfläche.
»Schau her«, sagte er. Diese Hand war in Friedenszeiten eine Sehenswürdigkeit, im Kriegszustand wurde sie ein schreckliches Zerstörungswerk. Der Maurerwenzel warf nur einen Blick auf die gelbe Hornhaut der Schwielen und die fünf gespreizten Finger und folgte dann mit dem Genossen dem vorangegangenen Führer.
»So is recht!« sagte der Mathes Dreiseidel, »wir hätten ihn gleich rausschmeißen sollen. So was darf man sich net gefallen lassen.« Und er belohnte sich mit einem kräftigen Schluck, als ob er sich selbst diese saubere Arbeit zuzuschreiben habe.
Also wurde der erste Angriff abgeschlagen. Aber dieser schöne Hinauswurf war bis auf weiteres Schorschens letzte Heldentat in Vorderschluder. Denn er hatte eine Einberufung zur Waffenübung in der Tasche und mußte noch am selben Abend abreisen.
Und am nächsten Morgen sollte die Fahnenweihe stattfinden.
Es wäre vielleicht wirklich nicht ganz vorsichtig, meinten einige, gerade in diesen aufgeregten Zeiten … und man täte besser, das Fest zu verschieben.
Aber was war zu tun? Alles war schon vorbereitet, und die Einladungen waren ausgeschickt, und sogar der Herr Bezirkshauptmann hatte sein Erscheinen zugesagt. Und nun gab es harte Köpfe, die darauf bestanden, man dürfe sich nicht einschüchtern lassen und nicht zurückweichen. Dieser Triumph durfte dem höllischen Feind und dessen Helfershelfern nicht bereitet werden. Die alte Marianne vom Schloß hatte unlängst in der Kirche einen Anfall bekommen und unter Beten und Weinen geschrien, das Gefäß der Sünden sei voll und die himmlische Gnade sei zu Ende. Das hatte den abergläubischen Gemütern einen Ruck gegeben. Ob das nicht vielleicht eine ernstliche Warnung war? Man wollte sich doch möglichst bald unter den Schutz des heiligen Landespatrons Leopold stellen, dessen Bild auf der neuen Fahne in Gold und Seide ausgestickt war.
Am nächsten Morgen begann das Fest mit Böllerschüssen auf den Hügeln über dem Kamp. Der Schall rollte ins Tal und die Felswände warfen ihn hinüber und herüber. Der Himmel machte ein freundliches Gesicht, und man konnte glauben, auf den weißen Sommerwolken sitze der heilige Leopold und freue sich auf das schöne Geschenk.
Dann begannen die Glocken zu läuten, und es wurde ungemein feierlich in Vorderschluder. Die Straßen waren mit Reisig und Blumen bestreut, und in den Bauernhäusern wurden den weißgekleideten Mädchen noch die letzten Locken gebrannt und mit Maschen besteckt. Aus den drei Fenstern des Kirchturms hingen drei Fahnen, eine in den päpstlichen, eine in den Reichs- und eine in den Landesfarben. Auch die Pfarrei war mit Fahnentuch geziert, und über der Türe war ein Reisiggewinde mit einem Spruch, und der lautete:
»Die Fahne ziehet uns voran.
Wir folgen ihr getreu …
Die alte Fahne war schon schlecht,
Wir stifteten sie neu.«
Der Dichter dieses Spruches war der Oberlehrer, und er ging gleich am Morgen dreimal an der Pfarrei vorüber, um zu sehen, wie sich sein Vers am richtigen Platze ausnehmen würde. Er war in Glanz und Glück und Gloria und wäre sich ganz als Hauptperson vorgekommen, wenn ihn nicht einiges Unbehagen im Magen gestört hätte. Denn in Erwartung des heutigen Festessens hatte er den ganzen gestrigen Tag beinahe völlig gefastet. Und nun ließ sich das ungestüme Wünschen durch keine besonnenen Vorstellungen beschwichtigen.
Als der Morgen in den Vormittag hinübergeflossen war, kamen auch die Festgäste an. Gutsbesitzer aus der Umgebung, benachbarte Pfarrer, die Vertretungen der Behörde und zuletzt auch der Herr Bezirkshauptmann. Aus Wien hatte sich Anton Sykora, der Ehrenobmann des Vereins christlicher Fortschrittsfreunde, eingefunden, denn er hatte einen Anspruch darauf, das Fest mitzufeiern, da ja sein Verein eine reichliche Spende beigetragen hatte. Vor der Pfarrei standen die Zuschauer. Die weißen Mädchen warteten unter der Führung des Oberlehrers hinten im Garten. Die Herrschaften aber waren im Studierzimmer des Pfarrers versammelt. Nur Frau Helmina fehlte noch, dann konnte man beginnen. Der Herr Pfarrer hatte ein Gläschen Wein zur Stärkung auftragen lassen. Man saß herum, so gut es ging. Hinten in der Ecke stand der Ausschuß des Karl-Borromäus-Vereins, alle frisch rasiert, und wenn sie getrunken hatten, wischten sie immer fein säuberlich mit dem Handrücken den Mund ab.
Der Bezirkshauptmann war sehr leutselig. Er winkte sich den Gemeindevorsteher heran: »Sie haben ja Krawalle gehabt … in der letzten Zeit. Einen Streik … Arbeiterunruhen … es ist doch hoffentlich nichts Ernstes …«
Der Gemeindevorsteher versicherte, daß die Aufregung sich bald gelegt haben werde.
»Ja … ja!« nickte der Bezirkshauptmann, »sorgen Sie nur dafür, daß bald wieder Ruhe wird. Ich habe das nicht gerne in meinem Bezirk. Sie wissen, ich bin in Wien für alles verantwortlich … Sie verstehen doch …« Der Gemeindevorsteher erschauerte vor dieser ungeheuren Verantwortung. »Übrigens«, fuhr der Bezirkshauptmann fort, »wird es hoffentlich nicht gerade heute zu Krawallen kommen. Man hat angeblich so Verschiedenes gehört … ich habe das nicht gern, wenn solche Feste durch unverantwortliche Zwischenfälle gestört werden. Wie sieht denn das aus? Der Herr Pfarrer hat mir davon Mitteilung gemacht. Und ich habe auf alle Fälle – Ihr Einverständnis voraussetzend – Gendarmerie aus Gars requiriert. Sie muß noch im Laufe des Vormittags eintreffen. Daran hätten Sie freilich auch denken können. Wozu ist denn die Gendarmerie da? Man muß sie nur zur rechten Zeit in Anspruch nehmen. Wie gesagt, das hätte Ihnen auch einfallen können.« Nach dieser väterlichen Rüge verzogen sich die Wolken, und der Sonnenschein des Wohlwollens brach wieder durch: »Übrigens, sehr brav, mein lieber Hingler, die Bestrebungen des Karl-Borromäus-Vereins sind sehr anerkennenswert. Ich werde mir Ihre besonderen Verdienste ad notam nehmen.«
Der zierliche, kleine Herr mit den müden Augen und den faltigen Backen wandte sich nach einem freundlichen Kopfnicken ab und trat wieder zum Pfarrer. Er machte auch in diesen Dingen seine Unterschiede. Den Gemeindevorsteher winkte man heran, zum Pfarrer trat man hin.
»Es ist alles ruhig im Dorf, Hochwürden,« sagte er, »man sieht ja niemanden von den Ruhestörern.«
»Sie sitzen alle im Hotel Bellevue. Solange sie nicht betrunken sind, machen sie keinen Lärm. Ich würde gerne anfangen. Wenn nur Frau von Boschan schon kommen wollte.« –
Helmina aber konnte heute mit ihrer Toilette nicht zustande kommen. Sie war so aufgeregt, daß ihr die Kammerfrau nichts recht zu machen vermochte. Und diese Erregung floß aus einer Unterredung her, die sie am frühen Morgen mit Ruprecht gehabt hatte. Ihre Quellen waren Wut und Angst.
Am Tage vorher hatte Ruprecht einen Brief seines Freundes Wetzl empfangen. In seinem Hauptteil war dieser Brief ein ausführliches Gutachten über eine Substanz gewesen, die ihm von Ruprecht übersandt worden war und die er als Radium erkannt hatte. Er bestätigte förmlich den Empfang, beschrieb Aussehen und Beschaffenheit, bestimmte das Gewicht und verpflichtete sich zuletzt, das Radium für seinen Freund zu bewahren und, wenn er es zu seinen Experimenten benützen wollte, es in seinem jetzigen Zustand zu belassen. Den versiegelten Brief wollte er gleichfalls sorgsam aufbewahren und nur über Auftrag Ruprechts oder des Notars in Gars wieder herausgeben.
Nach Empfang dieses Briefes hatte sich Ruprecht in seinem Arbeitszimmer eingeschlossen und hatte ein Schriftstück verfaßt. Er beschrieb mehrere Bogen, heftete sie zusammen und gab sie in ein starkes Kuvert, das er mit fünf Siegeln verschloß. Mittags war er dann nach Gars gefahren und erst spät am Abend zurückgekommen, als Helmina schon zu Bette gegangen war.
Als er am Morgen in das Frühstückszimmer kam, fragte ihn Helmina gleichmütig, wo er gestern gewesen sei.
»Ach,« antwortete Ruprecht ebenso gleichmütig, »ich war beim Notar in Gars.« Helmina wurde aufmerksam. »Beim Notar? Du willst also doch die Gemeindefelder kaufen.« »Nein! Ich war nicht als dein Verwalter dort, sondern in einer persönlichen Angelegenheit.« »Ich darf natürlich nicht wissen, worum es sich handelt,« sagte Helmina spöttisch, aus einer Unruhe heraus, »du beliebst ja jetzt manchmal so geheimnisvoll zu sein.«
»Warum soll ich es dir nicht sagen? Ich war dort … wegen meines Testamentes.« Ruprecht sprach das Wort langsam, ohne besondere Betonung, aber Helmina empfand es dennoch als Harpunenwurf.
»Was soll das heißen?« fragte sie, mit jäher Wendung zu Ruprecht, »ich denke, da … über diese Sache sind doch die Akten schon geschlossen … Das ist doch durch unseren Ehevertrag erledigt und geordnet.«
Ah, sie war getroffen, sie wand sich. Das war gut. »Ich habe nicht daran gerüttelt, Helmina,« sagte Ruprecht, »es bleibt selbstverständlich dabei. Es würde mir niemals einfallen, eine solche Vereinbarung einseitig umzustoßen. Findest du nicht, daß das ein Mangel an Galanterie wäre … ohne dir etwas davon zu sagen? Wie kannst du so etwas nur denken? Nein, es bleibt schon dabei.«
Helmina starrte ihn mit weit offenen Augen an. Alles Spiel des Lichtes war in ihnen erloschen. Sie lagen leer und aschfarben. In Ruprechts Ton war eine drohende Zuversicht; Helmina dachte nicht daran, ihre Maske festzuhalten.
»Ich verstehe überhaupt nicht, wie du auf einen solchen Gedanken kommen kannst,« fuhr Ruprecht mit leichtem Vorwurf fort, der wie ein Scherz hüpfte, »hast du mir denn Anlaß gegeben, unser Übereinkommen zu bedauern? Du bist doch im ganzen eine liebenswürdige Frau, daß du manchmal Launen hast? Mein Gott, welche Frau hat keine Launen. Und ich muß dir sagen, daß ich mich in unserer Ehe recht wohl fühle. Wir lieben uns doch noch immer? Oder nicht? Und ich empfinde eine innere Befriedigung. Ich habe meine Aufgabe. Du wirst mir zugestehen, daß ich auf Erfolge stolz sein darf. Wenn alles nach meinem Bewirtschaftungsplan geht und keine Ungunst des Wetters dazwischenkommt, so wird dein Gut heuer einen erheblich größeren Reingewinn abwerfen … es war geradezu außerordentlich gescheit, Rüben und Zwiebeln …«
Er geriet immer weiter ab. Sprach von Zwiebeln und Rüben und Wein, als ob dies der Zweck dieser Unterredung wäre, während Helminas Hals zusammengeschnürt war und ihre Finger krampfhaft zuckten. Hinter diesen Worten Ruprechts spürte sie eine gereckte Faust. »Du hast mir noch immer nicht gesagt,« unterbrach sie ihn endlich, »was du beim Notar gemacht hast.« Sie war nicht imstande, die Ungewißheit länger zu ertragen.
»Ach so …« sagte Ruprecht, »ja also: ich habe bloß eine Zusatzbestimmung getroffen … zu unserem Erbvertrag … für den Fall meines Versterbens.«
»Deines Versterbens?« Helmina schluckte. Mit einemmal sah sie sich einer Gefahr unmittelbar gegenüber, und da spannten sich sogleich alle ihre Kräfte. »War es nötig, eine Zusatzbestimmung zu treffen? Überhaupt, wer denkt denn ans Sterben?« sagte sie vorsichtig.
»Ja … ich habe mich nach längerem Überlegen, aus genauen Erwägungen heraus zu meinem Schritt entschlossen. Schritt ist übrigens zuviel gesagt, es ist höchstens ein Schrittchen. Nur die Festsetzung gewisser Bedingungen für den Fall meines Versterbens; ich will doch darüber beruhigt sein, daß gewisse Anordnungen beobachtet werden, die mir am Herzen liegen. Deshalb habe ich alles genau aufgezeichnet, was im Fall meines Versterbens zu geschehen hat, und habe es wohlversiegelt beim Notar hinterlegt. Es soll kein Mensch erfahren, was darin steht, bevor ich sterbe … auch du nicht«, setzte er lächelnd hinzu.
»Ich meine nur,« sagte Helmina, indem sie sich zwang, den Rhythmus ihres Atems zu bewahren, »daß du Zeit hättest, an diese Dinge zu denken.«
Ruprecht zuckte die Achseln und machte ein verlegenes Gesicht: »Also, weißt du … schnell tritt der Tod den Menschen an. Wir haben doch vor ganz kurzer Zeit ein Beispiel davon erhalten. Der arme Jana … wer hätte das gedacht, nicht wahr?«
»Das hat dich also ängstlich gemacht?« fragte Helmina. Ihre Stimme klang lehmig und schwer.
»Und dann,« fuhr Ruprecht fort, »dann noch etwas: ich habe mich in der letzten Zeit gar nicht wohl gefühlt. Du wirst es doch an mir bemerkt haben. Es war so eine allgemeine Niedergeschlagenheit … Schmerzen im Kopf und in den Gliedern. Ich habe mich ja bemüht, es dir zu verbergen, aber dieser Zustand war wohl mächtiger als ich … ich fühle selbst, daß ich nicht auf der Höhe war. Nun … du wirst begreifen, bei einer solchen allgemeinen Erschlaffung ist man doch weniger widerstandsfähig. Der Gedanke an den Tod ergreift leicht Besitz von einem. Man denkt darüber nach, daß man doch nur ein recht gebrechliches Ding ist und daß es so viele Möglichkeiten gibt, mit denen der Tod uns fangen kann.«
Ein unterirdisches, fahles Lächeln wollte auf Helminas Gesicht aufsteigen. Es war, als könne es nicht durch die Haut hindurch: »Ich sage ja, du hast Angst bekommen.«
»Möchtest du es nicht lieber Vorsicht nennen? Übrigens fühle ich mich seit einigen Tagen wieder viel wohler. Meine Teilnahmslosigkeit ist weg, ich bin wieder frisch, und meine Kraft kehrt zurück. Jetzt erkenne ich erst, wie krank ich eigentlich war. Ja … es war wirklich eine Krankheit. Jetzt bin ich aber auf dem Weg, gesund zu werden.«
»Warum hast du dich mir nicht anvertraut …« sagte Helmina, »ich hätte dich gepflegt …«
»Ich weiß, Helmina. Denke dir übrigens, mein Freund Wetzl, der Chemiker, der ja auch bei unserer Hochzeit war … er hat einen vorzüglichen Ruf als Spezialist auf dem Gebiet der Radiumforschung, er behauptet … ja, ich muß erwähnen, daß ich ihm eine genaue Schilderung meines Zustandes gegeben habe, also er behauptet, daß dieser Zustand alle Symptome einer Radiumvergiftung aufweist. Ich meine, genau dieselben Erscheinungen treten auf, wenn man jemanden dauernd der Bestrahlung durch Radium aussetzt. Er hat Erfahrung in diesen Dingen. Meine Beschreibung stimmt Zug für Zug, sagt er. Die Rötung der Scheitelgegend sei besonders charakteristisch, meint er. Und wenn man die Bestrahlung längere Zeit fortsetzt, so kann sie sogar zum Tode führen. Ich habe bei ihm eine ganz genaue Beschreibung meines Falles hinterlegt … im Interesse der Wissenschaft.«
Helmina stand auf. Sie stützte sich mit der Rechten leicht auf den Tisch. Es war keine Erregung an ihr zu sehen. Nur die schmalen, schönen Hände waren unheimlich leblos, die Knöchel ganz weiß und die Fingernägel blau, als ob sie eben einen schmerzhaften Druck hätten aushalten müssen. »Du wirst entschuldigen,« sagte sie, »ich muß Toilette machen. Sonst komme ich zu spät zur Fahnenweihe.«
Damit ging sie. Kaum aber war sie auf ihrem Zimmer, so kam es über sie. Wut und Angst. Sie waren wieder überlistet von diesem Menschen, er hatte alles entdeckt und sich gesichert. Kein Zweifel, daß jenes Schriftstück beim Notar eine genaue Darstellung der ganzen Sache enthielt. So also war die Veränderung in Ruprechts Befinden zu erklären, die Lorenz bloß als ein vorübergehendes letztes Zusammenraffen hingestellt hatte, dem der endgültige Zusammenbruch um so sicherer folgen mußte. Sie waren in der Sackgasse. Ruprecht hatte einen Panzer angelegt, war unverwundbar und triumphierte. Helmina fühlte sich zertreten, das Tier in ihr raste.
Auf ihrem Frisierstuhl sitzend, konnte sie die Fahnen unten im Tal wehen sehen. Von den Höhen kam der Schall der Böller, eine Reihe dicker, gemütlicher, durch die Luft sich wälzender Ungeheuerchen. Oh, sie hätte mit Fäusten dreinschlagen mögen. Immer mehr erhob sich die Wut über die Angst. Gegen Ruprechts biedere Schlauheit, gegen seinen indianischen Scharfsinn waren sie machtlos. Eine lange Hutnadel lag vor ihr auf dem Toilettentisch. Sie war einen Augenblick in Versuchung, diese Nadel der ungeschickten Kammerfrau in den bis zum Ellbogen entblößten Arm zu stoßen, wie es die römischen Damen mit ihren Sklavinnen getan hatten.
Als sie fertig war und in den Hof kam, fand sie Ruprecht beim Wagen ihrer wartend. »Du willst mitfahren?« fragte sie in zornigem Erstaunen.
»Gewiß,« sagte Ruprecht ruhig, »die Sache gefällt mir zwar nicht. Aber ich möchte doch nicht, daß man sagt, wir gingen getrennte Wege. Man soll sehen, daß wir uns gut vertragen.«
Achselzuckend stieg Helmina ein, und schweigend fuhren sie den Schloßberg hinab.
»Gott sei Dank, sie kommt endlich«, sagte der Pfarrer, als der herrschaftliche Wagen die Menge draußen teilte. Die Leute sahen schweigend zu, wie Helmina und Herr von Boschan ausstiegen. Sie wußten alle, daß Helmina am meisten zu der neuen Fahne beigetragen hatte. Aber dennoch hatte sie das Herz der Menge nicht gewonnen. Ein untrüglicher Instinkt leistete Widerstand.
Im Studierzimmer des Pfarrers herrschte lebhafte Bewegung. Hier war Helminas Gefolgschaft in der Mehrzahl. Die Beamten der Papierfabrik waren da, ihre eigenen Angestellten, der Stationsvorstand und ein Telegraphist, dessen Schreibtischladen voll süßer Lyrik waren. Er war der heimliche König unter ihnen. Er dachte immer nur: wenn du wüßtest, du schöne Frau … was ich dir geben kann, das hat keiner von diesen. Und er war in seinen Gedankensünden und geträumten Ehebrüchen glücklich. Er verneigte sich dreimal vor Helmina, vor dem Allerheiligsten seines Lebens.
Sie aber strahlte und blendete. Sie trug ein graues Kleid, auf dessen Rock schwarze Borten schräg nach hinten liefen, so daß der schöne Schwung ihrer Hüften herausgehoben wurde. Der Adjunkt starrte wie irrsinnig hin.
Der Bezirkshauptmann wurde vorgestellt und führte sich mit einigen geistreichen Bemerkungen über die Bedeutung des heutigen Tages ein. Dann gab es sich, daß Ruprecht und Anton Sykora zusammentraten. Zögernd führte ihn Helmina als Freund Dankwardts ein … er hatte sie ja im Winter besucht. Dabei glaubte sie in Ruprechts ruhig erwägendem Blick einen neuen Verdacht zu lesen, und mit knirschender Erbitterung stellte sie bei sich fest, wie schwankend und unsicher sie geworden war. Dabei zischte eine Schadenfreude: Sykora würde Augen machen, wenn er erführe, was geschehen war.
Dann nahm die Feier ihren Anfang. Der Oberlehrer führte die weißen Mädchen aus dem Garten hervor und ließ sie singen. Es klang hell und freudig. Die Fahnen zuckten in der lauen Luft und die Böller krachten dazu. Der Karl-Borromäus-Verein trat an und nahm die Fahne in seine Mitte. Und wie der Pfarrer, von den Gästen gefolgt, aus dem Haus hervorkam, begannen die Glocken zu läuten. Langsam ging der Zug über den Dorfplatz. Das war nur ein kleines Stückchen Weges. Und die weißen Mädchen waren schon von dem breiten Kirchentor verschlungen, als die Pfarrei noch immer Festgäste hergab.
Unter der Menge, als einer der vielen, stand Schiereisen. Es genügte ihm, heute zu statieren, er wollte gar nichts Besonderes für sich. Es war ihm nur darum zu tun, zu sehen und nicht gesehen zu werden. Am Morgen war er bei Rotrehls Tür vorübergesegelt und hatte da einen Halt gemacht, um den Alten zu fragen, ob er nicht mitkommen wolle. Er hatte Rotrehl in einem Zwiegespräch mit Napoleon angetroffen und hatte die unwillige Antwort bekommen, daß sich die unten im Dorf ihre Narreteien allein ausmachen sollten. Er, Jérome Rotrehl, passe zu dem Volk wie die Sichel in die Messerscheide oder wie die Geige in die Futterkrippe. Man solle ihn in Ruhe lassen. Da merkte Schiereisen, daß die Prügel von unlängst durch die Haut hindurch bis auf die Seele gedrungen waren, und daß diese stolze, ihrer Ahnen sichere Seele blaue Flecke und Beulen behalten hatte. Er ließ also Jérome mit Napoleon allein, und als er ein Stück über den Berghang hinunter war, kamen die Geigentöne hinter ihm drein. Auf zarten, weichen Sohlen, wie schüchterne Kinder. Da wußte er, der Geigenmacher legte seiner zerbeulten Seele lindernde Salben auf.
Auf dem Dorfplatz gesellte sich Schiereisen zu Mathes Dreiseidel. Der stand und schaute und ließ die Pfeife hängen. Und hinter seinem breiten Rücken war gerade Platz genug für einen untersetzten Herrn wie Schiereisen. Mit dem Mathes Dreiseidel hatte es seine eigene Bewandtnis. Er war nämlich beim Karl-Borromäus-Verein und thronte sogar im Ausschuß, aber der Pfarrer hatte wegen Raummangels in der Studierstube und auch sonst, um dem bäuerlichen Element nicht allzu sehr das Übergewicht zu geben, angeordnet, daß nur sechs Ausschußmitglieder an der Feier teilnehmen sollten. Nun waren sie ihrer aber zehn, und Mathes Dreiseidel befand sich unter den durch das Los Ausgeschiedenen. Da hatte er aber zu den Waffen seiner Beredsamkeit gegriffen und hatte erklärt, das lasse er sich nicht gefallen, und wenn er schon bei der kirchlichen Feier nicht als Würdenträger dabei sein solle, so wolle er doch keineswegs auf das folgende Festmahl verzichten. Das war schließlich den vier Ausgeschlossenen nach einigem Verhandeln zugestanden worden. So stand also Mathes Dreiseidel mit gemischten Gefühlen unter dem zuschauenden Volk. Eigentlich gehörte er ja doch unter jene, die dort mit abgezogenen Hüten um die noch verhüllte Fahne zur Kirche zogen. Aber wenn er auch jetzt erniedrigt wurde, so sollte er nachher doch erhöht werden. Die Feier in der Kirche war freilich ehrenvoller, aber die Mahlzeit nachher war vergnüglicher. Und beim Essen und Trinken sollte ihm keiner anmerken, daß er nicht in der Kirche mitgewesen war.
Jetzt kamen die Honoratioren. Der Herr Bezirkshauptmann neben dem Pfarrer. Dann Frau Helmina mit Herrn von Boschan. Hinter ihnen aber ging … Schiereisen gab es beinahe einen Stoß in den Rücken … ging Herr Anton Sykora aus Wien, der Chef des Heiratsvermittlungsbureaus »Fortuna«. Er neigte sich eben vor und sprach einige Worte an Helminas Ohr. Sie wandte sich um und nickte ihm zu.
Die Orgel in der Kirche brüllte aus allen Registern los. Der Oberlehrer hatte seine weißen Mädchen bis zum Altar geführt und war dann rasch auf die Empore gelaufen, hatte sich mit schäumender Wut auf das Instrument gestürzt. Die letzten Festgäste, die kleinen Beamten Helminas und der Papierfabrik, traten in die Kirche, und dann drängte das Volk nach. Mathes Dreiseidel schied von Schiereisen, und während jener mit dem Strom der Neugierigen und Andächtigen schwamm, ging dieser durch das Dorf und dann den Abhang hinab.
Unter einer Linde, wo eine Sommerpartie eine Familienbank hingesetzt hatte, auf halber Höhe des Berges, machte Schiereisen halt und knüpfte seine Fäden fester. Er war aufrichtig froh darüber, daß Ruprecht heute so gesund und kernhaft ausgesehen hatte. Es war, als fülle sich sein Körper wieder mit frischen Kräften, nachdem er wie ausgesogen gewesen war. Das hatte er vielleicht seiner Warnung zuzuschreiben. Jedenfalls sprach Ruprecht nichts darüber, und Schiereisen war sich klar geworden, daß er von Helminas Gatten keine Förderung zu erwarten hatte. Ein eigentümlicher Mensch überhaupt, dieser Herr von Boschan. In Schiereisens Interesse war eine Wandlung vorgegangen. Nicht Helmina war ihm mehr die Hauptperson, sondern Ruprecht. Helmina war in noch nicht ganz gelöste Geheimnisse schwerer Verbrechen gehüllt. Aber Ruprechts Wesen war in aller klaren Zuversicht noch weit geheimnisvoller. Schiereisen war kein gewöhnlicher Detektiv. Sein Beruf war ihm nicht Erwerb, sondern wirkliche Berufung. Nicht Geschäft, sondern Lebensaufgabe. Höher als die Lösung augenblicklicher Aufgaben stand ihm die Bereicherung seiner Kenntnisse vom Menschen. Dabei war er taktvoll genug, gegen seine Auftraggeber niemals gönnerhaft oder gnadenvoll zu sein, den Stil seines Berufes zu wahren.
Er saß eine halbe Stunde unter der Linde und sah den runden Sonnenflecken zu, die aus dem zitternden Laub auf ihn heruntersprangen. Das Glockengeläute, die Rückkehr des Zuges aus der Kirche und sein Einmarsch im »Roten Ochsen« waren nur wie ein feines Gewebe von Klang und Farben auf dem Hintergrund seines Bewußtseins. Auf einmal aber kam ein lautes Johlen und Heulen aus dem Dorf, und das stieß ihn aus seinem Nachdenken heraus. Vor dem »Roten Ochsen« da unten war ein Getümmel von Menschen, hoch erhobene Arme mit Knütteln wirbelten über den Köpfen, eine rote Fahne blutete im Sonnenschein. Da wußte Schiereisen, der alte und der neue Glaube waren einander in die Haare geraten. Aber das ging ihn nichts an. Er hatte nichts mit Gleichgewichtsstörungen der Massen zu tun, sondern nur mit aus der Bahn gerückten Individuen. Für solche Vorgänge da unten genügte ein überlegenes Lächeln, das seinen philosophischen Ankergrund hatte.
Inzwischen waren wirklich der neue und der alte Glaube einander in die Haare geraten. Vorläufig freilich hielt der neue Glaube den alten beim Schopf und zauste ihn daran hin und her. Denn der neue Glaube war sogleich kräftig und mit Übermacht angerückt und hatte sich schon im »Hotel Bellevue« die Begeisterung geholt, die sich der alte im »Roten Ochsen« erst holen wollte.
Die Festgäste hatten sich in dem zum Bankettsaal umgewandelten Tanzsaal des »Roten Ochsen« kaum an die langen Tafeln gesetzt, als einer von draußen gestürzt kam und schrie: »Die Sozialisten kummen, sie hab'n a rote Fahn' und san alle b'soffen.«
Diese Meldung trieb einen spitzen Nagel in Mathes Dreiseidels Herz. Jetzt würde er am Ende um den Lohn seiner Entsagung gebracht werden. Und er zürnte seinem Gott und seinem Pfarrer, daß nicht zuerst die Mahlzeit und dann die feierliche Einweihung angesetzt worden war. So hätte er doch wenigstens seinen Anteil ins Sichere gebracht.
Der Bezirkshauptmann aber, der am oberen Ende der Ehrentafel zur Linken Helminas saß, legte seine Serviette hin und warf einen wütenden Blick auf den Gemeindevorsteher. »Das ist fatal!« sagte er, »daß so etwas in meinem Bezirk passieren muß. Ich habe solche Sachen nicht gern. Wenn wenigstens die Gendarmerie schon da wäre. Also … diese Schlamperei … na ja …«
Gleich darauf aber waren die Empörer schon da. Sie machten einen wütenden Angriff auf die andächtige Menge vor dem »Roten Ochsen« und trieben sie in die Seitengassen und über die Zäune. Dann erfüllten sie die ganze Straße vor dem Wirtshaus, schrien, schwenkten die Hüte und die Knüttel und zeigten, daß sie frei von allem Autoritätsaberglauben waren.
Unter der Küchentür stand die walzige, appetitliche Wirtin und bedauerte, daß der Schorsch zur Waffenübung hatte einrücken müssen. Dann warf sie einen Blick auf die Tafeln und ging mit sich zu Rat, ob sie nicht vielleicht rasch abräumen lassen sollte, ehe der Völkerstreit begann. Denn sie hatte die Hälfte des Geschirrs aus Gars geborgt, und bei solchen Anlässen konnte man nie wissen, ob etwas ganz blieb.
Der Pfarrer war ans Fenster getreten, um sein Wort als Öl über die Wogen des Aufruhrs hinströmen zu lassen. Aber sie ließen ihn gar nicht sprechen, sondern begannen sogleich ein mörderisches Heulen. Dazu schwenkten sie die rote Fahne, um ihm recht vor Augen zu führen, worauf sie eingeschworen waren.
Nach ihm versuchte es der Bezirkshauptmann. Er war blaß, aber gefaßt und bedauerte nur, daß kein Zeitungsmensch da war, der seine Haltung der Nachwelt hätte überliefern können. Er warf sich in das, was bei anderen Menschen die Brust heißt, und sammelte aus seinem ganzen Innern die Stimme, mit der er das Getöse durchdringen wollte. Aber als er den Mund öffnete, da war es weggeweht, wie ein Mandolinenton im Sturm.
Da trat der Bezirkshauptmann zurück und schrie den Gemeindevorstand an: »Ja … jetzt stehen Sie da … und können nicht Mau sagen … warum haben Sie sich nicht früher ordentlich umgesehen? … und das muß mir in meinem Bezirk passieren …«
Die Empörer waren aber inzwischen durch ihre Erfolge noch verwegener geworden, und auf einmal ging die Türe auf, und der Rauß kam herein und gleich hinter ihm der Maurerwenzel, und dann auf den Stufen draußen ein dichtes Gedränge von Genossen, Kopf an Kopf.
Nun faßte der Direktor der Papierfabrik Mut und machte den Eindringenden einige Schritte entgegen. »Liebe Leute …!« sagte er.
Aber der Rauß focht mit den Händen in der Luft und schrie: »Was wollen S'? Wenn Sie tun, was mir wollen, so sind wir wieder Ihre lieben Leut'. Vorher net! Verstehn S'! Und wir kommen nur zuschaun, wie sich die Herrschaften von unserm Schweiß und Blut mästen …«
O Gott, wenn nur der Schorsch da wär', dachte die Ochsenwirtin, und dann gab sie den Auftrag, man solle die Tafel rasch abräumen.
Wie das aber der Rauß sah, schrie er: »Oho … dalassen! Das ist für uns auch 'deckt. Da setzt'n mir uns auch zum Tisch. Mir wer'n euch zeigen, wie der Zukunftsstaat ausschaut.« Und hinten aus dem Gewimmel auf der Stiege rief eine Stimme: »Hoch die Republik!«
»Komm,« sagte Ruprecht zu Helmina, »wir gehen! Ich habe genug davon.« »Wir können doch nicht hinaus«, flüsterte Helmina angstvoll.
»Komm nur!« Und er zog sie empor und ging rasch der Tür zu. Im dumpfen Schädel des Radaubruders quälte sich Ironie empor: »Euer Gnaden, der Herr Baron … belieben vielleicht ein Spalier, bitte.«
»Lassen Sie mich hinaus, sage ich Ihnen«, wiederholte Ruprecht ruhig. »Und natürlich die schöne Frau Baronin – nein, das geht net, die Frau Baronin haben doch so viel für die Fahne gespendet, da dürfen S' jetzt net davonlaufen. Jetzt kommt's Beste. Jetzt kommt erst der G'spaß. Jetzt kommt die Einweihung von uns.«
Die Arbeiter hinter Rauß johlten. Der Maurerwenzel klatschte vor Vergnügen auf die Knie. Ruprecht von Boschan sah sich um. Die Ritterschaft seiner Frau stand erstarrt. In einigen zuckte es, aber die Bedenken klappten sogleich über alle Regungen der Tapferkeit zu: wenn sie jetzt losschlugen, dann war das Gemetzel da. Auf den Gesichtern der Bauern aber stand nur zu deutlich das Vergnügen an der Demütigung und Verhöhnung dieser Frau, gegen die sie ebenso sehr ihr Instinkt als die Weiber daheim aufgebracht hatten.
Da geschah etwas gänzlich Unerwartetes. Ruprecht hatte den Arm seiner Frau losgelassen und war an Rauß herangetreten, als wolle er ihm noch etwas sagen. Aber plötzlich fuhren zwei Fäuste los und wie stählerne Puffer in den Leib des Raufboldes hinein. Rauß schrie schmerzlich auf und krümmte sich zusammen, und im selben Augenblick auch packte Ruprecht schon den Arm seines Gegners, drehte ihn irgendwie nach hinten und warf den langen Kerl wie einen Sack über seine Schultern mitten in den Saal, gerade vor die Füße des Herrn Bezirkshauptmannes. Das war ein Kunstgriff des Dschiudschidsu aus dem zierlichen, trippelnden, geschmeidigen Japan.
Die Bauern staunten. So etwas hatten sie beim allerheftigsten Kirtag noch nicht gesehen.
Der Rauß lag stöhnend auf dem Boden. Und da wälzte sich auch schon ein zweiter, das war der Maurerwenzel, der als getreuer Adjutant seinen Chef hatte rächen wollen. Dann legte Ruprecht den Arm seiner Frau in den seinen und schritt über die Treppe hinab und durch den Heerbann der Genossen, die ihm nun ein Spalier nicht versagten.
Als sie über die Brücke kamen, von der die gewundenen Barockheiligen ihre zerfließenden Spiegelbilder im Wasser beschauten, staubte ihr Wagen hinter ihnen drein. Der Kutscher grinste und knallte seine Siegesfreude in die Welt. Ruprecht und Helmina stiegen ein, und gerade da kam von der anderen Seite ein Leiterwagen mit acht Gendarmen angefahren. Die zwei mageren Rößlein trabten, was sie konnten, und die Gendarmen hielten sich an den Sitzbrettern und Leitersprossen fest, um noch als ganze Männer in den Kampf zu kommen.
Aber ihre Arbeit war leicht und ihr Kampf rasch entschieden. Die Genossen sahen kaum die acht Korkhelme mit den blanken Spitzen und verspürten kaum die ersten überredenden Freundlichkeiten der Gewehrkolben, als sie auf den Rückzug bedacht waren. Mit dem hinkenden und winselnden Rauß und dem Maurerwenzel, dem eine dicke Beule über dem linken Auge klebte, in der Mitte fluteten sie nach dem Hotel Bellevue zurück.
Die rote Fahne fand man am andern Tag im Garten des Gemeindevorstandes, wo sie trübselig in einem Dornbusch steckte und nur noch mit einem ganz kleinen Zipfelchen wedeln konnte.
Das unterbrochene Bankett aber wurde wieder aufgenommen. Die Ochsenwirtin mußte wieder auftragen, was sie vorhin abgeräumt hatte, und jetzt hatte man erst den rechten Appetit. Nur der Mathes Dreiseidel hatte keinen mehr, denn als vorhin die Sache im Saal hitzig geworden war, hatte er sich hinter den Schüsseln her in die Küche geschlichen. Und da hatte er, um wenigstens etwas zu retten, eine Schüssel Schweinebraten mit Krautsalat so innig umarmt und ihr so heftig zugesetzt, daß nachher in seinem Innern für nichts anderes mehr Raum war.
Als Helmina mit Ruprecht ins Schloß gekommen war, hatte sie sich sogleich auf ihr Zimmer begeben und sich eingeschlossen. Sie wollte niemanden sehen. Sie war außer sich. Der Sieg Ruprechts über den Krakehler Rauß war ihr wie eine Niederlage ihrer selbst. Zwei vernichtende Schläge an einem Tag für sie. Zwei Triumphe für Ruprecht. Er hatte ihre Schlauheit durch seine Wachsamkeit und Vorsicht durchkreuzt. Und er hatte sie aus einer Angst – ja, es war eine zitternde Angst gewesen – emporgerissen. Sie hatte den deutlichen Beweis seiner wiedergewonnenen Kraft gesehen. Helmina wütete gegen sich. Am Nachmittag klopfte Lorenz an ihrer Türe und meldete, daß Herr Anton Sykora zu Besuch gekommen sei und sie zu sehen wünsche. Aber sie war krank, sie wolle auf ihrem Zimmer bleiben, sie bedauere … Es half Lorenz nichts, daß er den Ton seiner Meldung zur Bedeutsamkeit steigerte.
»Nein … nein … nein!« schrie Helmina, »er soll fortgehen. Ich will nicht!« Erst am Abend kam sie aus ihrem Bau. Ruprecht war den ganzen Tag über nicht an ihrer Tür gewesen. Er hatte ohne sie zur Nacht gespeist, mit den Kindern geplaudert und sie dann mit der Miß fortgeschickt. Nun saß er in einem schönen, bequemen Biedermeierstuhl, rauchte eine Zigarette und erwartete Helmina.
Sie kam. Stand in der Türe, ein zögernder Schatten. Dann trat sie ein und zog die Türe langsam hinter sich zu. Ein glimmender Punkt in der Dunkelheit zeigte ihr, wo Ruprecht saß. Sie näherte sich ihm langsam.
»Ruprecht!« sagte sie keuchend.
»Du bist es, Helmina«, seine Stimme klang gleichmütig wie immer.
Da fiel sie über ihn her, wütend, haßerfüllt, biß ihn in die Hand, saugte ihre Lippen an seiner Kehle fest. Ruprecht lächelte. Sie konnte dies Lächeln in der Dunkelheit nicht sehen. Aber sie fühlte es. Da preßte sie ihn noch wilder, als wolle sie dieses Lächeln töten.