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Sechzehntes Kapitel

Ein freundlicher Zufall hatte Ruprecht hinter ein allerliebstes Geheimnis gebracht. Ein Zufall, schwebend und neckisch wie ein Putto, dem er hätte Kußhände zuwerfen mögen. Ruprecht war im Kamptal ein Stück gegen die Ruine Schaumburg zu gefahren. Sie hatten neben einer morschen Waldbank haltgemacht, und Hedwig hatte allerlei kleine Notwendigkeiten aus ihrem Täschchen gekramt. Taschentuch und Spiegelchen und ähnliches mehr. Später am Tage war Ruprecht noch einmal allein zu dieser Bank zurückgekommen. Etwas trieb ihn immer dazu an: Geh hin! Und wie er so schlendernd näherkam, sah er ein winziges, schmales Buch dort liegen. Es war ein vergessenes Kalenderlein, und Ruprecht schlug es freudig auf, um zu sehen, ob Hedwigs Tage auch mit so ganz gewöhnlichen Zahlen und Namen bezeichnet waren wie die anderer Menschen. Ihm war, als müsse ihr Kalendarium etwas ganz Außerordentliches sein und als müßten ganz besondere Heilige durch ihr Jahr schreiten. Und da fand er ein Blatt, auf dem waren allerlei Tage herausgehoben, an denen man seinen Freunden etwas Liebes tun konnte. Der Name Ruprecht stand neben dem 27. März ganz obenan. Zuletzt aber stand ein Datum, und zu dem war vermerkt: »O weh – achtundzwanzig! Man wird alt!« Und dieses Datum lag nur drei Tage von dem heutigen Tag entfernt.

Ruprecht steckte das Kalenderlein zu sich und verriet nichts von dem entdeckten Geheimnis.

Die drei Tage verbrachte er in einem steten Lächeln. Nur wenn er mit Helmina beisammen war, dann wich die Freude aus seiner Seele. Er zog sich zusammen, um jede Berührung zu vermeiden. Ihr spöttisches Gesicht beachtete er nicht. Wenn er sie sah, dann erinnerte er sich an einen nächtlichen Gang durch vergessene Gewölbe und einen Blick durch eine Turmmauer. Und ein Grauen kam über ihn.

Am Morgen des Festtages lief er ganz zeitig in den Garten hinunter und raubte die allerschönsten Rosen von den Stöcken. Blaßgelbe und ganz weiße und lila überhauchte band er zusammen. Und zuletzt nahm er zögernd noch eine einzelne, ganz purpurdunkle dazu und tat sie in die Mitte.

Dann ging er in sein Arbeitszimmer und schrieb einen Brief.

 

»Liebe, liebe gnädige Frau! Wer mir gesagt hat, daß Sie heute Geburtstag haben? Nehmen Sie an, ein lieber Sommerwind oder eine weiße Wolke im blauen Himmel oder der Kamp, der mit mir sehr vertraut ist. Ich werde den guten Freund, der mir das gesagt hat, nicht verraten. Ich weiß sogar, wie alt Sie sind. Aber ich werde mich bemühen, es zu vergessen, wenn Sie es wünschen. An solchen Tagen ist man in Geberlaune, wenn man ein so guter Mensch ist wie Sie. Gewähren Sie mir also zwei Bitten: nehmen Sie diese Rosen und das kleine Kästchen, das sie begleiten, gütigst an. Und zweitens: kommen Sie nachmittags mit Ihrem Gatten zu uns auf das Schloß. Wir wollen Ihren Geburtstag ein wenig feiern, und das kann man besser im eigenen Heim als in einem Dorfwirtshaus, selbst wenn es so vortrefflich ist wie der ›Rote Ochse‹. Nicht wahr, Sie kommen? Ich möchte Ihnen heute sagen, wie dankbar ich Ihnen bin. Sie haben mein Leben ganz auf neue Gründe gestellt. Ich habe durch Sie eine neue Welt entdeckt. Ein großer Irrtum ist von mir abgefallen. Aus der schrecklich wirren Befangenheit der Sinne bin ich zur klareren Höhe gestiegen. Bis jetzt habe ich das Wesentliche des Lebens in der starren Behauptung des Ichs erblickt. Siegreich dazustehen, niedergeworfene Feinde unter mir zu wissen, die Knirschenden zu meinem Willen zu zwingen, mitten in Gefahren lächeln zu können, war mir der wertvollste Gewinn. Durch Sie aber habe ich nun erkannt: nicht dieser immerwährende Kampf ist der höchste Genuß des Lebens, nicht diese stets bereite Feindseligkeit, sondern die Lösung, das Hingegebensein … das verdanke ich Ihnen. Und heute muß ich es Ihnen sagen. Der Kampf und die Spannung sind zu Ende … Oh, Sie werden kommen, nicht wahr?

Ihr Ruprecht.«

 

Als er mit dem Brief zu Ende war, rief er den alten Johann. Der sollte Brief und Rosenstrauß und ein kleines Kästchen, in dem eine Schnur aus Perlen lag, Hedwig überbringen. Aber als der alte Johann schon draußen war, wurde er noch einmal zurückgerufen. Diesen Brief sollte Hedwig nicht erhalten. Er sprach allzu deutlich. Es war ein Geständnis und eine Anklage. Aus ihm stieg ein böser, giftiger Dampf. Nein, Ruprecht wollte diese Sommertage nicht trüben und Hedwigs klare Heiterkeit nicht verwirren. Er dachte, wie es sein würde, wenn sie Vorderschluder verlassen hätte. Da lag alles grau und eisig. Und darum wollte er jeden Tag der Gegenwart genießen und kein düsteres Fragen und Ahnen heraufbeschwören. Sie wußte ja auch schließlich ohne Worte, wie dankbar er ihr war. Und hatten ihn ihre Augen am Tage nach dem Wunder von Rosenburg nicht gebeten: nichts mehr davon?

Er zerriß den Brief in kleine Stücke und schrieb einen anderen mit leichtem Scherz bis zum Ende. Dann öffnete er das Kästchen und besah noch einmal die Perlen. Sie lagen groß, mattglänzend, in herrlicher Rundung auf lila Seide. Er hatte sie indischen Tauchern abgehandelt, und er fand, daß sie Hedwigs würdig waren.

Beim Frühstück teilte er Helmina mit, daß er das Ehepaar Gegely für Nachmittag eingeladen habe. Helmina lachte höhnisch auf, als sie erfuhr, daß Hedwigs Geburtstag gefeiert werden solle. Da bezwang sich Ruprecht nur mühsam, sie nicht vor den Kindern und Miß Nelson mit scharfen Worten anzugreifen. Ein Gedanke, der schon die ganze letzte Zeit über unruhig im Dunkeln gewandert war, trat auf einmal in grellem Licht hervor. Helmina war ja in seiner Hand. Er brauchte nur die Faust zu schließen, und sie war vernichtet. Aber sogleich schoß ihm ein heftiger Abscheu ein … er erhob sich und ging hinaus, fast verlegen, als könne man ihm vom Gesicht ablesen, wie erbärmlich er eben geworden war.

Gegen Mittag, als er gerade über den Hof ging, hörte er seinen Namen rufen. Er wandte sich um. Da kam Schiereisen hinter ihm drein, in einem schwarzen Gehrock ebenso eng eingeknöpft wie früher in seinem gelben Überzieher. Er sah rosig und vergnügt aus, von der Freude des Wiedersehens bewegt.

Da fiel es Ruprecht erst auf, daß er Schiereisen ja lange Zeit nicht gesehen hatte. »Eine ganze Ewigkeit, mein lieber Baron«, und der Gelehrte legte seinen Arm mit plumper Vertraulichkeit auf den Ruprechts, während die harmlosen blauen Augen fröhlich in die Welt schauten.

»Wo ich war?« plauderte er laut, indem er neben Ruprecht die Treppe hinaufstieg, »ja … ich bin meinen alten Kelten nachgezogen, ich habe eine Spur verfolgt. Mein Werk ist fast vollendet, ich habe prächtige neue Sachen entdeckt. Ich denke, man wird mit mir zufrieden sein.«

Dann saßen sie im indischen Zimmer. Die Gebetsmühle zog Schiereisens Blick auf sich. Er nahm sie von der Wand herab und ließ sie auf seinem Schoß klappern. Seine Freude war nicht bloß gespielt, er war Ruprecht wirklich herzlich zugetan.

»Sie sehen prächtig aus,« sagte er, »gesund und kräftig. Ich muß sagen, in der letzten Zeit meiner Anwesenheit haben Sie mir Sorgen gemacht. Aber Sie haben sich ganz vorzüglich erholt … Ja! Ich war in Deutschland und auch ein Stückchen in Frankreich drüben. Jetzt habe ich alles, was ich brauche.«

»Sie machen mich sehr neugierig auf Ihr Werk. Wann wird es erscheinen?« Schiereisen betrachtete die Gebetsmühle und las die vier Worte des buddhistischen Bekenntnisses von ihr ab: » Om mani padme hum … Ja, mein Werk! Wann es erscheinen wird? Ja, das hängt jetzt bloß noch von Ihnen ab.« Das sagte er mit plötzlichem Ernst.

Da wußte Ruprecht, daß die Entscheidung da war. »Von mir? Ich verstehe Sie nicht! Ich kann Sie doch in keiner Hinsicht unterstützen.«

Schiereisen beachtete die Abwehr nicht. »Doch – ich rechne auf Sie. Sie dürfen mir Ihre Mitwirkung nicht versagen. Ich kann Sie dazu auffordern, im Namen der Wahrheit und der Gerechtigkeit.«

»Halten Sie es für notwendig, mich so stark zu beschwören?« fragte Ruprecht, noch immer mit dem Versuch eines Lächelns.

»Ich möchte lieber mit Ihnen als ohne Sie an mein Ziel gelangen.«

»Sie müssen doch einsehen, daß ich Ihnen nicht helfen kann. Was verstehe ich von den alten Kelten?«

»Lassen wir doch jetzt die alten Kelten. Ich brauche Ihnen doch nicht zu sagen, daß es sich hier nicht um die alten Kelten handelt.«

Ruprecht schwieg. Es wäre lächerlich gewesen, die Taktik des Zurückweichens noch weiter fortzusetzen. Er fragte hart und fest: »Was wollen Sie also von mir?«

»Ich höre, Ihr Kammerdiener Lorenz ist fort.«

»Ja, er hat gekündigt und ist vor einigen Tagen auf seinen neuen Posten abgegangen.«

»Und Sie wissen nicht, wo er sich jetzt aufhält?«

»Nein … Ich habe ihn nicht danach gefragt. Ich lasse meine Leute gehen, wenn sie nicht mehr bleiben wollen – ohne sie zu belästigen.«

»Haben Sie sich keine Gedanken darüber gemacht, warum Lorenz gegangen ist?«

»Nein!« Und indem Ruprecht noch ein letztesmal dem Gespräch eine Wendung zu geben versuchte, fragte er: »Finden Sie wirklich den Abgang eines Dieners so wichtig?«

»Ja,« sagte Schiereisen, »der Abgang dieses Menschen ist sehr bedeutsam. Ich vermute, daß uns eine Überraschung bevorsteht.«

»Welche?«

»Ich weiß es nicht. Es ist sehr schade, daß wir ihn nicht mehr hier haben. Es ist mir ein geradezu unangenehmes Gefühl, ihn irgendwo in meinem Rücken zu wissen. Hat er vielleicht Verdacht geschöpft und sich rechtzeitig zurückgezogen? Ich hätte ihn lieber hier unter meinen Augen, damit ich ihn beobachten kann.«

»Sie sprechen wie ein Dompteur von einem bösartigen Tier.«

»Lieber Baron, wir wollen doch ganz aufrichtig sein. Ich glaube, daß Sie Vertrauen zu mir haben. Muß ich mich erst legitimieren? Sie wissen doch ebensogut wie ich, daß dieser Lorenz Ihren Diener Jana ermordet hat. Wenn ich ihn damals nicht gleich unschädlich gemacht habe, so ist es nur deshalb nicht geschehen, weil ich noch eine größere Aufgabe zu lösen hatte. Ich wollte mir nichts verderben.«

»Was hat Sie darauf gebracht, daß Lorenz einen Mord begangen hat?«

Schiereisen hatte darauf gerechnet, wenn er ohne Umschweife sprechen und sich enthüllen würde, Ruprecht ebenso offen und vertrauensvoll zu finden. Nun sah er sich in der Lage eines Menschen, der einem anderen ein weites Stück Weges entgegengeht, ohne daß dieser Miene macht, sich von seinem Platz zu rühren. Er begann zu bedauern, daß er seine Maske nicht behalten hatte. Ärgerlich sagte er: »Wollen Sie mir freundlichst einen Augenblick genau folgen. Sie werden zugeben, daß meine Vermutungen begründet sind und meine Schlüsse richtig. Ihr Diener Jana verunglückt unter sonderbaren Umständen. Die Gerichtskommission untersucht den Fall und findet nichts weiter Bemerkenswertes. Jana ist nachts durch eine hölzerne Brücke in einem entlegenen Teil des Schlosses durchgebrochen. Ein junger, geschmeidiger Mensch, der im Augenblick eines solchen Unfalles gewiß so viel Geistesgegenwart besessen haben muß, um einen Versuch zu seiner Rettung zu machen, sich noch im letzten Moment irgendwo festzuhalten. Das ist doch sonderbar – nicht? Übrigens, hätte man nicht einen Schrei hören müssen, den Aufschrei eines Stürzenden …? Ich habe jene unglückselige Brücke untersucht. Nun gut: Sie waren dabei und müssen einiges von dem bemerkt haben, was auch mir aufgefallen ist. Eine Spur von Sägemehl war da, und ein Kind könnte daraus schließen, daß jener Unfall absichtlich herbeigeführt worden ist. Man hat die allerdings schon etwas vermorschten Bretter durchgesägt. Aber das ist nicht alles. Ich habe eine Stelle auf dem alten Holz gefunden, die vom Staub befreit und offenbar vor ganz kurzer Zeit mit Wasser gereinigt worden war. Zu welchem andern Zweck, als um eine Spur zu beseitigen? Welcher Art diese Spur gewesen sein muß, hat mir ein winziges Zeichen gewiesen. Ein kleiner Blutspritzer, der auf dem dunkeln Holz übersehen worden war. Ihre Erfahrungen als Jäger und Reisender sind meine Bundesgenossen. Sie können nicht so tun, als verstünden Sie mich nicht. Wie kommt bei einem solchen Unfall eine Blutspur an die Absturzstelle, wenn nicht dem Absturz selbst ein Kampf, ein Mord vorhergegangen ist? Müßte sich sonst nicht das Blut ausschließlich auf den Steinen unterhalb der Brücke gefunden haben? Wenn man dies alles zusammenhält, so kann man zu keinem anderen Schluß kommen, als daß Jana erschlagen worden ist und daß man ihn von der Brücke gestürzt hat, um den Anschein eines Unfalles zu erwecken. Nun entsteht die Frage nach dem Täter. Aus welchem Grund kann der Malaie ermordet worden sein? Er war Ihnen sehr ergeben. Seine Tugenden waren – wie Sie mir einmal erzählt haben – vor allem Treue und Verschwiegenheit. Er kam sozusagen nicht als eigene Persönlichkeit, sondern nur als Werkzeug in Betracht. Er war … eine Projektion Ihres Willens, eine Verlängerung Ihres Armes. Ein Streich gegen ihn richtete sich also unmittelbar gegen Sie. Man hat Sie treffen wollen, indem man ihn verhinderte, einen Auftrag auszuführen, den er von Ihnen erhalten hat.«

»Halt!« sagte Ruprecht, »der Schluß ist falsch!« Von dem wunderbar präzisen, stählern geschienten Denken hingerissen, empfand Ruprecht nur die Lust kraftvoller Naturen an einem gefahrvollen Spiele. Er vergaß ganz, daß er an diesen Vorgängen selbst so sehr beteiligt war. Er sah sich selbst als Objekt unter anderen.

Schiereisen aber konnte lächeln. Er nahm voll Genugtuung wahr, daß er Ruprecht gebannt hatte. Indem der Baron an dieser Stelle seinen Einwurf machte, bekannte er, daß das übrige richtig war. »Gut!« fuhr Schiereisen fort: »er hat also nicht in Ihrem Auftrag gehandelt. Das ist aber nicht so entscheidend. Sicher aber hat er seinen nächtlichen Gang nur in Ihrem Interesse unternommen. Ob Sie nun davon gewußt haben oder nicht. Welches Interesse aber konnten Sie daran nehmen, daß Jana nachts in dem entlegensten Teil des Schlosses herumstrich? Er ist durchaus ehrlich gewesen. Man kann also nicht annehmen, daß er irgendwelche unsauberen Absichten gehabt hat. Von einem Liebesabenteuer kann ebensowenig die Rede sein. Ich weiß, daß er die Mädchen des Schlosses und des Dorfes, die ihm recht freundlich gesinnt waren, verschmäht hat. Es bleibt also bei dem, was ich gesagt habe. Er ist für Sie irgendwo hingegangen. Warum aber bei Nacht und heimlich? Das wissen wir nicht, es ist ein Geheimnis, wir wollen an seine Stelle vorläufig ein großes X setzen. Darf ich Sie um ein Glas Wein bitten?«

Während Ruprecht den alten Johann herbeirief und ihm seinen Auftrag gab, ging Schiereisen im Zimmer auf und ab. Er war erregt, die Gedanken liefen leicht und glatt ab. Er trank das halbe Glas auf einen Zug aus und setzte dann fort.

»Während also Jana in Ihrem Interesse, wenn auch nicht in Ihrem Auftrag, einen nächtlichen Gang unternimmt, wird er erschlagen, dem Mord aber wird der Anschein eines Unfalles gegeben. Nun aber kommt die berühmte Kriminalistenfrage: cui bono? Zu wessen Gunsten oder Vorteil? Offenbar nur zu dem eines heimlichen Feindes, dem daran liegt, die Auflösung des großen X zu verhindern, das Geheimnis zu bewahren oder, falls es schon entdeckt sein sollte, den Entdecker zu beseitigen. Es ist ein heimlicher Feind, sage ich, jemand, der Ihnen selbst nachstellt, ohne daß Sie es wissen. Oder – wissen wollen? Jemand aus Ihrer Umgebung, der verhindern will, daß Sie in den Besitz jenes Geheimnisses kommen. Es muß also immerhin ein gefährliches Geheimnis gewesen sein, denn schließlich ist ein Mord doch das Äußerste und wird nicht ohne Not gewagt. Wenn Sie nun unter den Menschen Ihrer Umgebung Umschau halten, so wird Ihnen sogleich niemand anders als Lorenz auffallen.«

»Verzeihen Sie, dem unbefangenen Beobachter ist das durchaus nicht so einleuchtend.«

»Nicht? Jana ist mit einem stumpfen Instrument erschlagen worden. Das war schon deshalb nötig, um nachher keine auffallenden Unterschiede zwischen den ursprünglichen Wunden und den durch den Sturz hervorgerufenen Verletzungen zu haben. Ich habe mir den Leichnam Ihres Dieners in der Totenkammer angesehen. Die Verletzungen durch den Sturz, ein Beinbruch und ein Rippenbruch, sind verhältnismäßig geringfügig gewesen. Absolut tödlich war nur ein Schädelbruch am Hinterkopf, der bei einem Sturz aus so geringer Höhe niemals so hätte ausfallen können. Er rührte vielmehr von einem mit ungeheurer Wucht geführten Schlag mit einer Hacke her. Der Arm, der diese Hacke geführt hat, muß eine wilde Kraft besessen haben. Niemand als ein außerordentlich starker Mensch, ein Athlet, konnte es wagen, Ihren Jana, der ein geschmeidiger, sehniger Bursche und dazu auf seinem heimlichen Weg sehr vorsichtig und wachsam gewesen sein muß, mit einem Instrument anzugreifen. Unter Ihrer gesamten Dienerschaft ist niemand, dem diese Kraft und brutale Wucht zuzutrauen ist, als Lorenz. Nun nehmen Sie folgendes hinzu. Janas Leichnam wird durch jene alte, halb verrückte Dienerin in frühester Morgenstunde aufgefunden. Als zweiter aber ist Lorenz da. So rasch und zu einer so frühen Stunde, wie er sonst niemals aufzustehen pflegte. Ich habe in Erfahrung gebracht, daß er fast völlig angekleidet war. Was tut er? Er beseitigt noch vor dem Eintreffen der Gerichtskommission die herabgebrochenen Bretter. Ist das nicht sonderbar? Fügen Sie an alles das den Umstand an, daß aus dem Zimmer dieses Lorenz eine versteckte Treppe unmittelbar auf den Gang vor der hölzernen Brücke führt. Und das letzte Glied in meiner Kette ist dieses: Lorenz hat am Tag vor Janas Ermordung eine Holzhacke aus dem Keller geholt.«

»Woher wissen Sie das?«

»Ich habe keinen Grund mehr, es Ihnen zu verbergen. Ich weiß es von dem alten Johann, der mir in seiner Harmlosigkeit viele wertvolle Mitteilungen gemacht hat. Er war eben zugegen, als Lorenz um die Hacke kam. Er wolle ein losgegangenes Fußbodenbrett in seiner Kammer festnageln, sagte er. Lorenz wollte zuerst der Magd, die eben dabei war, Holz zu spalten, ihre Hacke wegnehmen. Dann begnügte er sich mit einer anderen, älteren, die nicht mehr in Gebrauch stand, weil sie den Mägden zu schwer war. Sie war ganz verrostet, und es fiel dem Mädchen auf, daß der Rostbelag am nächsten Tag fast völlig entfernt war, als habe sich Lorenz Mühe gegeben, die Hacke blank zu putzen.«

»Sie glauben also, daß Lorenz meinen Jana erschlagen hat? Ich weiß nicht, ob ich Ihnen in allem zustimmen soll.«

Schiereisen trat vor Ruprecht hin und sagte mit einem festen Blick in seine Augen: »Wehren Sie sich nicht gegen diese Einsicht, Herr Baron. Sie wissen es doch schon längst.«

»Und warum sollte Lorenz das getan haben?« Ruprecht verschanzte sich gegen den Bedränger hinter die Schwierigkeiten der Antwort auf diese Frage.

»Hier stoßen wir wieder auf das noch ungelöste X, auf das Geheimnis. Ich muß gestehen, daß mir noch selten eine Sache, die mir in ihren Grundlagen vollkommen klar war, in ihren Einzelheiten so viel Mühe gemacht hat.«

»Aber nun … nun sind Sie am Ziel?« fragte Ruprecht. Seine Kehle war ganz trocken, als ob er Wüstenluft geatmet hätte. Er trank rasch ein Glas Wein. Er sah etwas unaufhaltsam näherkommen, ein noch ungeformtes, monströses Etwas, eine bedrohliche Wolke, in der das Gericht verborgen war.

»Ich werde Ihnen wenig Neues sagen, Herr Baron! Ich weiß, daß sie den größten Teil davon wissen oder ahnen. Und ich bitte Sie um Vergebung, wenn ich durch meinen Beruf gezwungen bin, Ihnen Enthüllungen zu machen, die für Sie schrecklich sind. Aber ich schätze Sie zu sehr. Ich will nichts tun, ohne Ihnen vorher Rechenschaft über meine Gründe gegeben zu haben.«

»Sprechen Sie nur«, sagte Ruprecht. »Sie werden mir nachher wohl auch Aufklärung darüber geben, in wessen Auftrag Sie sich so sehr bemüht haben.«

»Ich sehe daß Sie erbittert sind. Sie verachten mich. Aber ich bemühe mich, Sie zu verstehen. Es könnte manchem unbegreiflich erscheinen, daß Sie so lange geschwiegen haben, so lange, daß … nun, wir wollen davon nicht sprechen. Ich wage es aber, auf eine Verwandtschaft in uns beiden hinzuweisen. Ihnen wie mir ist es Lust und Bedürfnis, den Menschen und den Dingen überlegen zu sein. Bei mir zeigt sich das darin, daß ich es versuche, Menschen und Dinge zu durchdringen; ich will ihnen ihre Geheimnisse entreißen, ich will ihre Heimlichkeiten aufdecken.«

Oh, diese Lust ist fort, dachte Ruprecht, ich weiß nichts mehr davon.

»Ich verfolge jeden Kriminalfall in den Zeitungen mit großer Aufmerksamkeit. Ich sammle alles, was ich an Nachrichten über die handelnden Personen und die Ereignisse auftreiben kann, Jede Figur eines solchen rätselhaften Dramas bekommt ihren eigenen Aktenfaszikel, und ich ruhe nicht, bis ich alles weiß, was dazu dienen kann, mir ihren Charakter ganz klar zu machen. Dann setze ich die Personen wie Schachfiguren im Sinne der Ereignisse in Bewegung und lasse sie aus ihrem Charakter heraus aufeinander wirken. Das ist meine Methode, und der Erfolg ist selten ausgeblieben. Da habe ich unlängst einen ungemein fesselnden Fall verfolgt. Eine echt amerikanische Geschichte …«

»Ich bitte Sie, sprechen Sie nicht unter einer Maske. Nehmen Sie keinen fremden Fall vor. Erzählen Sie mir, was Sie hier gefunden zu haben glauben.«

»Es ist mir lieber, wenn Sie es mir gestatten. Ich sage Ihnen nichts Neues, wenn ich Ihre Aufmerksamkeit darauf hinlenke, daß Sie Frau Helminas vierter Gatte sind.«

Ruprecht nickte. Die drohende Wolke war herangerückt.

»Frau Helminas erster und zweiter Mann sind nach sehr kurzer Ehe gestorben. Herr Dankwardt war ungefähr sechs Jahre mit ihr verheiratet. Nehmen Sie nun einmal an – irgend jemand hätte den Verdacht gefaßt, daß … wir wollen vorläufig diesen Verdacht nur als eine dumpfe Ahnung, ein schleichendes Mißtrauen setzen … daß Frau Helmina sich ihrer Männer entledigt habe. Vor allem gilt dieser Verdacht dem Tode des Herrn Dankwardt.«

»Ich verstehe, Sie sind von seinen Verwandten beauftragt.«

»Ja. Ich mußte mir also vor allem ein Bild von Frau Helminas Persönlichkeit machen. Ich mußte in ihre Vergangenheit hinabsteigen. Wieviel Ihnen davon bekannt ist, weiß ich nicht.«

»Nicht viel. Sie stammt aus einer bescheidenen Familie. Sie war Konservatoristin, dann starb der Vater, das Geld ging aus. Sie wurde in einem Bureau angestellt.«

»Wir wollen uns nicht an Einzelheiten verlieren, Herr Baron.«

Ruprecht nickte.

»Hören Sie mich ruhig an! Ich kann Ihnen später die Beweise für meine Behauptungen vorlegen, wenn Sie es wünschen. Ihre Gemahlin ist eine ganz außergewöhnlich kluge Frau. Sie hat Takt, Geschmack und sicheres Stilgefühl. Sie hat sozusagen inneren Rhythmus. Sie gehört zu den Menschen, die für ihre Umgebung Lichtbringer sind, die, wenn sie lächeln, Freude verbreiten und, wenn sie lieben, für alles andere auf der Welt blind machen.«

»Sie halten mich wohl für noch nicht genug vorbereitet, Herr Schiereisen?«

»Ich weiß, daß Sie Ihre Frau lieben. Trotz allem – was … Ihnen vielleicht schon – aufgefallen sein dürfte. Es wird mir sehr schwer, Ihnen alles zu sagen. Meine Nachforschungen haben ergeben, daß Frau Helmina aus ganz kleinen Verhältnissen herkommt. Damit hat sie die Wahrheit gesagt. Ich weiß, daß Sie keine aristokratischen Vorurteile haben. Sie würden sich daran nicht stoßen. Aber Helmina ist bald aus dem beschränkten Leben ausgebrochen. Erlassen Sie mir Details. Sie begann kräftig anzusteigen. Sie verlor sich nicht an das leichte Leben, wie so manche andere, der das Vergnügen macht. Vor Helmina war ein anderes Ziel. Und die Jahre ihrer öffentlichen Schaustellung waren nur Mittel. Übrigens hat sie sich gehütet, in Deutschland und Österreich aufzutreten. Frankreich, Spanien und Rumänien waren ihre Gebiete. Als ihr Manager reiste ein gewisser Anton Sykora mit ihr.«

»Anton Sykora … ist das nicht …?«

»Ja, Herr Baron, der Inhaber des Heiratsvermittlungsbureaus ›Fortuna‹ in Wien. Übrigens muß ich betonen, daß meine Nachforschungen ergeben haben, daß Frau Helmina überall, nicht bloß durch ihre Schönheit, sondern auch durch ihre tadellose Aufführung aufgefallen ist. Die Besitzer der Etablissements, in denen sie aufgetreten ist, erinnern sich noch immer mit Verwunderung daran. Sie haben es für einen ausgezeichneten Trick gehalten. Was Frau Helmina erwartet und beabsichtigt, geschieht. Ein reicher Industrieller verliebt sich in Bukarest in sie. Er glaubt nicht an Helminas Tugend. Aber alle Welt bestätigt sie ihm. Und er sieht an seinen eigenen Niederlagen, daß diese Tugend unerschütterlich ist. So wird Herr Hellpach Helminas erster Mann. Er kann seine Frau nach Österreich bringen. Hier kennt sie niemand. Er kauft dieses Schloß und richtet sich fürstlich ein. Und Frau Helmina paßt sich so vollkommen an, daß niemand ihre Herkunft erraten könnte. Die adeligen Herrschaften der Umgebung freilich sind bis auf den heutigen Tag mißtrauisch geblieben. Und nun geben Sie acht, Herr Baron. Nach einigen Monaten macht Herr Hellpach seine alljährliche Alpenreise. Er war ein leidenschaftlicher Hochtourist und machte seine Besteigung immer führerlos. Frau Helmina bleibt in Bozen zurück, sie fühlt sich nicht ganz wohl. Herr Hellpach aber unternimmt eine kleine Wanderung in die Dolomiten. In Sankt Ulrich im Grödner Tal schließt sich ihm ein Herr an. Sie besteigen miteinander die Marmolata. Hellpach stürzt ab; das lockere Geröll auf einem schmalen Band gibt nach, und er fällt zweihundert Meter tief in eine Schlucht. Sein Begleiter bringt die Nachricht ins Tal. Frau Helmina ist Witwe und Erbin.«

»Ich weiß, Herr Schiereisen. Ein Unglücksfall! Was wollen Sie damit sagen?«

»Es ist ein Unglücksfall von der Art, wie er Jana betroffen hat, Herr Baron.«

»Ihr Beruf bringt Sie darauf, solche Hypothesen aufzustellen.«

»Ich begreife, daß Sie wünschen, es seien Hypothesen. Aber meine Vermutungen haben Kopf und Fuß. Sie halten sich an den Händen und bilden eine Kette. Hören Sie mich weiter an. Ich habe jetzt Herrn Hellpachs damaligen Weg verfolgt und seine Spuren aufgesucht. In meiner Brusttasche hatte ich zwei Bilder. Eines war das des Herrn Hellpach. Ich habe diese Bilder den Gastwirten und Hoteliers vorgezeigt, bei denen er damals eingekehrt ist. Sie haben in meinen Photographien Hellpach und seinen Begleiter wiedererkannt. Gastwirte haben von Berufs wegen ein scharfes Gedächtnis für Physiognomien. Bezüglich Hellpachs waren sie alle einig. Über den anderen gingen die Meinungen auseinander. Die einen behaupteten, er sei es … die anderen haben gezögert und erklärt, das Bild habe nur eine große Ähnlichkeit mit jenem anderen Herrn.«

Ruprechts Erregung trieb ihn von seinem Sitz auf. »Nun und …?«

»Das Bild, das ich den Leuten dort unten gezeigt habe, war eine Photographie des Herrn Anton Sykora … Sie verstehen meinen Gedankengang. Es war also vielleicht nicht Herr Sykora selbst, aber sicher jemand, der ihm sehr ähnlich sah. Jeder bestätigte mir, daß er ein Riese gewesen sei, breitschultrig, mit einem Stiernacken. Sie haben Anton Sykora vor kurzem kennengelernt. Haben Sie nicht eine Ähnlichkeit mit jemandem herausgefunden … mit jemandem …?«

Ruprecht sah starr in Schiereisens stahlblaue Augen: »Mit Lorenz …« sagte er, »ja, ganz gewiß – mit Lorenz. Jetzt erst …«

Schiereisen nickte zufrieden: »Es geht uns schon manchmal so, daß wir erst nachträglich hinter solche Zusammenhänge kommen. Wenn einer da ist, der den Finger darauf legt. Also Hellpachs Begleiter damals war entweder Anton Sykora selbst – oder wahrscheinlich – Lorenz. Auf jeden Fall wollen wir nun festhalten, daß Frau Helmina Witwe und Erbin war. Kurze Zeit nach dem Tode Hellpachs taucht Anton Sykora in Wien auf. Er ist im Besitz von reichen Geldmitteln, kauft zwei Häuser und richtet sein Heiratsbureau ein. Hier auf Schloß Vorderschluder aber nimmt Frau Helmina einen neuen Diener auf: unseren Lorenz.«

Vor Ruprechts Augen flimmerte es, als ob er die Bilder der Ereignisse in einem Kinematographentheater sähe.

»Den folgenden Winter bringt Frau Helmina in Wien zu. Sie macht neue Bekanntschaften, wird viel umworben, und endlich geht Herr Hickel, ein wohlhabender Großgrundbesitzer aus Ungarn, als Sieger und Helminas zweiter Gatte hervor. Sie bestimmt ihn, seine Latifundien zu verkaufen und sich nach ihrer Anleitung an Börsengeschäfte zu wagen. Sein Glück ist von noch kürzerer Dauer. Ich habe über diese Ehe wenig in Erfahrung bringen können. Sie war kurz und stürmisch. Nach einem heftigen Streit mit Helmina fand Lorenz ihren Gatten in seinem Zimmer tot auf. Er war vom Schlag getroffen worden.«

»Wollen Sie auch hier ein Verbrechen finden?«

Schiereisen zuckte die Achseln: »Ich sage Ihnen ja, daß ich nichts Gewisses erfahren konnte. Der alte Johann kam erst mit Helminas drittem Gatten auf das Schloß. Vor dieser Ehe liegt eine Witwenschaft von zwei Jahren.«

Ruprecht atmete auf.

»Helminas Beziehungen zu Anton Sykora waren indessen nicht abgebrochen. Er kam ja noch zu Herrn Dankwardts Zeiten als dessen Bekannter auf das Schloß. Und er hat sich in der Zwischenzeit bemüht, für seinen Schützling einen neuen Gatten zu finden. Drei ernste Bewerber kamen in Betracht.«

»Woher wissen Sie das alles?«

»Ich habe vor kurzem selbst Sykoras Vermittlung in Anspruch genommen. Dabei habe ich mir erlaubt, einige Indiskretionen zu begehen. Ich habe mir Abschriften seiner Listen aus der kritischen Zeit verschafft. Ein kleiner, unbemerkter Diebstahl, eine Nacht rasender Arbeit: am Morgen waren die Listen wieder an ihrem Platz. Sie können sich denken, daß ich gründlich vorgegangen bin. Ich habe über jeden einzelnen Kandidaten Nachforschungen angestellt und habe eine Menge gleichgültiger Lebensläufe verfolgt. Nur drei von diesen Lebensläufen enden für mich in einem Geheimnis.«

»Sie wollen doch nicht sagen, daß es möglich ist … jeder von uns ist doch rings von … ich weiß nicht, warum ich Ihnen überhaupt zuhöre? Ihre Kombinationen sind falsch.«

»Sie müssen noch ein bißchen Geduld haben. Ich bin gleich zu Ende. Sie wollen sagen, daß es in unseren geordneten Staaten unmöglich ist, daß Menschen wie in einer Versenkung verschwinden. Oh, es ist gar nicht so schwer. Nehmen Sie einmal an, daß man jemanden in eine höchst wichtige Angelegenheit verwickelt, die vollkommenes Schweigen erfordert. Er muß in dieser Angelegenheit eine Reise unternehmen, man macht es ihm zur Pflicht, sich eines anderen Namens zu bedienen. Er darf nicht einmal seiner Umgebung mitteilen, wohin er reist. Die drei Kandidaten von Sykoras Liste, deren Spuren ins Dunkel führen, sind Ausländer. Ein Franzose und zwei Norddeutsche. Alle drei wohlhabende ältere Herren, die es nicht nötig hatten, ein Heiratsvermittlungsbureau aufzusuchen. Aber Sykora ist ein tüchtiger Geschäftsmann. Ich bewundere ihn. Er hat sich auf seinen Reisen seine Kunden selbst gesucht. Nehmen Sie an, er hätte eine so entzückende Frau unter seinen Heiratslustigen, daß ein älterer Herr sogleich Feuer fängt. Aber es ist eine vornehme Dame und darf nicht kompromittiert werden. Ihre persönliche Bekanntschaft muß unter allen Vorsichten gemacht werden. Und dann – es ist nötig, sich mit einem Bankguthaben zu legitimieren. Denn die schöne Frau ist verwöhnt … sie liebt es, Geld auszugeben … sie will sicher sein, nichts entbehren zu müssen.«

»Sie sehen, ich bin ruhig. Sagen Sie mir also, was Sie noch an Hypothesen haben.«

Schiereisen schwieg bedrückt. Er zögerte, zum Schluß zu kommen. Die ganze Lust an dem Aufbau seiner Brücken war ihm genommen. Aber, es mußte sein: »Ich habe die Spuren jener drei Kandidaten an ihrem Ausgangspunkt aufgenommen. Und weil ich ihr Ziel gewußt habe, so ist es mir gelungen, ihnen nachzugehen. Sie leiten nach Vorderschluder, und hier verschwinden sie.«

Ruprecht blieb ganz besonnen und kalt. In Augenblicken großer Gefahr klangen seine Nerven wie dünner Stahl. »Sie haben also die Spur hier verloren?«

»Ich habe sie nicht verloren. Sie ist hier zu Ende. Drei Menschen sind auf Ihrem Schloß verschwunden, Herr Baron. Gerade jene von der Liste des Herrn Anton Sykora, denen Frau Helmina bestimmt war. Man hat für sie einige Tage nach ihrer Abreise Gelder behoben … zu einer Zeit, wo sie schon tot sein mußten. Auf Schecks von ihrer Hand, die ganz ordnungsgemäß ausgefüllt waren. Das ist das Geheimnis Ihres Schlosses, Herr Baron.«

Und Schiereisen stand auf und ging an Ruprecht vorbei, auf den Buddha in der Ecke zu. Und mit dem Rücken gegen Ruprecht gewendet, sagte er leise, indem er die bronzene Haut des Buddha streichelte: »Wir sind nun von der anderen Seite her zu demselben Punkte vorgedrungen, bei dem wir vorhin unsere Untersuchung aufgegeben haben. Das Geheimnis, das wir hier berühren, ist dasselbe wie jenes, das Jana sein Leben gekostet hat. Man hat in ihm einen gefährlichen Neugierigen beseitigt. Meine Straße ist vollendet, die Verbindung ist hergestellt. Ich überlasse es Ihnen selbst, Ihre letzten Schlüsse zu ziehen.«

Die eingesperrte Luft des indischen Tempels schien schwer atembar und wie mit einem bösartigen, grünlich schimmernden Gas gemengt. Ruprecht öffnete ein Fenster zwischen zwei gemalten Palmstämmen. Mittag war schon längst vorüber. Der Schatten des Zeigers auf der Sonnenuhr drüben auf dem Torturm kletterte schon wieder das Zifferblatt hinan. Ein leichter Wind trieb graue Wolkenklumpen über den Himmel. Wenn ein Schatten über das Schloß hinglitt, so schwand das dünne, schwarze Stäbchen zwischen den römischen Zahlenzeichen ins Wesenlose. Im Winde kam ein heller, dünner Klang von den Sommerwiesen herüber. Ein Klang von Sensen, die mit dem Wetzstein geschärft werden. Heumahd! Hochzeitsjubel der Welt! Duftigstes Erschließen! Trinken mit allen Poren!

Ruprecht dachte gar nichts, er zog keine Schlüsse. Er sank mitten in allen diesen Tönen und Farben des Sommers, wie in einer hellen Flüssigkeit.

Er fühlte eine Hand auf seiner Schulter.

Schiereisen stand da: »Nehmen Sie es doch nicht so schwer, lieber Baron. Ich habe lange gezögert, zu sprechen. Eine Zeitlang, nachdem ich Sie kennengelernt hatte, habe ich es bedauert, daß ich diese Aufgabe übernommen habe. Dann aber bin ich wieder recht froh darüber geworden … Ein anderer …«

»Zu welchem Zweck haben Sie es mir überhaupt gesagt?«

»Sie sollen aus einem schweren Traum erwachen. Ich bin gewiß, daß Sie sich mit Gedanken über die sonderbaren Zufälle gequält haben, von denen Sie selbst betroffen worden sind. Das geht doch nicht so weiter. Ich höre jemand im Schlafe neben mir stöhnen. Ich rüttle ihn an der Schulter. Das ist es. Und wenn Sie sich gefaßt haben werden, so erwarte ich von Ihnen die Erfüllung meiner Pflicht. Ich erwarte Ihre Unterstützung.«

»In welcher Hinsicht?«

»Ich erwarte nur die Beantwortung einer Frage. Wir haben noch gar nicht von Herrn Dankwardt gesprochen, ihrem letzten Vorgänger. Ich habe mir nach den Beschreibungen Johanns ein Bild von seinem Tode gemacht. Er ist unter Erscheinungen gestorben, deren Beginn ganz genau der gleiche war wie jene Krankheit, von der Sie vor einiger Zeit befallen worden sind. Sie sollen mir Andeutungen machen, welcher Art …«

Ruprecht stützte die Arme hinten auf das Fensterbrett und sah Schiereisen ruhig entgegen: »Ich hoffe von Ihnen, daß Sie es selbstverständlich finden, wenn ich Ihnen jede Antwort verweigere.«

Schiereisen nickte: »Ich habe es mir gedacht!«

»Dazu kann mich das Gesetz nicht zwingen. Ich fühle keine Verpflichtung dazu in mir. Was noch wichtiger ist als der Zwang des Gesetzes! Und übrigens – ich … ich glaube Ihren ganzen Vermutungen nicht. Ich halte Ihre Schlüsse für gebrechlich. Ihre ganzen Ableitungen sind verfehlt. Nirgends geben Sie Gewißheiten.«

Das wäre kränkend für Schiereisen gewesen, wenn er nicht gewußt hätte, daß dies nur eine rasch aufgeworfene Schanze war. Und er bewunderte die Widerstandskraft dieses Mannes, den starken Mut, der diesen Eröffnungen standhielt. Ein anderer wäre zusammengebrochen, Ruprecht stand aufrecht da. Und er hatte die Überwindung, zu sagen: Ich glaube Ihnen nicht.

»Ich begreife,« entgegnete er nach einer Pause, »Sie lieben Ihre Frau. Aber ich wollte Sie von einer so gefährlichen und schmerzlichen Leidenschaft befreien.«

In diesem Augenblicke schien ein Sturm Ruprechts Fassung zu erschüttern. Das Wort befreien traf ihn wie ein Stoß. Etwas barst in ihm, er blickte in eine helle Landschaft, wie wenn in einem dunkeln Raum plötzlich eine Wand gesunken wäre. Alles dieses wirkte zusammen, Erschütterung, Aufbrechen eines Schlosses, Helligkeit: und stieß und drängte ihn. Hier war der Wendepunkt, hier lag die Entscheidung. Wenn er jetzt sprach, so war er frei.

Aber er griff wie mit beiden Händen in sein eigenes Fleisch. Er stülpte sich um, vor Angst, zu unterliegen, wenn er nicht irgend etwas Gewaltsames unternähme. Sein Kopfschütteln bedeutete Schiereisen, daß Ruprecht nicht sein Bundesgenosse war.

»So mußte es kommen,« sagte der Detektiv, »Sie … können nicht anders, wenn Sie der Mann sind, den ich verehre. Ich war dumm genug, einen Moment lang etwas anderes zu hoffen. Mir aber verzeihen Sie, wenn ich noch bis zu Ende gehe. Ich muß meine Pflicht erfüllen. Ich habe mich in Ihre Hand gegeben, ich habe Ihnen alle meine Karten gezeigt. Handeln Sie, wie Sie es für gut befinden. Ich werde mich mit einer Erschwerung meiner weiteren Nachforschungen abfinden müssen.«

Zögernd reichte er Ruprecht seine Hand hin.

Aber Ruprecht schlug sogleich ein und sah Schiereisen dabei voll in die Augen. Dann wandte er sich ab, und der Detektiv verließ das indische Zimmer.


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