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Der Hügel, den das Ehepaar Ter Meer hinaufstieg, nachdem es bei einer Haltestelle nahe Eastbourne die Bahn verlassen, hieß noch aus Puritanerzeit Mount Zion. Eine verfallene Windmühle krönte ihn. Sie hatte längst nichts mehr zu mahlen. Denn in England wuchs kaum mehr Korn. Fronvölker bauten es in der Ferne. Getreideflotten brachten es wie dem alten Rom über See. Im Frieden. Jetzt war Krieg. Wenn man jetzt auf der Spitze des Mount Zion stand und auf das schaumgekrönte Blau des Kanals hinabschaute, dann sah man unten sein Werk. An zwei, drei Stellen starrten draußen aus den wandernden Wellen die Mastenspitzen versenkter Schiffe oder staken, von weißem Möwengeflatter umkreischt, die Rümpfe, unförmlich wie gestrandete Walfische, zwischen den Kreideklippen der Brandung.
Ein Schwarm englischer Jungen war damit beschäftigt, von der Höhe des Mount Zion im Wettbewerb Steine nach dem Wrack eines tief unten zerschellten Dreimasters zu schleudern. Es waren urbritische, acht- bis zehnjährige Boys mit weißen Klappkragen und bloßen, semmelblonden Köpfen. Einer von ihnen rannte, als er das Ehepaar Ter Meer erkannte, ihnen stürmisch entgegen und begrüßte auf englisch Vater und Mutter. Er nahm sich kaum die Zeit, sich von ihnen küssen zu lassen. Dann berichtete er voll Feuereifer: »Well! Seit ihr vor vier Wochen da wart, bin ich der Drittbeste unter den Boys geworden!«
»Bei Mr. Pilgram, Jan?«
»O nein! Im Steinwerfen nach der ›Diamond Jubilee‹ da unten. Vorhin hab ich sie wieder getroffen.«
Er wies nach dem zerbrochenen Schiff im Meer.
»Die Seeräuber haben es versenkt!« sagte er, noch atemlos vom Laufen. »Viel Volk hat es gesehen. Die ›Diamond Jubilee‹ fuhr immer im Zickzack und schoß immer aus der dicken Kanone, die jetzt noch da im Heck steht. Aber der Deutsche war zu feige, zu ehrlichem Spiel über Wasser zu kommen. Er blieb unten wie ein Steinbutt, und plötzlich hatte die arme ›Diamond Jubliee‹ ihr Teil von der Seepest weg.«
»Sei froh, daß du auch was vom Krieg gesehen hast.«
»Oh – oft, Vater! Neulich nachts hörten wir deutlich das Brummen in der Luft. Da flogen die Kindermörder nach London!«
»Jan!«
»Oh – ängstige dich nicht, Mutter! Wir springen dann immer gleich im Hemd in den Keller der Priory. Mr. Pilgram sagt, auf kleine Knaben hätten es die Zeps besonders abgesehen. Sie wären so froh, wenn sie ihre Bomben auf Waisenhäuser werfen könnten. Er sagt, je kleiner die Kinder, desto größer die Belohnung.«
»Komm jetzt mit hinunter, Jan!«
»Well, Mutter!«
»Warum hast du Jan für den Winter auch gerade noch zu diesem Reverend hier gegeben?« sagte Johanna Ter Mer atemlos und zitternd, während der Kleine voraussprang, um ihre Ankunft zu melden. »Sonst sind die englischen Verhältnisse wenigstens groß. Aber dies hier ist nicht größer als eine Gummizelle!«
»Die Erde ist im Durchschnitt englisch. So soll Jan auch England in seinem Durchschnitt kennenlernen. Dann kennt er es wirklich.«
»Und daß dieser Durchschnitt heutzutage nichts anderes heißt als irrsinniger Deutschenhaß . . .«
»Ich tadle es ja auch, Jantje, und empfinde es so schmerzlich wie du. Ich habe keine feindseligen Gefühle gegen Deutschland; aber vergiß nicht, daß ich Mr. Pilgram nichts davon gesagt habe, daß du eine Deutsche bist, um ihn, bei der gegenwärtigen Stimmung in England, nicht voreingenommen gegen unseren Jan zu machen. Und Jan selber ist noch zu jung, um das zu begreifen.«
»Hoffentlich!«
Sie hatten unwillkürlich englisch miteinander gesprochen, weil ihr Sohn sie englisch begrüßt hatte. Jetzt sagte Johanna Ter Mer plötzlich auf deutsch, und obwohl sie allein den Weg zum Städtchen im Talgrund hinabstiegen, war es doch, als schauerten die Gräser ringsum bei diesen Lauten auf dieser Insel:
»Das einzige Gegengift wäre für ihn jetzt ein Jahr in Deutschland.«
»Unmöglich, Jantje!«
»Warum?«
»Ich wollte es dir nicht sagen, was, nach der allgemeinen Überzeugung aller Menschen, spätestens in diesem Herbst 1915 aus Deutschland geworden sein wird. Dort kommt das Ende der Dinge.«
»Das glaube ich nie und nimmer!«
»Ich hoffe es auch nicht!«
»Und was wird aus Jan? Ein Holländer, der alles, was nicht holländisch ist, vom englischen Standpunkt aus ansieht! Und mir scheint, Cornelis, das ist das Schicksal der meisten Menschen auf der Welt.«
»Ich habe die Welt nicht gemacht, Jantje!«
Vor ihnen lag das Städtchen Forge-Wood. Es führte seinen an den Wald erinnernden Namen aus der Zeit, da es noch Forsten in England gab. Jetzt waren sie ebensogut verschwunden wie die Kornfelder. An ihrer Stelle rollte der Golfball über den Rasen und weidete der Hammel. Der kleine Marktflecken selbst war noch altertümlich mit seinen niedrigen alten Holzhäusern, seinem Efeugerank um die Reste von Stadtmauern, dem dicken Wachtturm aus Cäsarenzeit. In seiner Mitte stand, neben der Pfarrkirche im Normannenstil, die Priory, das Überbleibsel einer Zisterzienserabtei. In ihr wohnte der Reverend Mr. John Pilgram mit seiner vielköpfigen Familie und einer Anzahl von schutzbefohlenen kleinen Knaben, meist Söhnen von Anglo-Indern, Cap-Briten und Australiern, die schon von zarter Jugend an eine rein englische Erziehung genießen sollten. Er eignete sich besonders dazu. Denn er gehörte zu den nicht seltenen Briten, die niemals in ihrem Leben England und Wales verlassen hatten. Er wußte ja, daß die Welt draußen englisch war, wozu sich erst noch persönlich davon überzeugen? Das europäische Festland lockte ihn noch weniger. Er sah es seit vielen Jahrzehnten vom Mount Zion aus drüben vor sich liegen. Dreimal täglich fuhren die Dampfer. Ihm war das gleichgültig. Er war nun schon an Siebzig, ein kleiner, magerer Mann mit langem weißem Haar und rotbäckigem Kindergesicht, der wohl Latein und Griechisch, aber keine Silbe einer lebenden Sprache außer Englisch verstand und in einer solchen Zumutung beinahe eine Beleidigung sah. Seit einem Vierteljahrhundert schnitzte er in seinen Mußestunden an einem Straußenei, das immer in einem Samtkästchen ihm zur Hand lag, und war ein gründlicher Forscher in allem, was das Palisadenverteidigungssystem des Sachsenkönigs Harold auf den nahen Hügeln von Senlac in der Schlacht bei Hastings betraf. Von Napoleon hatte er gehört. Friedrich den Großen und den Großen Kurfürsten hielt er für ein und dasselbe Mitglied des Hauses Habsburg im Mittelalter.
Er begrüßte die Gäste mit jener insularen Frische, die kaum einen Unterschied zwischen dem Blondschopf der Jungen draußen und seinem Silberhaar kannte, und saß ihnen wohlgelaunt im Lehnstuhl gegenüber. An der Wand über ihm hing das in allen Erdteilen verbreitete große Flugblatt mit den Bildern der vierzig beim Untergang der »Lusitania« umgekommenen Kinder, deren Mütter, trotz eindringlichster dreifacher öffentlicher deutscher Warnungen, sich und ihr Liebstes dem mit Dynamitgranaten, Giftgasen und Höllenmaschinen vollgepfropften Kriegsfahrzeug anvertraut hatten. Daneben ein Rütlischwur der sich feierlich an den Händen haltenden Papuas, Baschkiren, Zulus, Serben und Sioux als Vertreter der fünf Weltteile zum Kampf gegen einen Kannibalen, der im Hintergrund, die Pickelhaube schief auf dem Kopf, das Blut belgischer Kinder trank, und die Unterschrift: »Prussian Militarism!« Darunter lag die Britenbibel.
»Hostis generis humani!« sprach der Clergyman behaglich und wies nach der Heiligen Schrift. »Wie urteilen Sie, Sir: ist Deutschland das apokalyptische Tier?«
»Ich habe darüber noch nicht nachgedacht!«
»Mir scheint nichts sicherer als das. Ich beschäftige mich zur Zeit gründlich mit der Offenbarung Johannis. Achten Sie auf die Beschreibung: ›Das Tier hatte zehn Hörner und auf seinen Hörnern zehn Kronen.‹ Wo gibt es so viel Kronen außer dort drüben im Lande Baals?«
Der Yonkheer Ter Meer warf einen geängstigten Blick nach seiner Frau. Sie saß ruhig da, mit einem Lächeln, dessen Verachtung der Gottesmann ihr gegenüber nicht ahnte.
Das friedlich-einfältige, weiß umrahmte Kindergesicht des Reverends John Pilgram leuchtete befriedigt. Als er nach einer Viertelstunde seine Besucher hinausbegleitete, fragte ihn der Yonkheer Ter Meer:
»Sollten Sie, als ein Mann der Kirche, soviel Haß gegen die Deutschen vor Ihrem Gott verantworten können?«
»Ich kann es, ich kann es!«
»Es steht auch geschrieben: Du sollst nicht töten!«
»Oh, es ist eine Art Gottesdienst, einen Deutschen zu töten«, sagte der Alte herzlich und heiter. »Ich predige es jeden Sabbat!«
Der kommende Tag war ein Sabbat, und der Gasthof, in dem das Ehepaar Ter Meer abgestiegen war, hatte sich schon jetzt mit den Gästen des Wochenendes gefüllt. Es war das richtige vermuffte und vermottete englische Provinzhotel wie aus der Postkutschenzeit, mit seinem Kaffeeraum im ersten Stockwerk, dem pfeifenden Zugwind durch seine stets offenen Türen und Fenster und der innen sengenden Kaminglut, dem Gesellschaftszimmer zu ebener Erde, in dem Ladies und Gentlemen in Schaukelstühlen hockten, faulenzend mit gläsernen Augen zum Fenster hinausschauten, schmökerten, Kartenspiele legten, in den Ecken kicherten, mochten auch drüben jenseits des Kanals die Flammen des Weltbrandes den Himmel röten. Zuweilen fielen, träge wie einzelne Tropfen, ein paar Worte . . . Worte über das gegenseitige Befinden. Über einen kranken Foxterrier. Über das Wetter. Und daß es zum Abend Hummern geben würde. Und daß die Seewärme heute vierzig Grad Fahrenheit betragen habe. Und daß in Eastbourne der Lord Soundso eingetroffen sei. Das einzige, was an den Krieg erinnerte, war eine Weltkarte im Flur. England und seine Vasallenländer waren da rot getönt, und es schien, als wolle dies Blutrot allmählich die ganze Erdkugel überziehen. In die Mitte Europas hinein hatte ein Spaßvogel eine tote Fliege mit einer Nähnadel befestigt. Sie deckte gerade den Umfang Deutschlands. Der Yonkheer Ter Meer sah sich das lange an und schüttelte den Kopf. Dies Land von der Größe einer Linse gegen drei bis vier Handflächen von Weltteilen . . . man konnte doch rechnen . . . es gab doch Zahlen, die nicht zu trügen vermochten . . . Maße, aus denen der Sieg des Größeren folgen mußte . . . mathematisch folgen mußte . . . Machtverhältnisse wie zwischen Mammut und Maus . . . Nebenan sprachen zwei Cityleute:
»Es ist unumstößlich sicher, daß Deutschland einer schweren Mißernte entgegengeht. Es hat in Kürze kein Brot mehr. Noch vor Christmas 1915 ist Englands Sache getan . . .«
Der Yonkheer Ter Meer wußte, daß die Sonne von 1915 so versengend über Deutschland brannte, als hätte sich das Wetter mit den Feinden verbündet. Er vernahm weiter:
»Und eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr als noch eine Ladung Salpeter nach Deutschland. Es dauert vielleicht nur noch Wochen, bis sie ihr letztes Pulver verschossen haben . . .«
Auch die Salpeterfrage war dem welterfahrenen Niederländer nicht neu. Er hörte wieder:
»Konstantinopel fällt in spätestens acht Tagen. Die Vereinigten Staaten arbeiten Tag und Nacht. Wir haben nichts zu tun, als die Granaten, die sie uns liefern, aus den Kanonen, die sie uns schicken, einige Wochen in der Richtung nach Osten zu schießen. Dann ist dieser Maschinenkrieg beendet. Es ist nur eine Sache des Geldes.«
Cornelis Ter Meer wußte, daß jenseits des großen Wassers alle Essen sprühten und alle Schlote rauchten, damit unter der Wucht der Granaten die Waage der Weltgeschichte sich nach Westen senke. Er war sehr nachdenklich. Er machte einen langen einsamen Spaziergang durch die lachenden Fluren von Sussex. Überall ruhige Gesichter, gelassenes Gleichmaß des Tages, friedliche Stille, die Selbstverständlichkeit sicheren Seins wie seit tausend Jahren so auch weiterhin in die Zeiten, anders als selbst in Holland, an dessen Grenzen nun schon seit mehr als dreiviertel Jahren ununterbrochen der Kanonendonner grollte. Er dachte sich: Ein Jahr dauert der Krieg. Länger kann er nicht dauern. Wer etwas von Weltfinanzen versteht – ich und tausend andere in allen Ländern haben es ausgerechnet, daß dann das Geld in Deutschland zu Ende geht, dem ringsum von allen Hilfsquellen abgeschnittenen Deutschland! In zwei Monaten ist alles vorbei. Die Erde wird neu eingerichtet. Dann muß jeder wissen, wo er bleibt . . .
Als er in den Gasthof zurückkehrte, hatte sich die Herde der Sonntagsgäste noch vermehrt. Sie erinnerten ihn an holländische Kühe, wie sie in animalischem Behagen den Lunch wiederzukäuen schienen, gleichgültig vor sich ins Leere schauten, mit halbgeschlossenen Augen behaglich gähnten, sich schläfrig ihr kaltes Blut am Kaminfeuer anwärmten, alle, so wie die Herde unter ihren Hirten, in der besonderen Obhut des lieben Gottes, der dafür sorgte, daß da draußen irgendwo in der Welt für jede dieser massenhaften häßlichen alten Jungfern und jeden dieser ledernen Londoner Geschäftsleute einige Farbige schwitzten und ein paar Weiße bluteten. Auch dem Yonkheer Ter Meer war, bei all seiner Bewunderung britischen Wesens, dieser englische Mittelstand des Geldes und Geistes mit seiner maßlosen Unwissenheit und seinem noch maßloseren Dünkel das Unerfreulichste im Vereinigten Königreich der krankhaften Selbstsucht und noch krankhafteren Lüge. Er beeilte sich jetzt auch, über die langen, in den Weg gestreckten Hosenbeine der Gentlemen und die Schleppen der schon zum Dinner angezogenen, verwaschenen und vom vorigen Winter stammenden angegrauten Gesellschaftskleider der Ladies hinwegzusteigen, und trat oben in das Zimmer zu seiner Frau.
Es fiel ihm jetzt wieder das Deutschbeseelte ihres Wesens auf im Vergleich zu den steifleinenen angelsächsischen Pagoden da unten, von denen jede unverbrüchlich dasselbe tat, sagte, dachte wie ihr Nachbar. Die deutsche Wärme in Johanna Ter Meers blauen Augen, die geistige Beweglichkeit auf ihrem zarten, schmalen, lebhaften Antlitz. Ihre Wangen hatten sich leicht gerötet. Sie sah wohler aus als die Tage bisher. Entschlossen und ernst.
»Morgen um diese Zeit sind wir schon auf dem Kanal«, sagte sie. »Und nie wieder nach England zurück.«
»Man soll auf nichts einen Eid tun, Jantje.«
»Den Eid halte ich! Jetzt kenne ich England! Und darum fange ich jetzt erst an, Deutschland richtig zu verstehen!«
»Man kann beides.«
»Ich habe ein schlechtes Gewissen gegenüber Deutschland. Ich denke, ich werde es jetzt mit frömmeren Augen sehen. Wann, denkst du, kann ich zu meinen Eltern reisen?«
»Bald! Aber sprich englisch, Jantje!«
»Warum sollen wir nicht holländisch reden?«
»Weil es dieser ungebildete englische Mittelstand hier für Deutsch hält. Schon vorhin folgten uns verdächtige Blicke . . .«
»Müssen wir uns denn ewig vor England fürchten? Da draußen ist mehr Grund! Der verdächtige Mensch, der in London Wache hielt, ist mit uns gereist und steht schon wieder hier vor dem Hotel.«
»Keine Angst, Jantje! Wir haben unsere Pässe zur Abfahrt.«
»Wann holen wir heute Jan von dem Reverend?«
»Es ist noch nichts verabredet . . .«
»Ich dachte, du hättest jetzt eben alles mit ihm besprochen?«
»Nein. Das nicht, Jantje . . .«
»Warum nicht?«
Cornelis Ter Meer räusperte sich. Sein Ton war unsicherer als sonst.
»Es ist wohl noch zu früh . . .«
»Unsere Reisepässe lauten doch für morgen!«
»Ich kann Jans Namen streichen lassen . . .«
»Weshalb?«
Cornelis Ter Meers Stimme wurde entschlossener: »Jan ist nun einmal hier! Es ist wohl besser, er bleibt noch einige Zeit in England.«
Nun ängstigte ihn doch der Blick, mit dem seine Frau langsam aufstand und vor ihn hintrat. Er beeilte sich, weiterzureden.
»Er soll sich recht in englisches Wesen einleben. Er wird, nach der Neuordnung der Welt, überall in seinem Leben mit England zu tun haben. Je mehr er England innerlich versteht und mit England auszukommen weiß, desto leichter wird ihm wie allen Menschen sein Leben verlaufen. Warum siehst du mich so an wie einen fremden Mann?«
Er ging gedrückt in seinem Zimmer auf und nieder. Von unten, aus dem Drawing-Room, tönte durch die geöffneten Hallenscheiben das phlegmatische »Oh yes!« und »Oh no!«
»Jantje . . . rede doch ein Wort!«
Er wartete umsonst. Er trat zum Fenster. Friedlich grünte draußen der britische Boden über Hügel und Tal. Ganz England schien nur der Lustpark eines reichen Großgrundbesitzers, dessen Rittergut der Erdball war.
»Jantje . . . wenn du schweigst, nehme ich gern an, daß du beistimmst!«
»Jetzt wird mir vieles klar, Cornelis . . . in meinem ganzen Leben . . . an deiner Seite . . .«
»Was sind das für Worte?«
»Als du mich geheiratet hast, hast du mir gesagt, du führst mich in die freie weite Welt hinaus. So schien es mir auch. Wir glaubten alle frei zu sein, Cornelis, und merkten gar nicht, daß wir alle die Sklaven Englands waren . . . merken erst jetzt, daß wir es sind . . .«
»Ich bin ein freier Mann. Nederland ist stolz auf seine Freiheit.«
»Die Engländer haben euch nie die harte Faust gezeigt. Das hättet ihr euch in Holland freilich nicht gefallen lassen.«
»Oh, wahrlich nicht!«
»Nein. Aber die Engländer sind uns allen heimlich in die Seelen gekrochen. Da sitzen sie drin wie der Wurm im Apfel. Darum merkt ja auch keiner, daß er in Englands Sklaverei ist, weil es ihm von innen kommt . . .«
»Jantje . . . das sind Phantasien . . .«
»Wenn ich mit dir spreche, sitzt bei dir drinnen Seine Herrlichkeit der Lord St. Asaphs. Und wenn du mit dem Reeder Pedersen sprichst, sitzt in dem der Baronet Bacharach. Und wenn wir mit unserem kleinen Jan sprechen, sitzt in ihm schon der alte Reverend Pilgram. In jedem Menschen auf der Erde sitzt ein Engländer. Und daran ist jeder schon so gewöhnt, daß er ihn mit sich selbst verwechselt, und deswegen tut jeder, was England will, und glaubt, es sei sein eigener Wille.«
»Darüber reden wir in Holland . . . aber jetzt . . .«
»Erinnerst du dich an die Geschichte von Kipling, wie die Riesenschlange auf der Wiese im Mondenschein vor der Affenherde tanzt, und einer von den Affen nach dem andern klettert verstört den Baum herunter und kriecht ihr in den Rachen. Er will nicht. Und er muß auch nicht. Aber er tut es doch, weil er willenlos ist, wenn die englische Riesenschlange tanzt! So geht es euch allen . . .«
»Ich fürchte, du hast wieder Fieber, Jantje!«
»Bisher war der Engländer, der in jedem von uns steckt, so still, daß man ihn kaum merkte. Aber jetzt wird er wild und macht alle Menschen wild. Denn nun geht es ihm selbst an Kopf und Kragen.«
»In acht Wochen feiert England in Saint Pauls' sein Sieges-Tedeum, Jantje!«
»Denn jetzt gibt es ein Volk, das den Engländer von sich ausstößt und frei sein will. Und das ist das deutsche Volk. Und das ist der Krieg. Früher, wenn ich nach Deutschland kam, habe ich dort den Haß gegen die Engländer nicht begriffen, und die Leute konnten ihn mir eigentlich auch selber nicht erklären. Wie richtig er war, das begreife ich erst jetzt . . .«
»Die Tedeumsglocken von Saint Pauls' . . .«
»Sie werden hoffentlich niemals läuten, Cornelis, denn das wäre ein Grabgeläute auch für dich und für alle . . . künftig würden die Menschen dann nicht heimliche Sklaven Englands sein, sondern ganz öffentliche . . .«
»O weh . . . was für ein Geist hat dich angesteckt, Jantje!«
»Einer, der gegen England ist . . . das wird wohl der deutsche Geist sein! Ich habe England erkannt, so wie man es in Deutschland schon lange erkannt hat. Wenn erst die ganze Welt anfängt, England zu erkennen, dann ist sein Ende da . . .«
Englands Ende! . . . Cornelis Ter Meer starrte seine Frau so sprachlos und entsetzt an, als hätte sie eine Gotteslästerung ausgesprochen.
»Wie elend stehen dann die da, die noch an England geglaubt haben . . .«
»Ich glaube an England, Jantje!«
»Du bist ein erwachsener Mann. Du kannst dich nicht mehr ändern. Aber Jan ist noch klein. Ihn kann man noch vor England retten. Ich gehe jetzt und hole Jan!«
»Das untersage ich!«
»Du hast mir nichts mehr zu gebieten und zu verbieten.«
»Ah . . . Jantje!«
Cornelis Ter Meer war blaß vor Schrecken geworden. Solch ein Wort hatte er noch nie aus dem Munde seiner Frau vernommen. Er hörte wie im Traum, daß sie sagte: »Es gibt Stunden, in denen man über manches miteinander fertig wird. Solch eine Stunde war jetzt eben. Sie ist nie wieder gutzumachen.«
Cornelis Ter Meer fing in seiner Angst an, ganz leise deutsch zu sprechen, um sie zu beruhigen.
»Jantje . . . nimm Verstand an!«
Statt der Antwort machte sie sich zum Ausgehen fertig.
»Zwinge mich niet, hart zu sein!«
»Ich bin es auch!«
Sie ging zur Tür.
»Ich hole Jan!«
In dem Efeugrün und Mauergrau der Priory des Reverend Pilgram spielte der kleine Jan mit den anderen Jungen. Sie hatten aus Bausteinen eine stattliche Kirche aufgebaut – die Kathedrale von Reims, wie es in vier Sprachen der Entente auf dem Deckel des Baukastens stand, und schossen aus einer handgroßen Stahlfederkanone Bleikugeln gegen sie ab, daß die Klötze purzelten. Dabei schnitten sie fürchterliche Grimassen und tanzten zähnefletschend und verdrehten wild die Augen.
»Wir spielen Hunnen, Mutter!«
»Komm, nimm deine Mütze . . .«
»Siehst du Dickie da hinten? Das ist der Stärkste von uns. Der ist ›poor Belgium‹.«
»Zieh dein Mäntelchen an . . . so . . .«
»Zum Schluß kommt er aus der Ecke und verhaut uns, sonst erlaubt Mr. Pilgram das Spiel nicht. Soll ich Mr. Pilgram nicht sagen, daß ich mit dir weggehe?«
»Er weiß es schon. Komm, mein Kind!«
Sie gingen zusammen durch das Städtchen. Die alten Holzhäuser warfen schon lange Schatten über die Straße. Die Sonne war im Sinken. Die Menschen wimmelten. Niemand kümmerte sich um sie, die beide äußerlich sich von Engländern nicht unterschieden.
»Oh – Mutter, hast du gesehen?«
»Was machst du für ein entrüstetes Gesicht, Jan?«
»Da hat ein Mann von der Straße dich grüßen wollen!«
»Er wird sich geirrt haben . . .«
»Aber da kommt er herüber . . . er schlenkert wie ein Seemann . . .«
»Wo denn?«
»Drüben . . . mit dem braungebrannten Gesicht und der schmutzigen Jacke und dem alten Wollschal um den Hals . . . Es ist gewiß ein Kohlentrimmer, Mutter . . .«
»Wen meinst du nur? . . . Ach . . . da . . .«
»Mutter . . . warum wirst du denn so blaß?«
»Nichts . . . nichts, mein Kind . . .«
»Fürchtest du dich vor dem Mann?«
»Nein . . . nein . . .«
»Mutter, wir sollten schneller gehen! Er holt uns sonst ein . . . Ist das gut, daß wir jetzt stehenbleiben?«
»Ja, Jan. Das ist sehr gut für kleine Jungen: denn da neben uns ist eine Zuckerbäckerei. Da gehst du jetzt hinein und kaufst Schokolade.«
»Alles richtig, Mutter!«
»Da hast du einen halben Schilling.«
»Aber es ist viel Volk drin, Mutter.«
»Schadet nichts! Ich warte hier, Jan.«
Der Seemann kam mit breitbeinigem Gang und einem breiten Lächeln um die bartlosen Lippen heran. Er spuckte vorher noch einmal aus und fuhr sich mit dem Rücken der braunen Faust darüber. Sein Kopf war bis auf Hals und Nacken und die unter dem halb offenen, schmutzigen Hemd sichtbare Brust hinunter so kupferfarben, daß sein kurzgeschorenes Blondhaar fast weiß aussah. In den blauen Augen war ein verstohlenes, humoristisches Zwinkern, vor dem Johanna Ter Meer der Herzschlag stockte. Sonst hätte selbst sie, die Erich Lürsens Kunst, die Menschen täuschend nachzuahmen, kannte, in dieser Verkleidung von Kohlenruß, Schweiß und Ölflecken, ausgefransten Hosen und zerrissenen Stiefeln, Bartstoppeln um das Kinn, ihn nie und nimmermehr vermutet.
Erich Lürsen war herangekommen und lüftete treuherzig lächelnd die Mütze. Seine Haltung hatte den ungezwungenen Freimut, mit dem in England auch ein Mann der unteren Stände zu Höhergestellten spricht.
»Gut, daß ich Sie treffe, Madam«, sagte er ziemlich laut auf englisch, und dann gedämpfter: »Nehmen Sie sich doch zusammen! Es war für mich ein gefährliches Werk, Sie hier aufzusuchen.«
»Woher wußten Sie denn . . .?«
»Sie sagten mir doch vor vierzehn Tagen, Sie wollten zu Ihrem Sohn. Da riskierte ich es jetzt.«
»Warum?«
»Um Sie zu warnen! Ich lebe ja hier in England still und zurückgezogen . . . es steht nur manchmal was von mir im Blättchen – nich?«
»Um Gottes willen – reden Sie nicht auch noch deutsch!«
»Ach – es hört ja niemand, was wir hier snaken.«
»Nur schnell . . . schnell!«
»Ist das Ihr Jung da drin im Laden? Netter kleiner Engländer . . . wie? Nicht mehr? . . . Wär' auch 'n lüttken zu spät; denn die Engelschen sind ja wohl gar nicht gut auf Sie zu sprechen.«
»Reden Sie doch rascher!«
»Ich bin nun mal so ein langsamer Mensch. Ich halte es immer mit dem kalten Blut. Wozu soll man sich aufregen – nich?«
»Also was ist . . .?«
»Die Engelschen wissen, daß wir beide zusammen unter ihnen waren, und glauben, wir ständen immer noch miteinander in Verbindung. Sie werden heimlich überwacht!«
»Und es besteht die Absicht, Sie zu verhaften. Meine Freunde, die Iren, haben es gehört . . .«
»Um Gottes willen . . .«
». . . und es wäre wohl schon geschehen. Aber eine Gruppe von Engelschen ist dagegen. Sie wissen Sie lieber drüben in Deutschland . . . und wir wissen, warum . . .«
»Ja. St. Asaphs' Freunde besorgten uns die Pässe . . .«
». . . und widersetzen sich den andern. Wegen des Völkerrechts! . . . Aber ich würde an Ihrer Stelle doch man fixing den Kanal zwischen mich und die Cousins legen!«
»Ich bin im Begriff, es zu tun, morgen mittag – aber Sie?«
»Tja . . . ich möchte mich den Leuten hier ja auch nicht allzu lange aufdrängen«, sagte Erich Lürsen tiefsinnig. »Ich hab' ja für sie getan, was ich konnte! Soviel Feuerwerk hintereinander haben sie zwischen London und Portsmouth noch nie gesehen. Und ganz umsonst. Ich rechne ihnen keinen Farthing dafür. Ich mache es rein nur aus Liebe zur Sache . . .«
»Gleich kommt Jan heraus!«
»Aber nachgerade bin ich jetzt doch höllisch in der Klemme. Ich werd' ja wohl schauen, daß ich heute nacht so sachte von England freikomme.«
»Gott sei Dank!«
»Wenn's dunkel wird, gehe ich als Schiffsheizer an Bord des ›Olaf Kyrre‹ mit Kohlen nach Amsterdam. Mit den klarsten Papieren, die je ein Mann hatte, als Trimmer Krupo Jadelat aus Estland. Können Sie Estnisch? Ich nicht! . . . Tja . . . die anderen auf dem guten alten norwegischen Trampfahrer werden es ja wohl auch nicht so geläufig sprechen.«
»Wo liegt der ›Olaf Kyrre‹?«
»In Southampton. Ich hab' mich nu mal an die Downs da unten gewöhnt. Ich bin da angekommen. Da fahr' ich auch wieder ab . . . Da kommt Ihr verkleideter lütter Engländer! Schauen Sie, daß Sie morgen um diese Zeit mit ihm auf der anderen Seite vom Kanal bei den Mynheers sind. Ich lebe sonst wie eine Ratte in der Nacht. Ich habe mich nicht umsonst hier mitten in das helle Wochenende gewagt, um Sie zu warnen.«
»Mutter – was wollte der Matrose von dir?«
»Er hat mir auf der Überfahrt einen Dienst erwiesen, Jan. Ich hatte auf dem Schiff etwas liegenlassen, und er frug, ob ich es richtig wiedererhalten hätte.«
»Sieh, da steht Vater.«
Der Yonkheer Ter Meer war aus dem Zimmer heruntergeeilt und mit bloßem Kopf auf die Freitreppe vor das Haus getreten. Er sagte atemlos:
»Jantje . . . ich sah dich vom Fenster aus kommen . . . Jan – willst du ein verständiger Knabe sein? Dann geh hier mit dem alten Kellner hinauf in den Kaffeeraum. Er soll dir Nachmittagstee und Buttertoasts geben . . . so . . . Jantje . . . großer Gott . . . mit wem hast du da eben auf offener Straße gesprochen?«
»Hast du ihn erkannt?«
»Willst du uns denn mit Gewalt ins Unglück stürzen?«
»Im Gegenteil! Er hat mich gewarnt! Wenn wir nicht morgen mittag reisen, sind wir im Unglück!«
Kaum hatte der Yonkheer Ter Meer das Weitere vernommen, drehte er sich um und stürzte in das Zimmer hinauf, um zu packen. Jetzt hatte er nur noch den einen Drang, Weib und Kind und sich in Sicherheit zu bringen. Sie erkannte, daß er, trotz seiner Ehrfurcht vor England, doch unbesehen England einen solchen Völkerrechtsbruch zutraute. In der Art, wie er auf die Uhr sah, verstört die Zuganschlüsse, die Abfahrtzeit des Dampfers, die Geschäftsstunden der Paßbehörden im Hafen vor sich hinmurmelte, schien sich ihr die Furcht der Erde vor England zu verkörpern. Plötzlich atmete sie auf.
»Was ist, Jantje?«
»Da schwingt sich der rothaarige Geheimpolizist, der uns wie ein Schatten folgt, endlich auf sein Zweirad und läßt uns in Ruhe und fährt davon . . .«
Der Seemann von vorhin schien nicht zu merken, daß jetzt er auf Schritt und Tritt von dem Agenten von Scotland-Yard überwacht wurde, der ihn im Gespräch mit Johanna Ter Meer beobachtet und seinen Posten vor dem Hotel einem Genossen übergeben hatte. Das Bild eines britischen Matrosen an Land, bummelte der Kohlentrimmer des »Olaf Kyrre« gemächlich, die Hände in den Hosentaschen, zuweilen den Priemsaft ausspuckend, zur Eisenbahnstation, blieb an einem Schaufenster mit Tonbridgewaren stehen und musterte gähnend scheinbar das Holzmosaik im Laden und in Wirklichkeit die Straße hinter sich im Spiegelbild. Er trat dann vor der Abfahrt in eine Public Bar, steckte das braune Gesicht beinahe bis zum blonden Haarschopf in den Zinnkrug mit Porter und ließ dabei zerstreut die blauen Augen über die anderen Männer in der Wirtsstube gleiten. Er enterte in den Zug, schloß sofort in einer Ecke laut schnarchend die Augen und blinzelte durch die Lider, und als er in Brighton umstieg, schien es ihm klar, daß er nicht jener Peter Schlemihl war, der seinen Schatten verloren, sondern der einen zweiten Schatten in Gestalt eines ihm folgenden rothaarigen Unbekannten gewonnen hatte.
Ganz sicher war er sich noch nicht. Es war jetzt allerhand Volks in England unterwegs. Zu mannigfachen Zwecken. Kitcheners Werber. Schlepper für neutrale Matrosen zu gefährlichen Fahrten durch deutsches Sperrgebiet. Zweifelhafte Belgier. Spieler und Abenteurer auf der ganzen Welt, wo jetzt aus der ganzen Welt die Männer zum europäischen Krieg hier zusammenströmten. Schmuggler zum Schwärzen von Waren ohne Ausfuhrschein, Händler, bei denen ein Mann, dem das nützlich dünkte, gefälschte Papiere kaufen konnte, und wenn es sein eigener Totenschein war. Er hatte alle solche Gestalten im Laufe der letzten Wochen gesehen. Vielleicht war auch der Mann hinter ihm ein ganz harmloser Diamantenschieber oder Seelenverkäufer.
Als er auf Terminus Station in Southampton ausstieg, war sein Schatten hinter ihm verschwunden. Es war schon dunkle Nacht. Schwere Windstöße stöhnten vom Solent herauf. Die Stadt lag beinahe finster in der Laternendämmerung der Zeppelingefahr . . . lange weiße Lichtstrahlen der Scheinwerfer zuckten unstet am schwarzen Himmel und schnitten helle Streifen in die Nacht da draußen. Dann sah man in der Ferne die riesige graue See und ganz hinten einen Schattenstrich von Land, die Insel Wight mit ein paar Lichtpünktchen von Cowes.
Am Hafenkai rasselten im unbestimmten Zwielicht die Krane. Die Umrisse eines mächtigen Handelsdampfers wölbten sich in der Nacht. Der ›Olaf Kyrre‹ nahm in Eile seine letzte Ladung. Er sollte noch vor Morgengrauen hinaus in See. Das Wasser war nicht rein. Verschiedene bewaffnete Fischdampfer wollten seit gestern draußen vor der Küste deutlich das kurze Aufzucken von Sehrohren aus den Wellen gesichtet haben.
»Halloah, Captain . . . ein Gentleman von Scotland-Yard!«
Ein Geflüster mit einem lautlos an Bord geschlüpften rothaarigen und sommersprossigen Menschen, der den Schirm einer Sportmütze tief in die Stirn gedrückt trug und eine glimmende dicke ägyptische Zigarette aus dem Mundwinkel nahm.
»Der verdächtige Seemann kommt hierher?«
»Gerade auf das Schiff zu, Captain!«
»Und ihr habt ihn allein gelassen?«
»Ein anderer Bursche folgt ihm vom Bahnhof aus.«
»Warum, zum Teufel, müßt ihr ihn erst hier an Bord verhaften?«
»Wir müssen die Spur bis zu Ende verfolgen. Wir angeln vielleicht einen dicken Fisch!«
»Da kommt er!«
»Er will wirklich auf den ›Olaf Kyrre‹!«
»Aber jetzt bleibt er stehen . . .«
»Natürlich, er muß gegenüber noch eins trinken!«
Der Geheimpolizist sog oben auf der Kommandobrücke aufgeregt an seinem Zigarettenstummel und äugte auf den Seemann unten hinab, der breitbeinig die zehn Schritte auf die dunkle Gasse zusteuerte, in die der schwache Lichtschein verhängter Kneipenfenster fiel. Es war nur ein Hauch gewesen, der ihm da durch die Nachtluft vom Schiff her im Wind entgegengeweht war – nur ein kaum merklicher Duft einer ägyptischen Zigarette. Aber es war gut, wenn der Mensch sechs Sinne hatte: den sechsten, die anderen umfassend, als den Sinn für Gefahr. Geruch erweckt Erinnerung. Von dem Schatten hinter ihm im Eisenbahnwagen war am Nachmittag der Rauch derselben Zigarettensorte ausgegangen . . . eine hinter der anderen . . . das Gedächtnis daran hemmte den Fuß des Seemanns vor den Laufbrettern des »Olaf Kyrre« wie den Fuchs hart vor dem Eisen.
»Gebt zwei kräftige Leute, Captain. Wir müssen ihn dort in der Gasse verhaften.«
»Wenn das nicht Ihr Gefährte inzwischen schon besorgt hat!«
»Oh – er ist ein unerschrockener Bursche . . .«
»Also kommt!«
Die Gasse war dämmerig und leer.
»Da liegt der Kohlentrimmer ja am Boden!«
»Bewußtlos?«
Das Licht einer Taschenlaterne knipste auf. Männer knieten an dem Rinnstein und spähten in ein gelbes Gesicht.
»O Hölle – mein Kollege ist es!« sagte der Mann von Scotland-Yard.
»Tot?«
»Nein. Er wird bald wieder zu sich kommen. Er ist nur k. o. geschlagen: eine Faust unters Kinn, die andere in die Herzgrube . . .«
»Und der Kohlentrimmer?«
»Verschwunden!«
Durch das graue Wasserbrausen zwischen Solent und Spithead pflügte das letzte abendliche kleine Dampfboot von Southampton nach Cowes seine Bahn. Zehn Minuten vor der Abfahrt war ein leicht angetrunkener junger Seemann pfeifend an Bord gekommen, hatte sich auf eine der Deckbänke gesetzt und den Umsitzenden erzählt, daß er beurlaubt und hinübergeschickt sei, um das dort liegende Segelboot seines früheren Herrn abzutakeln, der in diesem höllischen Krieg keine Zeit mehr für Wassersport habe. Das glaubte ihm jeder. Denn auf dem Medinafluß lagen Hunderte von großen und kleinen Fahrzeugen des Königlichen Jachtgeschwaders verankert. Und der Seemann selbst dachte sich, während er sich seine kurze Pipe stopfte: es ist gut, daß ich in den letzten Wochen immer einmal mit den kleinen Masten da drüben geliebäugelt habe, als letzte Rettung . . . Wenn es glückt, in der Dunkelheit eines der Ruderboote vom Ufer freizubekommen, in denen die Leute zu ihren Jachten in der Mitte des Flusses fahren, und wenn ein paar Ruder in solch einer Jolle sind, und wenn die Flut günstig ist und der Wind ein Einsehen hat, dann mag ein Mann, der sich vor hohen Wellen nicht fürchtet, sein Boot wie eine Maus in der Nacht durch das Dunkel hinaus in den Kanal bringen! Und dann mag bei Tagesanbruch irgendein Dampfer einen einzelnen Mann im Boot mit seinem Hemde winken sehen und den verschlagenen estnischen Matrosen Jadelat an Bord nehmen und womöglich in Rotterdam oder Gotenburg oder Kopenhagen landen . . .
Als der Morgen graute, schwankte ein kleiner Nachen zwischen Wogen, die nicht höher waren als sonst an einem schönen Junitage, der ruhigen Zeit der See, und doch hoch genug, daß die Nußschale in ihnen wie in einem Tal versank und auf ihnen wie auf einem Hügel emporstieg. Dann erblickte der Mann in der Nußschale weithin das regelmäßige, gewellte, weißkämmige Grau des Kanals und nach Norden in der Ferne einen weißen Schein, die Kreideklippen der englischen Küste, und war zufrieden, daß Wind und Strömung und Ruder ihn von deren Brandung ferngehalten hatten. Er stand breitbeinig auf dem schaukelnden Boden der Jolle und spähte, die Hand vor den Augen. Seltsam, kein Dampferqualm, keine Mastspitze weit und breit wie sonst im Kanal! . . . Irgend etwas mußte geschehen sein, was hier, in der Lebensstraße Englands, den Schiffsverkehr fernhielt. Dampfer waren hier vor kurzem, noch in der Nacht, gefahren. Man sah es an den langen Wasserfurchen in der See. Aber ihre Richtung, von Nord nach Süd, zeigte, daß es keine Handelsschiffe gewesen, sondern Wächter der Salzflut, hin und her kreuzende Patrouillenboote, gerade jene Jagdhunde der britischen Marine, denen der Mann im Nachen aus guten Gründen am wenigsten zu begegnen wünschte.
Während er noch daran dachte, löste sich aus der silbergrauen Trübung von Nebel, Wasserdunst und gebrochenem Licht über dem tieferen Grau des Meeres ein beinahe durchsichtiger Schatten mit schrägem Schornstein und zwei Masten los, gewann rasch, in freie Luft getaucht, Körper und feste Umrisse, wurde zu einem bewaffneten Fischdampfer aus Portsmouth, der eilig in der Richtung nach dem unsichtbaren Frankreich fuhr. Plötzlich verkürzte sich scheinbar sein gestreckter dunkler Rumpf. Er hatte schräg in der Richtung nach dem einsam treibenden Boot abgedreht, hatte es bemerkt, rauschte eilig und neugierig, als aufdringlicher Retter, heran.
Der Mann in der Jolle saß auf der Bank und ließ die Ruder rasten. Nun war es gleich, ob sie von dem Dampfer hinter ihm eine Minute früher oder später einen Kutter zu Wasser ließen und ihn übernahmen. In ein paar Stunden war er wieder in Portsmouth. Es gab da genug Leute, die den Kommandanten der »Heidelberg« besser kannten, als ihm lieb war . . .
»Schade!« sagte Erich Lürsen vor sich hin. Der Fischdampfer war jetzt schon so nahe, daß man den Schaumwall aufblitzen sah, den er, mit Volldampf fahrend, vor seinem Bug auswarf. Dann dachte er sich: Ich hab' das meine getan, damit wir Deutschland retten! – Nun erkannte er schon deutlich die Gestalten an Deck, wie sie das Glas vor die Augen hielten, auf ihre Weise sich zu wundern schienen, daß der Schiffbrüchige so wenig Interesse an seinem Schicksal zeigte, sondern gelassen dasaß und sich wieder dachte: . . . daß wir Deutschland retten!
Er hob jäh das Haupt. Was war das? Der Dampfer stoppte plötzlich, daß man beinahe das jähe Zittern des Schiffskörpers zu sehen glaubte. Warum rissen die Matrosen oben hastig in das Steuerrad? Warum drehte sich das Schiff, so rasch es konnte, in angstvollem weitem Bogen, schwenkte in schwarzen Rauchwirbeln ab, schoß davon, als säße ihm der Tod hinter dem Ruder? Und rings doch nichts in Sicht als die weite, graue, sonderbar leere Wasserfläche, und ganz hinten an der Küste wie Spinnweb die Masten eines versenkten Dampfers . . .
Und Erich Lürsen wußte: Sie müssen doch etwas gesehen haben – das gesehen, was mich rettet und uns alle! Er wandte den Kopf . . . spähte mit scharfen Augen in das Wasser. Da war nichts. Aber dann begann es sich in einem aufsteigenden Schwall zu heben, ein Turm tauchte aus dem Meer, unter ihm ein hechtschlanker, kaum über den Meeresspiegel ragender, eisgrauer Rumpf. Das U-Boot lag, wasserüberrieselt, mit seinem vierfach abgestuften Steven friedlich, als der Tod aus der Tiefe, vor dem Mann im Kahn.
Aus dem Turm sprangen scheinbar Neger. Sie waren so nah, daß er das Weiße der Augen in den von Ölruß geschwärzten Gesichtern rollen und die weißen Zähne leuchten sah. Sie hielten ihn für den Matrosen eines von U-Booten versenkten Handelsdampfers. Er hörte, wie der Kommandant kopfschüttelnd sagte:
»Was die drüben jetzt für grünes Volk an Bord haben! Ich glaube, der Kerl kann nicht mal rudern. Holt ihn mal über! . . . »What was the nationality of your vessel?«
»Jung . . . Jung . . . sprich deutsch . . .«
Der fremde Mann stand gemütlich vor dem Kapitänleutnant des U-Bootes und lugte ihm in das verrußte Gesicht. Dann reichte er ihm die Hand.
»Morgen, Vegesack! . . . Tja . . . das soll wohl so sein. Ich bin es wirklich . . . ich fahre hier so'n büschen spazieren . . .«
Am Himmelsrand waren an verschiedenen Stellen etwas wie bleistiftartige Striche in der See durch das Fernrohr sichtbar. Rauchlose Zerstörer schossen schnell wie Wasserschlangen heran. Erich Lürsen stieg hinter seinem Kameraden durch das kreisrunde Loch senkrecht hinab in die Unterwelt. Drunten im Bauch des kleinen Walfisches war es in der glasgrünen Dämmerung und rauschenden Finsternis des tauchenden Bootes so eng und gemütlich wie in einem von elektrischem Licht erhellten Schlafwagenabteil. Er saß im Kommandantenraum auf dem Diwan der Schlafnische. Die Luft war lange nicht so dick, wie er gedacht. Ein angezündetes Streichholz brannte. Es gab kein Ohrensausen. Durch das runde Türloch zur Rechten schob sich erst ein Bein, dann eine Schulter, dann der Kommandant selbst. Er kam aus dem Maschinenraum längs der aufgeklappten Bank im Mannschaftszimmerchen. Die Tauchmanöver waren beendet.
»Willst du die Englishmen mal sehen, Lürsen?« sagte er. »Aber schnell!«
Der Korvettenkapitän Erich Lürsen trat unter das für ein paar Sekunden hochgebrachte Sehrohr, drehte mit beiden erhobenen Fäusten an den Handgriffen, schaute hinein. Scheinbar heller als bei Tageslicht lag da oben die Wasserwelt. Die heranfauchenden Torpedojäger auf ihr. Am Mast der steif im Winde stehende Union Jack mit dem roten Kreuz im blauen Viertelsgrund. Die fliegenden Wolken darüber. Weiße Möwenpunkte. Dort, an der trügerischen Oberfläche, hieß es noch: Britannia, beherrsche die Meere! Aber hier unten hieß es: Deutschland, beherrsche den Meeresgrund . . .
Fern qualmte noch der entflohene Fischdampfer. Erich Lürsen trat von dem Sehrohr zurück. Er dachte nie an sich. Nur an die Sache.
»Zu schade, daß der Lümmel ausgekniffen ist!« sagte er zu dem Kommandanten. »Den hättest du so nett bei der Gelegenheit versenken können!«