Rudolph Stratz
Das freie Meer
Rudolph Stratz

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

6

Da, wo in London der Bummelstrich des Strand in die Geldburg der City überging, da wurde gegenüber dem Temple in Fleetstreet die Meinung der Welt gemacht. Standen nebeneinander die verräucherten Häuser der Zeitungen. Saß in einem von ihnen Mr. Neish, Großjournalist, durchgefallener Unterhauskandidat und Neffe dritten Grades des Herzogs von Chichester, schon im abendlichen Frack und weißer Binde rittlings auf seinem hohen Drehschemel und diktierte seinem Geheimschreiber. Er war mit seinen fünfunddreißig Jahren schon dreimal um die Welt gefahren. Die Welt war für ihn ein kugelrunder Apparat mit vielen elektrischen Tastknöpfen. Drückte man auf einen, so entstand in irgendeinem Erdteil eine öffentliche Meinung.

»Diese ›Heidelberg‹ macht uns viel zu viel zu schaffen, Gibson«, sagte er nachdenklich.

»In der Tat! In den letzten Wochen versenkte sie wieder ein Schiff nach dem anderen.«

»Es spricht sich auf der Erdkugel herum.«

»So ist es. Es heißt jetzt, sie sei endgültig an der norwegischen Küste in die Enge getrieben.«

»Man hat es schon oft gesagt, Gibson.«

»Allerdings, Mr. Neish.«

»Am besten ist es, sie existiert überhaupt nicht mehr! Die Mannschaft hat, der Seeräuberei müde, den Kapitän über Bord geworfen, sich unter englischen Schutz gestellt und um milde Bestrafung gebeten.«

»Sehr wohl, Mr. Neish.«

»Melden Sie das dem ›Calcutta Englishman‹, der ›Madras Mail‹, dem ›Allahabad Pioneer‹. Ich hoffe ernstlich, daß auch der ›Indian Mirror‹ jetzt gefügig ist.«

»Die islamitische Presse? Die üblen Nachrichten kommen leider meist durch die Mohammedaner nach Indien herein.«

»Fälschen Sie für den ›Oudh-i-Akbar‹ eine arabische Nachricht über Perim, nichts sei sicherer als der Fall Konstantinopels in den nächsten Tagen . . .«

». . . in den nächsten Tagen . . .«

». . . und kontrollieren Sie heute abend noch China! Ein so großes Land braucht starke Nachrichten. Es mag für ›Canton Register‹ und ›Hankow Times‹ nützlich sein, wenn Berlin einfach genommen ist . . .«

». . . Berlin genommen . . .«

»Geben Sie auch dem ›Echo de Povo‹ etwas Portugiesisches für Hongkong an die Hand! Die ›Heidelberg‹ . . .«

». . . existiert nicht mehr . . .«

»Das war für Indien! . . . Wir sind in Portugal! Also, die ›Heidelberg‹ hat vor Oporto dreißig angesehene Portugiesen an ihren Rahen aufgehängt . . . nein: vierzig! Sonst liegt der Kahn schief.«

»Vierzig Stück Portugiesen . . .«

»Für ›Japan Mail‹ und ›Hioge News‹ dasselbe mit vierzig Japs. In deutschen Kerkern zurückgehalten und durch unmenschliche Behandlung zugrunde gegangen . . . Einer von unseren Japs hier soll es gleich für die ›Tokio-Asahi‹ übersetzen . . .«

». . . Hungergreuel in deutschen Kerkern . . .«

»Schicken Sie eine Depesche nach Mexiko, daß die ›Heidelberg‹ vor Cadix mit besonderem Blutdurst gegen die Spanier gewütet hat. Johns wird es drüben gleich für den ›Partido Liberal‹ und den ›Trait d'Union‹ ins Spanische und Französische übersetzen. Hoffentlich hilft's! Die Mexikaner sind widerspenstige Burschen.«

»Süd-Amerika?«

»Ist der neue Film mit dem erschossenen Priester hinüber?«

»Er tut gute Arbeit, Sir!«

»Dann schicken Sie jetzt das Pariser Klischee: Der Greis mit den abgehackten Händen.«

»Die Vereinigten Staaten?«

»Wie gewöhnlich! Nehmen Sie irgendeine Seite aus dem belgischen Greuelbuch. Den vornehmen neutralen Kaufmann über die Hungersnot in Berlin. Beschimpfungen amerikanischer Ladies in den Straßen Münchens.«

»München hatten wir gestern!«

»Also wurden die Ladies in Dresden ausgeraubt . . . Halloah! Guten Morgen, Graham!«

Mr. Neish lachte aus vollem Herzen, legte den entrüsteten Kulturprotest deutscher Professoren, der ihm in die Hände gekommen, bei Seite und meinte:

»Sie sehen auch wohlgelaunt aus, alter Bursche!«

»Es war solch belustigender Anblick auf dem Wege hierher! Überall in den Vororten werden die deutschen Läden geplündert und die Waren vom Volk weggetragen . . . auch in Bury Saint Edmunds und Sheffield machen sie gute Beute. Polizei hilft mit!«

»Notieren Sie, Gibson. Kabelspruch für das neutrale Ausland: zynische Verwüstung britischen Eigentums in vielen deutschen Städten! Generale mit ihren Frauen an der Spitze der Plünderer! . . . Gehen Sie auch zum Empfang des Herzogs von Chichester? Ich komme mit.«

Vor der Admiralität sahen die beiden Gentlemen den Bulldoggenkopf des vierschrötigen Admirals Sir James Warrington, er verabschiedete sich von einem großen, würdevollen Reeder aus Glasgow, dem die schottische Kirchlichkeit auf den strengen, bartlosen Zügen geschrieben stand.

»Wartet, ich gehe mit zum Herzog.« Und noch einmal lachend zu dem Schiffseigner: »Wozu halten wir euch die See von der deutschen Handelspest rein?«

»Und die ›Heidelberg‹?«

»Ach – die ›Heidelberg‹! Sie geht jetzt ihrem Ende entgegen. Wir haben sie bis in den nördlichen Atlantik hinaufgejagt. Dort findet sie nichts zu kapern und keine Kohlen. Nützt die Zeit, wo die Meere von Deutschen frei sind. Erhöht die Frachtraten!«

»Weise Worte, Sir James!«

»Verdoppelt jeden Monat die Kohlenfracht. Laßt die Italiener nur frieren. Sie sollen zahlen, bis sie bluten. Die Franzosen sollen bluten, statt zu zahlen . . . Wozu haben wir denn unsere Verbündeten!«

Unter der Durchgangswölbung der Kaserne der Leibgarde zu Pferd stießen sie auf Mr. Spry, den ehemaligen Prospektor und jetzigen Minenmillionär vom Johannesburger Rand, und den Obersten Scott.

»Auch unterwegs zum Herzog von Chichester? Wie steht's in Flandern, Colonel?«

»Zu viel Verluste!«

»Nachschub unterwegs?«

»Ganze Schiffsladungen aus Indien. Je weniger von den Mohammedanern Indien wiedersehen, desto besser für uns.«

»Was macht die Südafrikanische Union, Mr. Spry?«

»Botha organisiert Burghers gegen die Deutschen. Hoffentlich gehen genug Buren dabei mit zur Hölle!«

»In der Tat, wozu hat man seine Verbündeten?« wiederholte Sir James sinnend, während die Gentlemen durch den linden Frühlingsabend über die Mall dahinschritten.

»Rußland spendet mehrere Millionen Menschen diesen Sommer. Aber wo bleibt Japan? Es kann Armeen opfern! . . . Auf was warten die Portugiesen? Von den Serben ist noch reichlich die Hälfte übrig. In Griechenland ist noch mancher Mann zu finden. In Rumänien ein Überfluß an lebendem Material. In allen Weltteilen sind noch sichtbare Vorräte von Menschen. Warum führt man diese Männer nicht gegen den Drahtverhau? Nur jetzt nicht mit Leben sparen.«

»Wahrlich nicht«, sagte der Admiral. »Es wäre eine falsche Sparsamkeit!« Um die Gentlemen herum war Krieg, den sie andere führen ließen. Er sprach aus dem Dämmern der aus Angst vor den »Zeps« verdunkelten Londoner Straßen, er sprach triumphierend aus der als Zeichen der deutschen Hungersnot in einem Ladenfenster zur Schau gehängten Berliner Brotmarke, er sprach aus den riesenhaften, grellbunten Aufrufen, die überall den Vorübergehenden zuschrien: »Kitchener braucht dich!« und daneben der ausgestreckte Zeigefinger und der brutale Landsknechtkopf des Derwischschlächters und Burenhenkers. Seine Werbeplätze waren jetzt bei Nacht verödet. Keine baumlangen, mit dem Viktoriakreuz geschmückten flandrischen Sergeanten scherzten mehr mit der Menge, setzten den umstehenden jungen Gaffern unversehens die Soldatenmütze auf und nahmen sie für den König in Pflicht. Keine Marineoffiziere hielten mehr von blau-weiß-rot bebänderten Lordmayor-Leiterwagen herab Ansprachen an das britische Volk! Aber ungewohnt häufig schimmerte im Zwielicht das gelbe Khaki und die roten Aufschläge, erschienen fremdartige Gesichter von Übersee, trug von den Stocklondonern jeder ein Abzeichen seiner Tätigkeit oder Dienstunbrauchbarkeit im Knopfloch, um sich vor Werbern und Wahlweibern zu retten. Britannien rüstete sich zu der größten kriegerischen Anstrengung seiner Geschichte. Und doch sagte der Colonel gedankenvoll: »In den Kinos am Strand erscheint jetzt ein Wort auf der Leinwand, und alle Frauen stehen auf und klatschen, und die Männer bleiben sitzen.«

»Welches Wort?«

»Allgemeine Wehrpflicht!«

Das Letzte . . . das Ende britischer Freiheit . . . Abschied von Alt-England . . . Ein kalter Wind wehte durch Piccadilly herauf. Mr. Spry, der Südafrikaner, brummte:

»Müßt ihr deswegen den Militarismus bei den Preußen totschlagen, damit ihr ihn bei den Briten einführt?«

Und die anderen Gentlemen schwiegen. Vor dem prunkvollen Hotel, an dem sie vorbeikamen, fuchtelte ein aus dem Gepäckauto gestiegener Herr mit schwarzem Spitzbart und eine Dame mit großem, schiefem Abendhut die Hände gegen den Geschäftsführer.

»Bedaure, das Haus ist voll.«

»Sie wollen uns nicht aufnehmen?«

»Nun wohl, mein Herr. Wir wünschen keine Belgier.«

»Warum nicht?«

»Es gab zu viel Anstoß. Ihre Sitten sind von den britischen zu verschieden.«

»Die Deutschen verdienen schon deswegen Strafe, weil sie uns diese Belgier auf den Hals gebracht haben«, sagte lachend in der Vorhalle des Hotels ein junger Engländer. »Finden Sie nicht auch, Yonkheer Ter Meer?«

Der Yonkheer Cornelis Ter Meer war aus seiner Wohnung oben im Gasthof im Fahrstuhl heruntergekommen, um selbst einige Depeschen nach dem Haag aufzugeben. Er war ohne Hut, im Frackanzug. Seine schwere und starke Gestalt unterschied ihn von der hageren Länge der Angelsachsen umher. Seine Glatze spiegelte sich in dem elektrischen Licht über den bedächtigen und verständigen Zügen eines Mannes zu Mitte der Vierzig, dem viel Welterfahrung und Weltkenntnis eine unerschütterliche Meinung über Menschen und Dinge verliehen hatten. Er sagte mißbilligend zu dem stutzerhaften jungen Bankbeamten neben ihm, dem fünften Sohn des Bischofs Abbot:

»Ich hoffe sehr, Sir, daß niemals ein Mensch umsonst auf Englands Schutz gebaut hat.«

»Oh – nichts wahrer als das! Kommen Sie auch hinüber zum Herzog?«

»Ich hole eben Mrs. Ter Meer.«

Von den Fenstern seiner Hotelwohnung oben sah man hinüber nach Glun-House, dem geschichtlichen Stadtsitz der Familie Glun, in dem deren Haupt, der Herzog von Chichester, wenn er in London war, sein Hoflager hielt. Das Haus stand zwischen vielen anderen seiner Art in Piccadilly, an dessen offener Seite, Greenpark und dem fernen Königsschloß von Buckingham gegenüber. In diesem Reich der Reichen, dem prunkvollen Klubland umher mit den Palästen der Ministerien in der Nähe, erschien es als ein niedriges und altfränkisches Gebäude, nur eine einfache Hausnummer über dem Tor, vor dem ein Auto nach dem andern in langer Reihe anfuhr, Herren und Damen zu Fuß kamen, lange Polizisten, die Schuppenkette unter der Nase, standen. Der Yonkheer Ter Meer blickte auf die Uhr. Zum Abendempfang bei einem Lord durfte man nicht zu spät kommen. Er trat in das Nebenzimmer.

»Jantje, du bist noch nicht klar zum Ausgehen?«

Über dem Stuhl hing eine Abendrobe, in ihrem silbergestickten Lichtblau künstlerisch auf Johanna Ter Meers zarte Züge, ihre rosige Hautfarbe, das reiche Aschblond ihres Haares abgetönt. Sie selbst war noch im Hauskleid.

»Geh lieber allein hin, Cornelis, und entschuldige mich.«

»Oh – und wozu sind wir hier?«

»Um nach unserem Jungen in Eastbourne zu sehen.«

»Sag mir eines: was soll der Herzog von Chichester von uns denken?«

»Siehst du, das ist es! Bei allem, was man in der Welt tut, fragt man sich zuerst: was sagt der Engländer dazu?«

»Jantje . . . ich bin längst im Frack.«

»Ich bin keine Engländerin!«

»Du bist die Frau eines Neutralen und wirst hier als eine Lady aus Holland betrachtet.«

»O nein, Cornelis. Als wir vorigen Herbst, zu Anfang des Kriegs, hier waren, zeigten sie alle ein höfliches Mitleid mit mir als einer geborenen Deutschen, so sehr waren sie ihrer Sache gegen uns sicher . . .«

»Und jetzt?«

»Jetzt haben sie sich in England sehr verändert. Ich merke es in den paar Tagen, seit wir wieder hier sind. Es weht eine andere Luft.«

»Oh – das ist eine Verbildung von dir, Jantje!«

»Nein, das ist keine Einbildung. Es ist um einen herum alles voll Wut und Haß gegen Deutschland und also auch gegen mich.«

»So sind die Engländer nicht!«

Cornelis Ter Meer ging ungeduldig auf und ab. Unhöflich gegen seine Frau zu werden, lag außerhalb seiner Art. Er bat:

»Denke dir alles, als het belieft. Aber komm mit. Ich verspreche dir, wenn du mir drüben nur einen Wink mit den Augen gibst, der heißt: die Engelschen sind nicht so gegen mich, als sie sollten . . . so verlasse ich stracks mit dir das Fest.«

Das Zimmertelefon läutete. Der Yonkheer Ter Meer hörte am Apparat und sagte unmutig zu seiner Frau:

»Schon wieder drei Dampfer draußen versenkt!«

»Von wem?«

»Immer die ›Heidelberg‹.«

»Das dachte ich mir!«

»Mr. Abbot meinte eben, es sei schade, daß der Kapitän Lürsen kein Engländer sei. Er habe manche englische Vorzüge.«

»Und ein paar deutsche dazu!«

Johanna Ter Meer lachte. Sie war plötzlich belebt und erhob sich und sagte:

»Wenn ich nicht mit dir gehe, Cornelis, dann sieht es womöglich so aus, als ob ich mich vor den Engländern fürchte. In einer Viertelstunde bin ich fertig!« –

Neben seiner zur kommenden Season aus Alexandrien heimgesegelten Schwester, der Lady Norton, die ihm, dem Witwer, zur Seite stand, begrüßte John Herbrand, der elfte Herzog von Chichester, an der Schwelle seiner Säle die Gäste.

Diese unteren Empfangssäle des Stadthauses der Familie Glun waren eigentlich eine Gemäldegalerie von unschätzbarem Wert. Rembrandt und Rubens schauten auf das »How do you do?« und »How good from you to come« des Menschengedränges und Lichtergeflimmers hernieder. Der Raffael gegenüber allein füllte ganze Seiten in den kunstgeschichtlichen Werken aller Völker. Nichts von diesem irdischen Glanz spiegelte sich auf dem kalten, stillen Gesicht des Herzogs wider. Es war leidenschaftslos, fast seelenlos mit seinen frostigen blauen Augen und dem angegrauten, rötlichen Vollbart über den feinen, nur um die Kiefer herum brutal ausgeprägten Zügen. Der Herzog stand unpersönlich da, wie ein Sachwalter seines Hauses, ein Beauftragter seines Landes. Sein herzlicher Händedruck geschah im Namen Großbritanniens und hieß, mit einem Anflug freimütigen Lächelns, jeden willkommen, der Großbritannien nützlich war. Darin war man nicht wählerisch am grauen und windigen Strand der Themse. Aus welchen Völkern, Erdteilen, Hautfarben holte Britannien nicht seine neuen Männer wie das sinkende Rom seine Freigelassenen?

Der Baronet Bacharach sprach eindringlich auf den bebrillten Chinesenherzog Chang Ch'ien ein: »Hoheit . . . die Eisenbahnkonzession kann nicht schon bei Schea-si enden. Die City legte lange vor den Japs die Hand auf die Kohlengruben . . .«

Und hinter dem Nachkommen des Confucius stand ein schlitzäugiger gelber Zwerg im Frack mit dem Stern seines Hausordens und neben dem Prinzen Akihito ehrerbietig gebeugt ein baumlanger Brite und raunte:

»Wenn wir nicht die neue Dampferlinie nach den Sandwichinseln finanzieren, Hoheit, so tun es die Yankees!«

Eine weiße Stirnbinde schimmerte zwischen dem juwelenbesetzten Turban und den bräunlichen, schwermütigen Zügen des Reiterobersten Sir Mado Singh Bahadur, der verwundet aus Flandern heimgekehrt war. Sein englischer Adjutant stellte ihm einen wohlbeleibten, sich ehrfurchtsvoll verbeugenden Gentlemen vor:

»Hoheit . . . Mr. Higgs, Mitglied der Handelskammer von Manchester, wird Euer Hoheit erklären, warum die indische Baumwolle in Lancashire gesponnen werden muß. Fabriken sind nichts für Indien.« –

»Gott schütze uns vor der indischen Pest!«

»Gott schütze uns vor den Japs, Sir Thomas!«

Die beiden Großwürdenträger schüttelten sich die Hände, Exzellenz Morrow, der australische Minister und frühere Hafenarbeiter und Enkel des deportierten großen Wegelagerers von Suffolk, und der seit gestern zum Baronet erhobene ehemalige Goldwäscher und Minenkönig von Transvaal Sir Thomas Spry, und keiner der Briten ringsherum verzog eine Miene. England mischte die Menschen, machte sie zum Trumpf, spielte sie aus, stach einen mit dem anderen, England scharte sich im dichtesten Gedränge in der Mitte des großen Saals um den Matador des Spiels um das Gold der Welt. Wie Gott Mammon selber hielt da Benjamin T. Branagan, der Granatenlieferant aus Amerika, Hof. Seine Frau und seine Töchter sonnten sich drüben wie die Pfauen unter den Liebenswürdigkeiten der britischen Herzoginnen. Er, der kleine Mann mit dem bart- und zeitlosen, verschrumpften Gesicht schüttelte ihren Männern die Hand wie seinesgleichen.

»India Stokes 2½ weniger . . .«

»South-Western 29¼ . . .«

Es war wie das Wehen der Lebensluft, die das Britenreich atmete.

»Brighton Railway um drei Punkte niedriger . . .«

»Liverpool-Cotton Mai–Juni 499½ . . .«

Johanna Ter Meer stand inmitten einer anderen Gruppe. Weiße lachende Zähne, weiße Schultern. Die Lilien auf dem Felde. Die Ladies. Sie spekulierten auch. Wer tat es in London nicht, jetzt, wo die Erde sich in Krämpfen wand und die Kurse wie lockende Irrlichter im Blutnebel auf und nieder tanzten? Aber sie besorgten das Vormittags telefonisch vom Toilettentisch aus nach dem Morgenritt. Jetzt waren sie und die Herren bei den Neuigkeiten aus der Gesellschaft.

»Lady Ellon reiste gestern nach Ellenhouse!« . . .

»Liebste . . . kommen Sie doch mit nach Beau-Soleil! Sie finden an der Riviera jeden Freiluftsport . . .«

»Oh – Pickford gegen Pickford, vor dem Ersten Hof von Kingsbench?«

»Unter dem Vorsitz des Justizlords selber! Aber ohne Verteidiger!«

»Natürlich! Sonst müßte er ja den Marqueß Saint Asaphs als Zeugen laden.«

Ein Lächeln auf den rosigen Zügen der Ladies. Es wäre nicht das erste Mal gewesen, daß Lord Harald in einem der zahllosen Ehescheidungsskandale der großen Londoner Welt eine Rolle spielte . . .

»Im Windsor-Rennen?«

»Nein! In der Burham-Steeplechase!«

Die alten und jungen Gentlemen ereiferten sich.

»Bilberry im Braknell-Handicap acht zu eins!«

»Kabel aus Chicago: Johnson in bester Boxerform!«

Plötzlich, wie ein fernes, fernes Totenglöckchen in das leere Lippenwerk der ›Society‹ ein Wort, halblaut . . . von Mund zu Ohr: »Die ›Heidelberg‹!« Es klang dumpf. Es tauchte immer wieder auf. Mochten die Kronleuchter noch so hell strahlen, die Diamanten ahnenstolz blitzen, die Gesichter dünkelhaft lächeln: Die ›Heidelberg‹ . . . die ›Heidelberg‹ . . . durch den ganzen nördlichen Atlantik gejagt . . . die ›Heidelberg‹ mit Kurs auf Island . . . die ›Heidelberg‹ auf dem Weg ins Verderben . . . Sie war in diesem Augenblick wohl schon genommen. War hoffentlich mit Mann und Maus gesunken. War überhaupt nur eine Eulenspiegelei der Germans gewesen. Weiter nichts. Was konnte England, dem Liebling des lieben Gotts, Böses widerfahren?

Johanna Ter Meer stand zwischen den Ladies und Gentlemen, und es war ihr auf einmal, als sei ein großes Wachsfigurenkabinett lebendig geworden und die lebensgroßen Puppen plauderten und lachten mit eiskalten Augen und starren, heiteren Mienen, und diese Puppen beherrschten die Menschheit, und für sie arbeiteten alle Menschen.

Kein Bekannter kam in dem Gedränge der wächsernen Halbgötter in Johanna Ter Meers Nähe. Rings um sie war immer ein unsichtbarer freier Raum. Wie eine kalte Luftwelle wehte eine Leere, wo sie ging und stand.

In der Ferne entdeckte sie jetzt ihren Mann. Sein Gesicht hatte nicht den unbefangenen Ausdruck wie drüben in Holland. Es lag eine gewisse Feierlichkeit darüber, Selbstbewußtsein und Genugtuung zugleich. Er sonnte sich im Strahl des englischen Weltgestirns. Er sprach englisch mit dem norwegischen Reeder Pedersen. Als seine Frau herankam, wandte er sich rasch ihr zu.

»Jantje, Mr. Pedersen hat Funkspruch aus Bergen. Isländische Fischer sichteten gestern die ›Heidelberg‹. Sie lief mit ihren letzten Kohlen zwischen den Shetlandinseln und den Faröers ostwärts in der Richtung auf die norwegischen Schären.«

»Die sind doch neutral!« In Johanna Ter Meers blauen Augen leuchtete es auf. Ein Rot des Triumphs legte sich über ihre lebhaft gewordenen Züge. »Ach – wäre das schön!«

»Was denn, Jantje?«

»Wenn das Heldenstück gelänge . . .«

»Welches Heldenstück?«

». . . daß die ›Heidelberg‹ nach all diesen Fahrten glücklich in die Heimat kommt!«

Zwei Augenpaare – ein holländisches und ein norwegisches – sahen sie verständnislos an. Heldentaten? Auf deutscher Seite? Daran hatte man nie gedacht . . . mochte Deutschland siegreich gegen viele Hunderte von Millionen Menschen kämpfen, sich gegen den halben Erdball behaupten, an Opfermut alle Völker der Weltgeschichte übertreffen . . . für Deutschland gab es auf Erden weder Anerkennung noch Mitgefühl. Plötzlich war eine tiefe Kluft zwischen Johanna Ter Meer und ihrem Mann, während er frostig sagte:

»Das wollen wir nicht hoffen, daß die ›Heidelberg‹ heimkommt, damit sie andere Kaperschiffe ermutigt und uns von neuem den Welthandel stört.«

Reeder Pedersen lachte.

»Unbesorgt! Sie kommt nicht so weit. Sie heizen die Kessel schon mit allem, was auf dem Schiff verbrennbar ist. Schlimmstenfalls bleibt die ›Heidelberg‹ in unserer Dreimeilenzone liegen und wird interniert.«

»Ich rechne, daß sie noch vorher eingeholt wird.«

Der Yonkheer Ter Meer rieb sich, während er das sagte, beinah ungeduldig die Hände. Es schien seiner Frau in diesem Augenblick, als sei er ein Engländer, als färbte das Engländertum auf alle Menschen ab, die mit ihm in Berührung gerieten, kröche ihnen in die Seelen, nistete sich in ihr Herz und Hirn, bis die ganze Erde nur noch der Schatten war, den Großbritannien warf. Auf einmal begriff sie den trockenen, zähen, unerbittlichen Haß des Korvettenkapitäns Erich Lürsen gegen den britischen Meltau, der die Welt überzog. Sie fröstelte zusammen.

»Ich möchte weg«, sagte sie.

»Warum, Jantje?«

Der Reeder Pedersen hatte drüben seinen dänischen Geschäftsfreund entdeckt. Cornelis Ter Meer stand mit seiner Frau allein.

»Ich sagte es dir ja schon vorher. Die Engländer haben sich verändert. Noch vor drei Monaten verachteten sie Deutschland. Jetzt hassen sie es . . . und lassen es mich fühlen! . . . Sie sehen durch mich hindurch wie durch Glas. Sie sehen durch alles hindurch, was ihnen nicht paßt.«

»Du täuschst dich, Jantje!«

»Sie tun mir dabei Unrecht. Wenn jemand eine Freundin und Schülerin Englands war, dann war ich es doch wahrhaftig die zehn Jahre bis zum Krieg. Und jetzt noch im Krieg wollte ich ja alles daransetzen, daß Deutschland und England wieder Freunde werden. Aber ich sehe jetzt erst, wie England hassen kann. Ich hätte es nie geglaubt.«

Der Yonkheer Ter Meer schüttelte den Kopf. Er begriff, wie weh es für einen Menschen sein mußte, wenn England nichts mehr von ihm wissen wollte! Es war wie eine Art Ausstoßung aus der Menschheit. Der Gedanke erschreckte ihn.

»England tut kein Unrecht«, sagte er. »Nicht an einem Volk und nicht an einem einzelnen . . .«

»Du hast mir doch versprochen, zu gehen, wenn ich es will.«

»Du sollst gehen, Jantje, aber ohne Bitterkeit durch ein Mißverständnis. Du warst sehr jung, als ich dich heiratete. Ich war fünfzehn Jahre älter als du. Ich habe dich in die Welt hinausgeführt. Sie ist englisch! Ist dir in der langen Zeit irgendwo eine Unbill auf der Erde widerfahren?«

»Nein – das nicht . . .«

»Haben wir nicht allen Schutz und alle Freiheit und Beweglichkeit in allen Häfen genossen, als ob wir Engländer seien?«

»Das schon . . .«

»Aber hat je ein Engländer dafür Dank verlangt? Nein. Oder hast du je erlebt, daß man einen Paß von uns gefordert hätte oder eine Anmeldung oder eine Pflicht? Nein, wir waren frei. England nahm uns alle Mühen des Lebens ab. Du hast darüber nie nachgedacht. Du hast es so vorgefunden, als du mit neunzehn Jahren in die Tropen kamst, und hast es als selbstverständlich hingenommen . . .«

»Ich weiß es, Cornelis. Aber das war im Frieden.«

»Dieser Friede war ein goldenes Zeitalter für uns alle, Jantje. Durch den Krieg sieht es der Engländer für uns alle gestört . . . Daher jetzt manche Düsterkeit auf seiner Stirne. Sie gilt nicht dir. Es ist die Trauer, daß man ihm seine Aufgabe erschwert!«

Johanna Ter Meer fuhr mit der Hand über das gewellte Haar. Aber es war eine Bewegung, als griffe sie sich an die Stirne.

»Manchmal denke ich, es gibt zwei Erdkugeln«, sagte sie. »Eine hier und dort Deutschland!«

»Wenn, Jantje – dann kann man nicht auf zwei Planeten wohnen. Du stammst aus Deutschland, aber du hast dein Vaterland freiwillig verlassen, um mir zu folgen. Also ist deine Heimat jetzt hier!«

»In Holland – aber nicht in England!«

»Ich bin ein Mann der Freiheit. Darum bin ich der Freund Englands. England ist die Freiheit!«

Der Yonkheer Ter Meer, der weltkundige, verständig nüchterne Mann, wurde beinahe feierlich. – Heiligste Überzeugung wohnte in seinen ernsten grauen Augen. »Irre dich nicht in den Engländern, Jantje, sonst wirst du irre an allen Menschen! Dann findest du keinen Platz mehr auf der Welt und wirst an dir selber irre!« Er sah, daß seine Worte Eindruck auf sie machten. Sie schwieg wenigstens. Mehr wollte er für heute nicht. Er war immer die Rücksicht selber gegen seine Frau. Sie hatte in den zehn Jahren ihrer Ehe noch kaum ein hartes Wort von ihm gehört. Er legte sanft ihren Arm in den seinen, um sie wegzuführen.

»Nu – wir sollen uns jetzt niet lange aufhalten«, sagte er freundlich und so leise auf deutsch, daß es niemand hören konnte. Aber zugleich stand Herr Holm, der Kopenhagener Kriegslieferant, vor ihm, der Reeder Pedersen aus Bergen an seiner Seite. Beide, der Däne und der Norweger, waren sehr erregt.

»Die ›Heidelberg‹ über den vierten Grad östlicher Länge . . . Ein Dutzend Engländer, Japaner, Franzosen und Russen hinterdrein! Sie läuft mit äußerstem Volldampf. Sie heizen mit den Decksplanken und dem Maschinenöl. Man sieht es am Rauch.«

Der Yonkheer Ter Meer zog die angegrauten Augenbrauen hoch, daß die Stirnfurchen bis zu der schimmernden Glatze hinausliefen.

»Über den vierten Grad östlicher Länge? Mit Ostkurs? Aber dann ist sie ja schon entkommen! Dann ist sie ja schon in den norwegischen Schären.«

»Vielleicht ankert sie dort irgendwo zwischen Aalesund und Florö.«

»Von wo ist die Nachricht?«

»Lord Saint Asaphs brachte sie soeben.«

Drüben war im Hintergrund des Saals über dem Gewimmel der Gäste der tiefbrünette Kopf des Marqueß Harald von St. Asaphs aufgetaucht. Er kam erst jetzt in das väterliche Haus. Staatsgeschäfte hatten ihn, wie er zu der ihn umdrängenden Schar von Ladies und Gentlemen sagte, drüben in Downing Street zurückgehalten. Das Auswärtige Amt lag hier in der Nähe. Westminster, das Kriegsamt, die Admiralität, der Buckingham-Palast, die Stadtsitze der Lords, die Prunkhäuser der Klubs, all diese elektrischen Druckpunkte für den Erdball waren auf einem lächerlich kleinen Raum im Westen Londons vereinigt.

Lord Harald stand mit der Lässigkeit des großen Herrn, die Hände in den Taschen der Frackhosen, inmitten seines Gefolges. Er zog die Rechte heraus, um sie Mr. Branagan, dem schon halb anglisierten Stahlkönig, zu herzlichem Druck zu reichen. Der Mann war es wert. Berichte aus Flandern bezeichneten die Füllung seiner gegen die deutschen Schützengräben geschleuderten Granaten als das erstickendste Gift, das man noch je von drüben bekommen.

»Halloah, Mr. Branagan – Sie haben Bayardo gekauft?«

»Ich tat es, mein Lord Markgraf, als Grundstock eines kleinen Stalles.«

»Wann soll er zum ersten Male seinen Hafer verdienen?«

»Er ist für den Tredemis-Cup genannt.«

»Da läuft auch mein All Black. Wir werden uns da sehen, Mr. Branagan.«

Der Marqueß Harald von St. Asaphs sagte es zerstreut. Seine dunklen Augen forschten nach dem Ausgang des Saales.

»Steht dort nicht Mrs. Ter Meer?«

»Ich glaube«, sagte Miß Briggs frostig.

»Sie scheint im Begriff, mit ihrem Mann zu gehen.«

»Sie tut gut daran«, sagte Miß Neish.

»Sie hat es wohl gesehen, daß man ihre Abstammung kennt«, sagte Mrs. Graham.

»Ihr habt es sie merken lassen?«

»Oh – ich hoffe!« sagte Miß Craven.

»Nichts törichter als das!« Es kam beinah brutal unter dem schwarzen kleinen Schnurrbart, durch die großen weißen Zähne. Im Verkehr mit den Ladies legte sich der Marqueß nicht den geringsten Zwang auf.

»Warum, Harald?« fragte die ehrenwerte Diana, die, baumlang wie er, neben ihrem Vetter stand.

»Weil ich sie brauche . . . sie stammt doch aus Deutschland! Sie weiß, wie es dort ausschaut . . .«

»Oh! . . .«

»Und ihr verscheucht sie von hier . . . Die einzige Lady, von der man hier etwas Vernünftiges hören kann . . .«

»Oh . . . oh . . .«

». . . die für England eingenommen ist . . . die mir alles von drüben freimütig erzählt!«

»In der Tat, es war nicht weise!« sagte Lady Diana Fairtlough zu ihren Freundinnen. Der Marqueß von St. Asaphs eilte durch den Saal. Blicke hinter ihm her frugen, wem die Ehre galt, daß ein »Most Noble«, der Träger des höchsten englischen Adelstitels nach den »Gnaden« des Herzogs, sich seinetwegen in absichtlich auffallender Hast bemühte. Ausländer! Ein Staunen. Und nicht einmal Amerikaner, sondern Neutrale eines Kleinstaats!

Vor dem Yonkher Ter Meer und seiner Frau machte Seine Herrlichkeit halt, zeigte ihnen herzlich die Zähne, schüttelte ihnen die Hände wie alten Freunden, geleitete sie in liebenswürdigem Gespräch von der Schwelle und den dort stehenden riesigen Lakaien wieder zurück in den Saal.

»Wie gut, daß ich Sie noch treffe! Ich verspätete mich. Es gab manches in Downing Street zu tun. Es ist eine Zeit, die einem Mann Kopfzerbrechen machen kann. Der Krieg mag noch hingehen . . . aber die Iren . . . ich wäre so traurig gewesen, wenn ich Sie verfehlt hätte! Ich hätte ungern die paar Tage gewartet, bis ich Sie als Gäste in Ogmore Castle begrüßen darf.«

»Es wird uns diesmal nicht möglich sein, Mylord.«

»Oh – sagen Sie das nicht, Mrs. Ter Meer! Sie versprachen, Ihren Besuch zu wiederholen. Sie gaben mir in Holland darauf die Hand. Bitte, kommen Sie!«

Ringsum stand Alt-England. Hörte mit ehrfurchtsvollen Ohren das Gespräch. Das neutrale Ehepaar stieg plötzlich turmhoch in der Achtung. Zwei Ausländer, denen ein Marqueß von St. Asaphs die Einladung auf das Schloß seiner Ahnen nicht als Gnade, sondern als Bitte aussprach. Er wiederholte, zu dem Yonkheer gewendet, eifrig und eindringlich: »Ich habe Mrs. Ter Meers Wort.« Und Cornelis Ter Meers ernste Züge erhellten sich unter der sonnigen Herzlichkeit, und er warf seiner Frau einen vielsagenden Blick zu: Siehst du, so sind die Engländer!

Es bildete sich von selbst eine Gasse achtungsvoller Zuschauer, während Johanna Ter Meer zwischen ihrem Mann zur Linken und dem Markgrafen zur Rechten wieder bis in die Mitte des Raumes zurückwandelte. Dabei dämpfte der riesige brünette Lord die Stimme noch mehr, als es so schon in England üblich war.

»Und wie war es in Deutschland? . . . Wir sind Verbündete, Mrs. Ter Meer. Sie müssen mir erzählen! Wie steht es dort drüben? Was sagt man in Berlin? Sie sprachen sicher alle Welt! Sie taten gewiß gute Arbeit zum Frieden? Auch ich habe hier inzwischen Nützliches geleistet. Aber der Weg zur Versöhnung zwischen unseren Ländern kann einen Mann entmutigen, der ihn wie ich fast allein geht . . . Darum ist mir Ihr Rat so wertvoll, den Sie mir mit Erlaubnis meines Freundes, des Yonkheer Ter Meer, über deutsche Dinge geben werden.«

»Mrs. Ter Meer wird die Auszeichnung zu schätzen wissen, mein Lord Marqueß!« sagte ihr Mann.

»Aber hier sind zu viele Ohren und zu viele Augen für ein vertrauliches Gespräch, das können wir am besten in Ogmore Castle führen. Da werden wir uns vor den Kamin setzen und werden zusammen ratschlagen . . .«

»Ich fürchte, ich habe keine Zeit, Mylord.«

»Oh – still doch, Jantje!«

»Keine Zeit? . . . Es geschieht im Namen der Menschheit, wenn ich Sie bitte, mir in Ogmore Castle von Deutschland zu erzählen, damit ich sehe, wie man mit ihm zum Frieden kommen kann . . .«

»Deutschland wollte den Frieden . . .«

»Ich weiß, nur jene vornehme Oberschicht, der Sie durch Geburt angehören, wollte den Krieg . . .«

»Auch das ist unrichtig, Mylord!«

»Dann belehren Sie mich, und ich werde andere aufklären. Klar sehen ist alles! Wir verheimlichen Ihnen hier ja auch nichts. Sie können sehen und hören, was jeder Engländer hört und sieht. Ebenso muß ich durch Sie mit Deutschland hören und sehen. Jede Einzelheit ist mir wertvoll. Offenherzigkeit unter Freunden ist Pflicht, Mrs. Ter Meer.«

»Das sind wahre Worte Seiner Herrlichkeit, Jantje!«

»Auf Wiedersehen zum nächsten Wochenende in Ogmore Castle!« sagte der Marqueß von St. Asaphs plötzlich lächelnd. Ein Widerspruch schien in der Luft dieses Saales unmöglich. Er verabschiedete sich von Johanna Ter Meer mit einer weltmännisch leichten Verbeugung, die man seiner baumlangen Athletengestalt kaum zugetraut hätte, nickte dem Yonkheer vertraulich gleich einem alten Freunde zu und schlenderte davon. Aber an seiner Stelle stand, wie aus der Erde gewachsen, seine Base, Lady Fairtlough, und quetschte strahlend Johanna Ter Meers schlanke Finger zwischen ihren langen nervigen Sportshänden.

»Oh – wie geht es Ihnen, meine teure Mrs. Ter Meer? Ich bin so froh, Sie zu sehen!«

Und eine ebenso freudige Überraschung malte sich auf Lady Warringtons Gesicht.

»Sind Sie schon lange hier, Mrs. Ter Meer? Man findet sich kaum in dem Gewühl.«

Und neben der Admiralin erschien die Lady Beaulieu.

»Ich hoffe, Sie hatten eine gute Überfahrt? In den letzten Wochen war der Kanal stürmisch.«

Und teilnahmsvoll erkundigte sich Lady Abbot, die Gattin des Bischofs:

»Und was macht Little Jan, Ihr Sohn? Ist der prächtige kleine Bursche noch bei dem Vikar nahe Eastbourne?«

»Es waren dort an den Küstenplätzen gestern noch drei Stunden Sonnenschein. Nichts besser für Kinder!«

Johanna Ter Meer war ganz gerührt, daß man sich hier in diesem Weltreich inmitten des Weltkrieges ihres kleinen Jan entsann. In einer so herzlichen und selbstverständlichen Weise, als sei sie ein Familienmitglied Alt-Englands und gestern erst abgereist und heute wiedergekommen. Es war wirkliches Mitgefühl in der Art, wie die Lady Norton sie leise und traurig frug:

»Ich höre, Sie hatten bei Ihrem letzten Aufenthalt hier einen ernsten Trauerfall zu beklagen. Hat Ihr tapferer Schwager seine letzte Ruhestätte gefunden? . . . Gott tröste Ihre arme Schwester!«

Johanna Ter Meers zarte Züge belebten sich und verloren die Blässe und Zurückhaltung. Es war, als ginge auf einmal in den frostigen Nebeln dieses Saals um sie die Sonne auf. Die Sonne war der Marqueß von St. Asaphs gewesen. So gut kannte sie England schon, um das sofort zu begreifen. Aber es lag etwas so Bezwingendes in dieser schlichten und stillen Liebenswürdigkeit von allen Seiten, dem erfreuten Kopfnicken aus der Ferne, dem einfachen Lächeln im Vorübergehen, daß es einem die Vernunft schmeichelnd einwiegte . . . Man fing an zu zweifeln, nicht an den andern, sondern an sich . . . Vielleicht waren diese vorhin so frostig steifen Misses Rogers und Neish gerade mit anderen Gedanken beschäftigt gewesen! Es war sonst kaum denkbar, daß sie sich jetzt auf einmal in diese zutraulichen und harmlosen Geschöpfe verwandelten, die lachend, als sei nichts geschehen, Arm in Arm auf sie zutraten . . . daß die eisig säuerliche Mrs. Graham sich plötzlich in eine mütterlich liebenswürdige alte Dame verkehrte, die ihr ein paar aufrichtige, bewundernde Worte über ihr liebliches Äußeres und ihre frischen Farben sagte . . . daß der Baronet Bacharach sich ehrerbietig vor ihr verneigte . . . daß endlich England selbst sie willkommen hieß in Gestalt des Hausherrn John Herbrand, des elften Herzogs von Chichester aus dem Hause Glun, der suchend auf sie zukam und wohl zehn Minuten lang in seiner leisen und langsamen Art mit ihr und ihrem Mann sprach. Kein Wort von Krieg . . . Kein Wort von Deutschland . . . Nicht mehr der kalte Haß von vorhin. Nicht mehr das gönnerhafte Mitleid von früher. Mrs. Johanna Ter Meer war die Frau eines befreundeten Neutralen. Niemand wußte mehr, wo ihre Wiege gestanden, und es war im Augenblick nicht weise und für Britannien nicht nützlich, das näher zu untersuchen.

Johanna Ter Meer sah die tiefe Befriedigung ihres Mannes. Und sie selber konnte sich nicht gegen ein innerliches Aufatmen wehren, das sie von dieser furchtbaren Vereinsamung befreite. Es war wieder ein Ahnen jenes alten Gefühls von draußen, aus der Welt, gerade unter diesen Menschen zu wandeln, die die Welt beherrschten, zu ihnen zu gehören, von ihnen als ihresgleichen betrachtet und behandelt zu werden. Als sie mit ihrem Mann draußen vor dem Glun-Palast aus der Wagenburg von Autos das ihrige vorfahren ließen, sagte Cornelis Ter Meer in bester Laune:

»Es war nur ein Mißverständnis, und Lord St. Asaphs hat es geklärt!«

Eine Stunde später verließ auch der Marqueß Harald von St. Asaphs Glun-House. Er schlenderte mit seinem Freund, dem Reverend Craven, um die Ecke in einen der Pall-Mall-Clubs, deren hell erleuchtete Paläste da nebeneinander standen. Die beiden Sportathleten boten den bloßen Kopf der Nachtkälte im Freien und dem feuchten Themsenebel die dünne Hemdbrust unter den Frackklappen. Es war, als gingen sie aus einem Zimmer in das andere. Diese ganze Londoner Ecke hier war wie ein einziger Familienraum, von dem aus die Welt beherrscht und der Weltkrieg gelenkt wurde. Der war jetzt doch mehr als ein großer Kolonialfeldzug geworden, bei dem ausnahmsweise sich nicht die Weißen gegen die Farbigen in anderen Erdteilen, sondern umgekehrt die Wilden der Welt nach Europa einschifften.

»Gestern haben die Germans wieder aus mehreren Panzern die Ostküste beschossen«, sagte der Clergyman mißgestimmt. »Und man fürchtet ernstlich, sie kommen bald wieder.«

Lord St. Asaphs hob den Kopf. Er war viel ernster geworden in dem letzten halben Jahr. Es lagen Linien in seine Stirn gegraben, die vom Nachdenken über andere Dinge kamen als über Sport und Flirt.

»Nichts wäre falscher«, sagte er zwischen den Zähnen, »als dem Mann auf der Straße oder gar den Neutralen einzugestehen, daß wir eine Torheit begangen haben.«

»Mit diesem Krieg?«

»Wir hatten zwei Feinde, Rußland und Deutschland. Wir verbündeten uns mit Rußland, damit es von Deutschland geschlagen würde, und wir verbündeten uns mit Frankreich, um Deutschland zu schlagen. Dann waren wir sie beide los. Es war eine Doublette auf zwei Fasanenhähne. Der erste Schuß gegen Rußland traf, der zweite gegen Deutschland nicht. Wir müssen jetzt noch einmal laden: die große Kitchener-Armee! Und wer weiß, Craven, ob wir nicht eine dritte Patrone brauchen, bis diese verwünschte Angelegenheit aus der Welt ist.«

Und der Reverend Craven wußte, daß dieser dritte Schuß Alt-England selbst ins Herz traf. Denn er hieß das Ende englischer Freiheit, hieß die allgemeine Wehrpflicht . . . Der »unabhängige Gentleman« stand stramm! Borgte vom Preußen die Pickelhaube. Es war ein undenkbarer Gedanke . . .

Sie traten in den Club. Diesen auserlesenen Club, dessen Mitgliedschaft einen jeden rund um den Äquator in den ersten Gesellschaftsrang rückte. Auf langen Listen warteten die Bewerber geduldig viele Jahre, bis der Tod eines der einhundertsechzig Mitglieder dem Glücklichen an der Spitze die Tore öffnete. Die Ungeduldigen hatten längst einen Junior-Club gegründet, der beinahe ebenso vornehm war und auch schon wieder draußen eine hundertköpfige Kette von Anwärtern stehen hatte. Dieser Club war einer unter vielen. Wenn England ein Männerparadies der höheren Stände war, so war Pall-Mall, das Clubland, das Allerheiligste dieses Paradieses. Aber auch um diese Hochburgen der Gentlemanherrlichkeit pfiff schon der schneidende Wind des Kriegs. Vorbei die träumerische Ruhe der großen Lesesäle mit ihren hundert Ledersesseln, vorbei diese Stille, die nur das Geknitter von hundert riesengroßen, eng bedruckten Abendzeitungen und der leise Schritt der Diener unterbrach, vorbei das behagliche Geplauder über Rennen und Reisen vor den flackernden Buchenscheiten der riesigen Kamine. Wie eine ferne summende Sturmglocke brummte es im Gespräch dumpf »Germans . . . Germans . . .« aus allen Winkeln. Die Räume waren nicht mehr so voll wie sonst. Viele Mitglieder doch mit ihren Regimentern über den Kanal. Manche schon unter flandrischer Erde oder in den Händen der Hunnen. An ihrer Stelle Gäste von Übersee. Aber diese Freigelassenen entweihten das Cäsarentum dieser Säle, und Lord Harald St. Asaphs hatte neulich erst nach nachdenklichem Schweigen geäußert:

»Es ist möglich, aus einem Deutschen einen toten Mann zu machen. Aber es ist unmöglich, aus einem Kanadier oder Australier einen Gentleman zu machen!«

Augenblicklich waren keine wilden Männer von jenseits der großen Wasser da. Nur Peerage und Gentry. Glattrasiertes, hageres, befracktes britisches Vollblut. In dem kupfernen Bulldoggenkopf des Admirals Sir James Warrington rollten die Augen, daß man das Weiße sah. Lord Harald ahnte im Nähertreten schon den Grund des Rotkollers, der dem vierschrötigen Seemann bis unter die grauen Haarbüschel stieg.

»Neues von der Admiralität?«

»Ja«, sagte Sir Warrington, R. N., bitter. »Neuigkeiten, daß ich, wenn ich jetzt auf See wäre, meine Flagge halbstock setzen möchte.«

»Die ›Heidelberg‹?«

»Der höllische Kasten ist uns glücklich entwischt. Er ankert heil und sicher in einem norwegischen Fjord innerhalb der neutralen Dreimeilenzone.«

»Und unsere Schiffe?«

». . . liegen davor wie die Hunde vor dem Fuchs in der Erde!«

»Kann man ihn nicht ausgraben?«

»In fremden Gewässern? . . . Unsere Schiffe können den Piraten sogar von der See aus sehen. Er liegt frech inmitten der Bucht, so weit nach hinten, als es der Ankergrund gestattet . . . dicht am Land . . . Sie können ihn sehen und dürfen ihm nicht den Fangschuß geben . . .«

»Es ist schmählich . . .«

»Ich möchte heute nacht in der Saint-Pauls-Kathedrale sein«, sagte der Admiral mit einem unheilverkündenden Zucken um die bartlosen wulstigen Lippen. »Weil sich Nelson dort in seinem Grabe umdrehen wird . . .«

»Oh . . . oh . . .«

» . . .weil er, wenn er mich sieht, aus seinem Sarg steigen und mir mit seinem einen Arm einen Boxerschlag unter die Nase pflanzen wird, um britische Seeleute an ihre Pflicht zu erinnern . . .«

»Nicht so hitzig, alter Warrington!«

». . . weil er mir sein Loch im Leib von Trafalgar zeigen wird, Gentlemen, und fragen: Warum haltet ihr höllischen Burschen die Meere nicht rein? Nichts hat auf den Meeren zu fliegen als die Möwen und der Union Jack! In dem Fjord da drüben aber hängt vom Mast ein Stück Zeug, das es zu meiner Zeit gar nicht gab . . .«

»Es muß herunter!«

»Mein Großoheim«, sagte der Lord Harald von St. Asaphs, »war als Midshipman dabei, als Nelson vor hundert Jahren nach Kopenhagen fuhr und die dänische Flotte zur Aufbewahrung mit nach England nahm . . .«

»Ein glorreicher Tag!«

»Es war Frieden. Aber es schien ihm trotzdem nützlich, Kopenhagen zu bombardieren. Die Stadt brannte. Die Dänen steckten weiße Fahnen heraus. Seine Umgebung machte Nelson darauf aufmerksam. Ihr wißt alle, was Nelson tat. Er hielt sein Fernrohr vor sein blindes Auge und sagte: ›Ich kann keine weiße Fahne sehen . . .‹ und die Breitseiten feuerten weiter . . .«

»Ein guter Spaß . . .«

»Wenn Nelson sich täuschte, kann sich jeder britische Seemann einmal täuschen. Er kann plötzlich wähnen, noch außerhalb der neutralen Zone zu sein . . .«

»Oh . . . hört auf Saint Asaphs!«

». . . und so das Feuer auf den Feind eröffnen . . . Es wird ihm betrübend sein, zu spät, wenn das feindliche Schiff schon gesunken ist, zu erkennen, daß er in einem Navigationsirrtum befangen war . . .«

»Hört! Hört auf Seine Herrlichkeit!«

»Nichts wäre falscher, als nicht dann der neutralen Regierung jede Art von britischem Bedauern auszudrücken. Nichts darf härter sein als der öffentliche Verweis an den schuldigen Kapitän.«

»Ich schlage vor, daß wir ihn zum Frühstück einladen!«

»Wahrscheinlich liegt die ›Heidelberg‹ überhaupt gar nicht auf neutralem Grund.«

»Ich glaube es beinahe selbst!«

»Der Freibeuter hat uns so oft überraschend angefallen«, sagte der Marqueß St. Asaphs. »Nun können wir ihn einmal überfallen.«

»Bei Nacht!«

»Unversehens!«

»Er sinkt, ehe er zum Schuß kommt.«

»Die Mannschaft geht mit zur Hölle.«

»Ich wünschte, wir nähmen den Kapitän Lürsen gefangen!«

»Oh – wirklich, Marqueß Saint Asaphs?«

»In der Tat«, sagte Lord Harald und lachte. »Man sollte ihn mit großem Pomp nach England bringen. Die Zeitungen der ganzen Welt müßten darüber berichten. Der Hafen, wo er landet, müßte schwarz von Menschen sein. Ich würde mich freuen, ihn hier in England zu wissen. Es wäre ein Triumph!«

»Sehr wahr!«

»Halloah – so finster, alter Warrington?«

Der Admiral schob grimmig den brutalen Unterkiefer vor. Er glich jetzt weniger einer Bulldogge als einem guten, scheinheiligen Schauspieler.

»Es ist zu gut, um wahr zu sein«, sagte er. »Niemals können britische Behörden einen Bruch des Völkerrechts dulden! Strengste Befehle hierüber sind an jedermann in der Königlichen Flotte gegeben und werden zu rechter Zeit erneuert . . .«

»Wie schade!«

»Bitter, zu hören . . .«

»Aber nicht zu ändern!« sagte Sir James Warrington, R. N. Der Lord St. Asaphs begleitete ihn bis auf die Straße hinaus. Draußen fragte er:

»Wer befehligt unsere Schiffe vor dem Fjord?«

»Captain Brown. Captain Quick. Captain Pilgrim. Sir Sommerville . . .«

»Ich kenne sie nicht. Aber ich hätte Lust, ihnen allen drahtlos zu telegrafieren: Seid Männer, tut eure Pflicht . . . Vorwärts!«

»Es tut nicht not.«

»Was heißt das?«

Der Admiral sah sich um. Es war niemand in Hörweite. Trotzdem dämpfte er die heisere Stimme.

»Weil solche Depeschen schon unterwegs sein mögen.«

»Was . . .«

»Und von Männern von noch höherem Rang als Sie, Lord Marqueß!«

»Oh – taten Sie das?«

»Ja. Ich komme von der Admiralität. Sie weiß von nichts.«

Der Mond trat aus dem zerrissen dahinjagenden Gewölk. Er übergoß mit seinem geisterblauen Licht drüben auf der schwindelnd hohen Nelsonsäule von Trafalgar-Square den einäugigen und einarmigen Zerstörer von Kopenhagen. Die beiden lebenden Briten unten lachten. Atmeten auf. Nickten sich zu, erlöst in dem Gedanken, daß gesunder angelsächsischer Sinn zur See die Oberhand gewonnen. Sir James Warrington sagte trocken:

»Niemand weiß etwas! . . . Aber ich habe allen Grund, anzunehmen, daß der alte Mond in dieser Stunde auch drüben in den Fjord scheint und unserem guten Captain Quick mit seinem Dreadnought helles Licht für seine achtzehnzölligen Geschütze gibt. Es wird ihn nachher schmerzlich erschüttern, wenn er seinen Irrtum erkennt. Aber dann ist es zu spät . . .«

 


 << zurück weiter >>