Rudolph Stratz
Das freie Meer
Rudolph Stratz

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8

Das Rollen der Räder verlor sich in der Ferne. Der Wind verschlang es. Er pfiff von dem weißen Kalk der Küste her über die Grashalden und die Wiesengründe des nächtigen Hügellandes, so wie er eigentlich immer über England hinpfiff. Es war der altgewohnte Klang für britische Ohren bei Tag und bei Nacht . . .

Erich Lürsen stand, die Hände in den Taschen seines britischen Mantels, die britische Mütze tief in die Stirne gedrückt, sehr ernsthaft auf dem niederen Hügel über dem Meer. Unten schwappte, in regelmäßigen Zeitabständen, der schwere Klatsch der Brandung. Zuweilen, wenn der Mond wieder einen flüchtigen Blick auf die Erde warf, sah man das Weiß der Schaumkämme in der Tiefe und seitwärts, auf den Höhen, das Weiß einiger zerstreut liegender Landhäuser, wie man sie überall im Inselreich als kleine backsteinerne Merkmale des Müßigganges fand. Sie standen ganz still, ohne Acht und Leben, in der Nacht. Nicht einmal ein Hund bellte. Aber aus der Ferne, wo ein Städtchen oder einer der unzähligen Badeorte am Strand sich hinzuziehen schien, trug der Wind verwehten Trommelwirbel her und Hornstöße. Und Erich Lürsen sagte sich sorgenvoll:

»Das gilt ja nun wohl mir . . .«

Und nachdem er wieder eine Weile sinnend gestanden:

»Klock vier wird die Luft sichtig! . . . Nu mal fixing . . .«

Der Mond schien wieder hell. Kein Mensch war in der Nähe. Nur die stillen weißen Häuser drüben. Wie er das vorderste friedsame Cottage anschaute, dachte er plötzlich an Belgien. Dort in Flandern konnte man im Herbst vorigen Jahres, zu Beginn des Krieges, es sich auch nicht anders vorstellen, als daß ein Haus nur noch halb dastand, ohne Dach oder wenigstens mit Volltreffern in der Seite. Gerade so gähnte jetzt vor dem Kapitän Lürsen in der Mauer des englischen Landsitzes ein Granatentreffer. Schwarz, beinahe kreisrund, so groß, daß ein Mann bequem durch ihn ins Innere steigen konnte.

Eine deutsche Granate . . . von der See her. Ein Funkspruch, der während der Überfahrt an Bord des ›Acheron‹ gelangt war, fiel Erich Lürsen ein. Die Briten hatten ihm mißbilligend erzählt, daß deutsche Schiffe heimtückisch im Morgennebel die englische Südostküste überfallen hätten! Jetzt begriff er auch, warum das weiße Haus verlassen schien. Und ebenso dessen Nachbar. Der Krieg war ein gutes Ding für das Festland. Hier auf den britischen Inseln wünschte man keine Granatsplitter zum Tee. Man packte lieber seine Koffer. In dem Wohnraum des Hauses, in das sich der Kapitän Lürsen nach kurzem Besinnen durch das Granatloch schwang, lag im ersten fahlen Frühdämmern noch alles wie Kraut und Rüben durcheinander. Cakes, Angelgerät, eine Bibel, ein Topf Ingwer, ein Teekessel, eine Beitragsliste zum Kirchenbau in Hongkong, die Abrechnung eines Stockmaklers über eine Opiumspekulation, eine Mitgliedskarte des ›Golfers Club‹ aus Whitecourt. Die Schriftstücke waren aus dem offenstehenden Kassenschrank in der Ecke gefallen. Der Schlüssel steckte noch in ihm. Es schien, daß der Bewohner des Hauses ein älterer Junggeselle aus der City war, der hier das Wochenende beschaulich zu verbringen pflegte und beim Nahen der Deutschen in fliegender Eile das Weite gesucht hatte, statt sich dem morgendlichen Golfsport zu widmen, zu dem schon nebenan alles über einem Stuhl bereitlag, von der Tellermütze, dem graugelben Gürtelrock und den Pumphosen bis zu den gelb geringelten Kniestrümpfen und den gelben Schnürschuhen.

Der Kapitän Lürsen legte das alles an, bedächtig, aber ohne eine Minute Zeit zu verlieren. Als er fertig war, graute draußen schon der helle Tag, und er sah im Spiegel einen britischen Gentleman vor sich, so ehrbar wie nur irgendeiner in England und Wales heute morgen, unbekümmert um den Krieg, mit geschwungener Keule den roten Ball über das grüne Gras senden würde.

Während er mit den vorgefundenen Albertkeks seinen Hunger stillte, sah er mit einem freundlichen Lächeln, wie auf einen alten Bekannten, auf den Kassenschrank in der Ecke, die Seele Englands, die ihm da ihre Arme öffnete, schob die ganze abgelegte Marineuniform hinein, sperrte zu und steckte den Schlüssel in die Tasche – leise, ganz leise – mit angehaltenem Atem. Er hörte draußen Schritte. Gleich darauf schrillte die Hausglocke durch die Morgenstille. Die Klinke des Eingangstors bewegte sich durch einen Griff von außen. Gab nicht nach. Der geflohene Gentleman war ein Mann der Ordnung. Er hatte sein Haus beim Weggehen vorn pünktlich wie immer verschlossen, trotz des Seiteneingangs, den die Granate geschossen.

»Hallo! Niemand da drinnen?«

»Wir müssen um das Ding herumgehen, Bob. Oh – da ist ein Einsteigloch!«

Nein – zwei, dachte sich der Kapitän Lürsen. Der halbmannslange stählerne deutsche Zuckerhut war durch das Kartenhaus, ohne es zu zerstören, glatt durchgegangen und erst im Freien geborsten. Durch den Ausschuß schlüpfte, während die beiden Briten noch, an ihrem Schnurrbart kauend, vor dem vorderen Loch standen, ein dritter englischer Gentleman hinten behende heraus, sprang den Hügel hinab, ging, außer Sicht, mit der Ruhe eines achtungswerten Tausendpfundmannes aus der City den Feldweg weiter, an einem verlassenen Brei von Lafettensplittern, Betonbrocken, geschwärzten Geschützrohren vorbei, der wahrscheinlich vor ein paar Tagen noch eine englische Küstenbatterie gewesen. Ihrer Nähe waren die harmlosen Landhäuser oben mit zum Opfer gefallen. Um die Trümmer der Schanze flitzte es rasch und lautlos durch die Wegkrümmung heran. Ein bewaffneter Polizist sprang vom Rade.

»Guten Morgen, Sir.«

»Guten Morgen! Ein liebliches Wetter heute . . .«

»Oh, wahrlich! Wohin des Wegs, Sir!«

Der Kapitän Lürsen machte ein erstauntes Gesicht, um Zeit zur Besinnung zu haben. Wohin ging man wohl? Golf? Die Links lagen noch verödet. Es war zu früh. Aber ein Ziel gab es in England immer: Er antwortete im strafenden Ton eines Gentleman zu einer unbritischen Frage:

»Zum Rennen.«

Es schien in der Tat heute in der Nähe ein großes Rennen zu sein. Denn der Polizist sagte sofort befriedigt:

»Oh – ich sehe!«

Und dann wieder im Zweifel:

»So früh?«

»Ich muß mich vor Abgang des Zuges noch in der Stadt umziehen.«

»O ja! . . . Zwei Worte, Sir: sahen Sie einen britischen Seeoffizier in Uniform?«

»In der Tat, vor kaum fünf Minuten.«

»Oh – lassen Sie hören!«

»Da hinten, wo ich herkomme. Es mag noch nicht eine halbe Meile von hier sein.«

»Wie schaute er aus?«

»Wie ein jüngerer Captain der Flotte . . .«

»Sprachen Sie mit ihm?«

»Allerdings . . . Darf ich offen sein? . . . Brite gegen Brite?«

»Ich bitte darum, Sir!«

»Er frug mich nach dem Weg zu den nächsten Fischerbooten, so als wenn er segeln wollte . . .«

»Aha . . .«

»Aber sein Englisch – war deutsch gefärbt!«

Der Kapitän Erich Lürsen sprach jetzt auf einmal ein so tadelloses Englisch, mit einem ganz leisen Stich in das Londoner Cockney, wie es die Briten an Bord des ›Acheron‹ nie von ihm vernommen hatten. Er dämpfte seine Stimme noch mehr. Sein Antlitz war entrüstet und bekümmert zugleich.

Hat man deswegen den Prinzen Battenberg von der Spitze der Flotte entfernt, damit einer seiner einstigen Landsleute hier . . . ich wage es nicht auszusprechen . . .«

»Es ist ein Spion, Sir!«

»Armes England!«

»Aber seine Zeit ist gezählt. Danke Ihnen, Sir.«

Der Polizist stieß einen Pfiff auf einer Trillerpfeife aus. Andere Pfiffe antworteten. Behelmte Köpfe erschienen über den Hügelrändern.

»Der Gentleman hat den Deutschen gesehen!«

»Drei Hurra für den Gentleman!«

»Vorwärts!« Im Wegradeln drehte der Polizist das Gesicht mit der Schuppenkette unter der Nase. »Was halten Sie von Bayardo, Sir?« Und der fremde Herr begriff, daß das, im Sporteifer Alt-Englands, dem heutigen Rennen galt, und schrie zurück:

»Kein besseres Pferd zwischen hier und London!«

Er ging weiter. Vor ihm lag das Seestädtchen in der Morgensonne. Der Himmel war schon lichtblau. Die Luft klar. Aber über dem Meer lagerte noch weithin eine zähe, undurchdringliche, weiße Nebelbank, die jede Fernsicht versperrte.

Verwünschter Bursche! dachte sich der Kapitän Lürsen und meinte nicht den Polizisten von eben, sondern den Unbekannten, dessen Hülle aus schottischem Homespun er trug. Warum mußte man gerade an den philiströsesten Gentleman im Vereinigten Königreich geraten sein? Nichts hatte der Cityman in seinen Taschen gelassen. Keine Karte der Umgegend. Keinen Pfennig Geld. Keinen Ausweis. Und ohne Karte lief man in der Irre. Und ohne Geld litt man Hunger. Und ohne Ausweis fand man jetzt im Kriege nirgends eine Unterkunft für die Nacht.

Der Geldschrankschlüssel flog in das Meer. Große weiße Möwen schossen hungrig herbei und sahen ihn unter mißbilligendem Geschrei versinken. Von dem Badeort aus hatte das niemand gesehen. Da lag noch alles in den Federn. Engländer waren keine Frühaufsteher. Sie gingen dafür lieber etwas eher zu Bett. Es war so still, daß Erich Lürsen das Knarren seiner Schritte auf dem weichen Ufersand hörte. Ein paar umgestülpte Fischerboote lagen da zum Kalfatern auf dem Land. Er setzte sich auf das eine und atmete als Seemann den gewohnten Hauch von Salz und Teer und Tang und toten Quallen und hörte das einschläfernde Glucksen der spielenden Wellen, die in langer, flacher Dünung aus der Nebelwand über See heranliefen, und ließ sich von der Sonne bescheinen. Vor ihm stand, längs der Marine, eine lange Reihe freundlicher Häuschen mit dem Blick auf das Meer, Wochenendsitze der Londoner Broker und Jobber.

»Oh yes!«

»Mr. Benjamin T. Branagans Bayardo, dreijährig . . . ich schätze, er trägt einen Viertelstein zu viel . . .«

»Ich denke nicht so, Mr. Plumkins!«

Auf der Veranda des nächsten Hauses war eine Gruppe Gentlemen erschienen. Sie trugen graue Zylinderhüte und umgehängte Operngläser. Sie wollten auch zum Rennen. Vor der Hand frühstückten sie gründlich und hörten dem Hausherrn zu. Das war ein Mann in den besten Jahren mit seinem großen, runden und roten Gesicht und seiner vierschrötigen Gestalt, das Urbild jenes John Bull, wie ihn die illustrierten Blätter des Inselreichs immer noch als den massiven Aufseher der Schöpfung zu zeichnen liebten.

»Nichts schamloser als dieser Überfall vorigen Dienstag«, sagte er, die Milch über den Haferbrei gießend. »Welch eine schimpfliche Belästigung einer offenen Stadt!«

»Ich fürchte, die Deutschen suchten die Batterie, gleich da hinter der Kirche, Mr. Plumkins.«

»Oh – nichts von der Batterie!« Der Gastgeber fegte sie mit einer Handbewegung aus der Wirklichkeit hinweg. Es war zugleich ein Wink für die Haushälterin, die gebratenen Eier aufzutragen. »Die Seeräuber nahmen die Kirche zum Ziel ihrer Mordlust. Sie werden erst mit ihren Greueln aufhören, wenn sie verhungert sind. Nehmen Sie ein Stück kaltes Fleisch, Mr. Johnston! Es ist Hammel von der schottischen Salzküste.«

»Da würden aber auch die Frauen und Kinder in Deutschland hungern!«

»So hoffe ich! So hoffe ich ernstlich, Sir! Es gibt kein besseres Mittel! . . . Etwas Schinken, wenn ich bitten darf.«

Der Mann auf dem Boot unten hörte jedes Wort der lauten Unterhaltung, aber er wandte nicht den Kopf. Er richtete ihn lieber nach dem Nebel über dem Meer, wo sich nichts in dem schattenhaften Grau regte, oder doch? . . . In seine blauen Seemannsaugen kam ein spähender Glanz: Es war da etwas, kaum sichtbar, wie Spinnweb in der Luft . . . wie fadendünne Masten und Rahen . . .

»Die Hungerkur bewährte sich an den Iren, Gentlemen. Früher waren ihre Lippen vom Grasessen grün! So hungerten sie. Mein Urgroßvater lachte noch oft darüber und nannte deswegen das Land die grüne Insel!«

»Hört, was Plumkins sagt . . .«

Die Schattenschiffe wuchsen. Dunkle Rauchstreifen hoben sich vom Blei des Meeres.

»Das Jam . . . danke . . . oh, greifen Sie doch nach den heißen Buttertoasts . . . Kein Land in Europa sollte andere Lebensmittel haben, als die ihm England gibt oder nicht gibt . . .«

»Sehr weise!«

Die Schatten der Gespensterschiffe kamen unheimlich schnell näher. Gleich dräuenden Luftspiegelungen glitten sie durch Nebel und Flut.

Der Mann mit dem John-Bull-Kopf auf der Veranda nahm sich einen großen Hummer von der Schüssel, der ebenso rot war wie sein eigenes Gesicht.

»Nichts vorteilhafter als ständig von Hunger geschwächte Völker«, sagt er. »Sie arbeiten viel besser als andere.«

»Plumkins hat immer recht!«

»Kaffern und Kulis muß man die Rippen zählen können, wenn sie nützliches Werk für uns tun sollen!«

»Den Hindus auch!«

»Den Fellachen!«

»Den Deutschen!«

Die Umrisse der Schiffe waren jetzt ungeheuer geworden. Der Nebel vergrößerte noch ihre Formen in das Phantastische. Sie drehten langsam bei. Es waren ihrer drei. Der Kapitän Lürsen beobachtete sie mit fieberhaft gespannten Augen. Die Gentlemen in der Laube über ihm schauten nicht hin. Sie kauten.

»Wenn überhaupt Deutsche nach diesem Krieg übrigbleiben!«

»Plumkins spricht wie ein Brite.«

»Ich habe das Ding reiflich überlegt und gefunden: Deutsche sollten besser nicht auf der Welt sein.«

»Wahr!«

»Krieg tötet nur die Männer. Aber nicht das Volk.«

»Richtig!«

»Also brauchen wir eine Form des Krieges, die das ganze deutsche Volk tötet.«

Rasch wie ein Schatten stieg aus den eisgrauen Panzern drüben ein weißer Ballen den Mast empor zum Top, entfaltete sich, zeigte jäh ein mächtiges schwarzes Eisernes Kreuz, das furchtbare Zeichen für den flammenden Erdball: das Deutsche Reich im Krieg . . . Der Kapitän Lürsen hatte den Mund offen, starrte hinüber wie der Jäger auf dem Anstand.

»Darum bin ich kein Freund der lärmenden flandrischen Methoden. Ich ziehe nach ernstlicher Abschätzung den Hunger vor . . . Man hört ihn nicht. Man sieht ihn kaum. Er wirkt so ruhig und sicher, wie sich mein Geld verzinst. Die Deutschen sollen nur verhungern . . . Nun, Gentlemen, ich denke, wir sind satt . . .«

»Was ist in den Mann da unten gefahren?«

»Er rennt, was er kann, um die Ecke!«

Ein schwacher, kleiner roter Blitz flammte drüben im Nebel auf. Mr. Plumkins ließ das Mundtuch, mit dem er sich eben die wulstigen Lippen wischen wollte, sinken. Sein rotes Gesicht verzerrte sich. Die kleinen Augen quollen weißlich aus den Höhlen.

»Gentlemen . . . die Deutschen!«

»Um Gottes Barmherzigkeit . . .«

»Sie schießen!«

»Fort . . . fort . . .!!«

Plumkins kam nicht mehr auf die Beine. Die Veranda zitterte von einem betäubenden Schlag. Die Luft füllte sich mit qualmendem Rauch und Staub. Als sich der Dunst verzog, saß John Bull immer noch auf seinem Stuhl, das Mundtuch in der Hand. Nur fehlte ihm der Mund, um ihn damit zu wischen, und der Kopf dazu. Die anderen rannten durch die Straßen, prallten zurück, rechts und links von ihnen schmetterten die Wetterblitze durch Dächer und Wände, klirrende Ziegel und stürzende Mauern gegen das Versteck der englischen Batterie, die nun auch, aus dem Schatten der Kirche heraus, in schweren donnernden Schlägen antwortete. Dicker Sprengqualm und erstickender Kalkstaub umhüllten in fahler Finsternis das befestigte Städtchen . . . Wie beim Untergang Pompejis stürzten die Menschen, wie sie standen und gingen, auf die Straßen, liefen, ein bißchen Habe unter dem Arm, drehten um, denn auch auf den Höhen, über dem Familienbadeort, lagen schwere englische Batterien, die man bisher nur als liebliche Aussichtspunkte zur Beobachtung der Regatta betrachtet hatte und die nun ihr Feuer spien und empfingen.

»Die Seeräuber . . .«

»Die Mörder . . .«

Jetzt blitzte es jäh auch drüben am Pier vom Lande her. Auch da standen auf einmal britische Geschütze hinter dem Seemannshospital mit dem Roten Kreuz.

»Die Barbaren . . . eine wehrlose Stadt zu überfallen!«

»Welch ein Schandfleck für die Menschheit!«

»Da hat ein Gentleman schon den Verstand verloren!«

»Wo?«

»Der im Golfanzug . . . hinter dem Hause! Steht da und lacht.«

Der Kapitän Erich Lürsen konnte sich nicht helfen. Er lachte wirklich in seinem leidlich gesicherten Stand beim Brüllen der Breitseiten vom Meer. Granaten auf England . . . Granaten in das große Heiligtum der Selbstsucht, das seit acht Jahrhunderten kein Feind mehr betreten. Granaten in die Hochburg der Lüge. Blut über die Blutsauger, die Wucherer der Welt. Granaten über England . . .

Er kannte von Flandern her die Kunst, mit Granaten umzugehen. Der Höllenlärm da vorn war ihm nichts Neues. Aber als nun das Hotel St. George an der Marine plötzlich eine Art Verbeugung zur See hinaus machte und im Handumdrehen in sich selbst zu einem rauchenden Schutthaufen zusammensank, sagte er sich doch: nun sollte ein Mann wohl machen, daß er still wegkommt . . .

Die ersten Straßen und Plätze, deren freie Gefahrstellen er geübt, horchend und sich umschauend, übersprang, waren schon ganz menschenleer. Weiter auswärts holte er leicht mit seinen langen Beinen die steil zur Eisenbahnstation hinauf Flüchtenden ein. Er hörte atemlose Stimmen:

»Es geht noch ein Zug . . .!«

»Sie lassen Züge ab, solange noch eine Lokomotive da ist . . .«

Kein Mensch kümmerte sich um die leeren Schalter. Man stürmte ohne Fahrkarten die abfahrtbereiten Züge. Der Gentleman boxte, die Lady kratzte, eine alte Dame, der Erich Lürsen hineinhalf, biß ihm zum Dank in den Finger. Er selbst zwängte sich hinterher, stand eingekeilt in dem verstörten Britenknäuel und sagte sich:

»Nun weiß ich nicht einmal, wie das Städtchen unten heißt. Und noch weniger, wo ich hinfahre. Das ist ein sonderbarer Tag . . .«

Der Zug raste nach englischer Art dahin. Zuweilen huschte seitlings das buntscheckige Geflacker einer Station vorbei.

Kein Halt. Weiter . . . weiter! Zeit ist Geld!

Nein, dachte sich der Kapitän Lürsen, an die eine Seitentür gepreßt, mit dem Rücken gegen die Fensterscheibe, Zeit ist kein Geld. Denn ich reise vorläufig umsonst. Wahrscheinlich schon eine Stunde oder länger. Aber wie ich die Vettern kenne, heißt es zum Schluß doch immer: Cash! Wahrscheinlich auf der ersten Haltestelle . . . Und dann . . .?

Man sah draußen allmählich wieder deutlich die bis dahin schattenhaft vorüberfliegenden Umrisse der Häuser und Bäume. Die Fahrtgeschwindigkeit hatte sich gemäßigt. Es ruckte und stieß wie beim Kreuzen von Weichen unter den Rädern. Der Bahnkörper war an den Seiten noch locker und frisch geböscht, da wo ihn die deutschen Fliegerbomben aufgewühlt hatten. Geborstene Schwellen und verbogene Schienen lagen im Gras daneben.

»Ein einfältiger Spaß!« sagte der Gentleman mit dem Rennglas am Riemen. »In den Zeitungen hieß es, es seien nur einige Ziegel auf dem Dach einer Waisenanstalt leicht beschädigt worden. Aber in Wirklichkeit wünschte ich, ich träfe im Herbst die Moorhühner so gut wie die Deutschen hier den Eisenbahnabschnitt . . . Man könnte jetzt beinahe nebenherwandern, so langsam fahren wir . . .«

»Man möchte denken, die Seeräuber greifen uns da zu Lande schon wieder an!«

Von der Straße her sprangen drei oder vier Männer an verschiedenen Stellen gleichzeitig gegen den langsam rollenden Zug, liefen nebenher, rissen die Türen auf, schwangen sich ins Innere.

Eine alte Dame fing an zu weinen. Der Gentleman mit dem Operngucker tröstete sie.

»Keine Angst, Madam! Es sind Beamte der Eisenbahngesellschaft. Sie wollen das Fahrgeld einziehen.«

»Ein wenig Platz, Ladies und Gentlemen, wenn's beliebt!«

Der Angestellte zog die Tür, durch die er heraufgesprungen, hinter sich zu. Was vor ihm zwischen den Sitzreihen eingepfercht stand, drängte sich rückwärts gegen die Tür auf der anderen Seite.

»Um Gottes willen . . .«

»Was gib's?«

»Die Tür ist aufgeflogen . . .«

»Der Gentleman im Golfdreß ist hinausgefallen . . .«

»Hat er sich etwas getan?«

»Er muß ein guter Sportsmann sein! Er sprang bemerkenswert geschickt noch im Stürzen ab . . .«

»Überkollerte sich . . .«

»Stand wieder auf . . .«

»Ganz dahinten steht er ja!«

»Lacht und winkt mit der Hand . . .«

»Man sollte dem Gentleman den Oberbefehl in Flandern geben. Er hat mehr Glück als Marschall French.«

»Er ist ein leichtsinniger Bursche!« sagte eine alte Dame. »Er spielte mit dem Griff der Wagentür, so daß sie aufgehen mußte. Ich sah es wohl . . .«

Der Zug hatte jetzt wieder seine volle Geschwindigkeit erlangt und sauste dahin. Der Herr im Knickerbocker schritt schon ein paar Meilen hinter ihm durch den grünen Park, der ihn umgab und ein Teil des großen Parks war, der England hieß.

Liebliche, lächelnde, ländliche Ruhe, wie in Deutschland am Feierabend, war hier, wo das Tagewerk Nichtstun hieß, schon am frühen Morgen. Vor den Türmen und Zinnen des Schlosses drüben schimmerten rote Punkte von Fräcken und schwarzweißes Gewimmel der Meute aus dem saftigen Grün. Der Lord hielt es für gut, jetzt noch im Mai einen letzten Fuchs zu hetzen. Seine keuchenden Pachtbauern drüben in Irland hörten das fröhliche Kläffen der Hunde, das jauchzende »View Hallow!« der Jäger nicht. Vor den blumenumrankten Villen lagen Ladies und Gentlemen im Schatten in Hängematten, lasen, träumten, schäkerten miteinander und mit ihren preisgekrönten Möpsen und Katzen. Indien war weit. Nichts wahrscheinlicher, als daß es dort bei der Arbeit in den fiebrigen Reissümpfen schon recht heiß war. Aber der Rupeewechsel aus Kalkutta fühlte sich so kühl und glatt an wie immer. An den Bächen standen ernsthafte alte Herren, die grünschillernde, künstliche Maifliege am Köder der Forellenangel, und ließen mit einem Schwung, zu dessen Meisterung ein Menschenalter gehörte, die Lockspeise gleich einem Hauch auf die Wasserfläche wehen. Ihre Geschäftebriefe aus der Stadt blieben indes liegen. Die Welt hatte zu warten. Sonst erhöhte die City den Wechseldiskont. Auf den Wiesen rannten Hunderte von hemdsärmeligen Männern und Burschen hinter dem Fußball. Was heute in der Fabrik nicht fertig wurde, kam nächste Woche daran.

Sportgründe statt der Äcker, Hammelweiden statt der Gemüsefelder, Parkgruppen statt der Wälder, Tausende von städtischen Ruhesitzen statt der Dörfer. Der Kapitän Lürsen dachte sich, während er seines Weges wanderte: An sich ist's überall gleich, wo man auf der Verbrecherinsel herumläuft. Aber irgendwohin muß der Mensch doch schließlich kommen . . .

Ein tiefer Hornstoß ließ ihn zur Seite springen . . . ein Viererzug rollte vorbei. Ein Frühlingsbeet von Damenhüten, eine Malerpalette von grellen Kleidern der Ladies oben auf dem Verdeck, ein steinerner Gentleman mit einem hechtgrauen Zylinder im Nacken auf dem Kutschbock. Reihen von anderen Wagen folgten. Menschen tauchten überall auf. Wurden zu Massen . . . Es war, als zöge irgendein ungeheures Ereignis in der Ferne, so wie die Spinne im Mittelpunkt des Netzes, von allen Seiten Alt-England an sich heran. Es erinnerte den Kapitän Lürsen an den Krieg auf dem Festland: das Wandern grauer Kolonnen auf den Straßen, das Rollen eines Eisenbahnzuges hinter dem anderen, die Staubfahnen der langen Autoreihen . . . solch ein Heerlager im Frieden war die weite Ebene, die sich vor ihm auftat.

Wer England kannte, der kannte auch dies zehntausendköpfige Gewimmel eines großen Renntages, diese Budenstadt von Zelten, diese Wagenburgen, diese Taschenspieler und Feuerschlucker, die vorläufig den Leuten die Zeit vertrieben, diese riesigen Plakate auf Stangen und darunter, verrückt hergerichtet, in grellen Kleidern und seltsamen Hüten wie die Marktschreier, die Volksbuchmacher auf ihrem erhöhten Stand, die pralle Geldkatze an der Seite.

»Bayardo eins zu zwei!« Der dicke Kerl in zebragestreiftem Rock heulte es beinah von seiner Tonne. Was Krieg! Was Fliegernot und Küstenangriff! Was Flammenmeere und Blutströme in Europa! . . . Hier war England, hier Pferdebeine und grüner Rasen. »Bayardo eins zu sieben Achtel!« brüllte der hagere Budennachbar im weißen Harlekingewand. Die Menge lachte . . . Fabrikmädchen legten ihre Sixpences zusammen und beratschlagten erregt. Bayardo hatte heute nacht einmal gehustet. Die Spione hatten es trotz der Wächterkette um den Paddock deutlich gehört. Es stand im letzten Extrablatt . . .

Das Blatt lag auf der Erde. Der Kapitän Lürsen hob es auf und las wieder, daß Bayardo Mr. Benjamin T. Branagan gehörte. Mr. Branagan aus Ohio, U. S., Mr. Branagan, der Mann, der die Kontrolle über die Kanaan Steel Company und ihre neuen Granatenfabriken hatte, Mr. Branagan, der neue Mann in England.

Er ging da, klein und breitschultrig, die besonnte Würde des Emporkömmlings um die grausam herabgezogenen Mundwinkel des verschrumpften Apfelgesichts, äußerlich jetzt schon sorgfältig von dem ersten Cityschneider in einen britischen Sportsman verkleidet. Er war ein Menschenkenner. Er vergaß niemals ein Gesicht und erinnerte sich an alles, was er jemals mit jemandem im Leben gesprochen. Nur einen Augenblick überlegte er, während ihm der jüngere, glattrasierte Gentleman in dem Golfanzug mit freiem amerikanischem Lächeln die Hand hinhielt, und drückte sie dann kräftig.

»Oh – ich sehe: Mr. Lumley aus Illinois! Wir trafen uns vor ein paar Monaten in Cadix . . .«

»So ist's!«

». . . in jener Nacht, da dies Teufelsschiff, die ›Heidelberg‹, die besten Köpfe bluffte . . .«

»Oh – leider!«

»Ich bemerkte Sie nicht mehr am nächsten Morgen . . .«

»Ich war schon früh mit meinem Auto weitergefahren, Mr. Branagan.«

»Oh – ich entsinne mich. Sie wollten an der Westfront Berechnungen machen, um wieviel die giftigen Gase die Granatenlieferung verteuerten. Ich habe jetzt eine neue Art ganz tödlichen Rauches erfunden . . . unser Kurs stieg in Wall Street am selben Tag um vierzig Punkte . . .«

»Meinen Glückwunsch . . .«

»Danke, Mr. Lumley – danke! Man tut, was man kann. Und waren Sie mit der Wirkung Ihrer Geschütze in den letzten Monaten zufrieden?«

»Oh – so ziemlich!« sagte Mr. Lumley bescheiden.

»Kommen Sie mit hinein auf den Platz!«

»In Kniehosen, Mr. Branagan? Es würde die Ladies erschrecken. Niemals, seit England besteht, sah man einen Mann im Golfanzug unter Rennpferden.«

»Heute doch! Sie sind nicht der einzige . . . ich sah drinnen schon manchen, der sich wie Sie vor dem Überfall der Deutschen landeinwärts begab . . . so ist es doch?«

»In der Tat. Ich wollte den Sonntag zur Erholung vom Geschäft auf der Seeseite verbringen . . .«

». . . und werden statt dessen hier durch die Rennen entschädigt!«

». . . in denen ein so glorreiches Pferd wie Ihr Bayardo der anderen Gesellschaft die Eisen zeigen sollte.«

»Nicht wahr?« sagte Benjamin T. Branagan erfreut. Pferde waren ihm an sich, nach dem Lauf seines Lebens, so gleichgültig wie Ratten. Aber die Engländer liebten gerade diese Art Säugetiere . . . hätten sie statt dessen Meerschweinchen oder Känguruhs laufen lassen, so würde er auch für solche, ohne mit der Wimper zu zucken, seine Fünftausendpfundschecks ausgefüllt haben. Er war so blind ein Höriger des Lords, wie drüben seine Damen von jenseits des großen Wassers zwischen den betitelten Ladies mit einer bei ihnen ganz ungewohnten Bescheidenheit und glücklich wie im Paradiese saßen. Er selbst hatte schon die frohgelaunte britische Gönnermiene an sich, während er seinen Freund Lumley an den stumm grüßenden Dienern am Eingang vorbei zu der Tribüne der Klubmitglieder und ihrer Gäste führte.

»Wenn Sie zu wetten gedenken, Lumley – dort steht mein Bookie!«

»Leider steckte ich für meinen Sonntagsausflug nur das Allernötigste ein.«

»Oh – O'Kelly schreibt Ihnen ein Guthaben.«

Mr. T. Branagan führte seinen Landsmann selbst zu der scheidenden Schranke zwischen der Klubtribüne und dem ersten Platz, an deren Drahtgitter außen die vornehmen Buchmacher lehnten, Bleistift und Notizbuch in der Hand.

»Wieviel auf Bayardo, Mr. Lumley?«

Und Mr. Lumley dachte sich: ich bin Amerikaner. Also frech!

»Nur eine Kleinigkeit. Sagen wir tausend Pfund.«

»Recht gern, Herr!« Der Buchmacher schrieb es sich geschäftsmäßig auf, und Benjamin T. Branagan meinte leutselig:

»Sie werden den Tip nicht bereuen, mein teurer Lumley.«

Was dieser kleine, vierschrötige Mann mit der hellen näselnden Kinderstimme und dem zeitlosen, verrunzelten Gesicht nur mit den Fingerspitzen anfaßte, das wurde zu Gold – mochte das ein neuer Wuchertrust in Amerika, ein geraubtes Altarbild aus Italien oder ein englischer Vollblüter sein. Als inmitten eines ungeheuren Stimmengebrauses die Gewinn-Nummern am Pfahl aufstiegen, fand sich, wie Bayardos andere Anhänger, auch Mr. Charles Lumley aus Illinois um achthundert Pfund reicher. Er wettete in den folgenden Rennen noch ein paar kleinere Posten, verlor und gewann und steckte am Ende des Tages zerstreut das dicke Banknotenbündel, das ihm der Buchmacher O'Kelly als Gewinn übergab, in die leere Brusttasche. Der Besitzer des Golfanzuges hatte da wenigstens ein Taschentuch steckenlassen, und Charles Lumley dachte sich: vorläufig sorgt England ja ganz nett für mich!

Aber in diesem Augenblick standen zwei Herren unauffällig neben ihm, und der eine sagte halblaut und freundlich:

»Ihre Ausweise, wenn es beliebt, Sir!«

»Oh – was wünschen Sie?«

Seit der Begegnung mit seinem Landsmann Benjamin T. Branagan sprach Mr. Lumley wieder, wie damals in Cadix, das unverkennbarste, zerquetschte Yankee-Englisch.

»Ich bin Amerikaner!«

»Ich höre es an Ihrer Aussprache, Sir. Nichts ist sicherer, als daß Ihr Paß das bestätigen wird.«

»Ich habe keinen bei mir!«

»Warum nicht, Sir? . . . Es ist Krieg . . . Jeder Fremde in England muß bereit sein, sich auszuweisen.«

»Oh, wie wahr!« sagte Mr. Lumley lebhaft. »Ist schon etwas über den Verbleib der englischen Flotte bekanntgeworden, Sir?«

»Wie kommen Sie darauf?«

»Die Frage drängte sich mir heute früh auf, als ich in meinem Hotelzimmer an See durch eine deutsche Granate geweckt wurde, die ziemlich unter meinem Bett explodierte . . .«

»Oh – Sir . . .«

»Niemand störte die Deutschen bei ihrem Wettschießen, wer von ihnen rascher Briten und ihre Gäste ins Jenseits befördern könne . . . Ich hatte wahrlich keine Zeit, mich um meinen Paß zu kümmern. Ich sprang wie ein Baseball-Spieler ins Freie. Gleich hinter mir legte sich das Hotel auf die Seite und war nicht mehr.«

»Welches!«

»Saint George!«

Die beiden Beamten tauschten einen Blick des Einverständnisses. Das stimmte. Der eine meinte lächelnd:

»Es ist ja nur eine Formsache, Sir. Spione sind im Land. Es erging Befehl, auf alle Ausländer ein Auge zu haben.«

»Sehe ich aus wie ein Deutscher?«

»Wahrlich nicht! Nennen Sie uns einen oder zwei Ihrer Freunde hier auf dem Rennplatz. Dann wird alles erledigt sein.«

Mr. Lumley sah suchend umher, als müsse er sich erst aus der Masse bekannter Gesichter in der Runde die vertrauenswürdigsten auswählen. Dort drüben fand er Benjamin T. Branagan. Der Granatenkönig schaute ehrfurchtsvoll lächelnd wie zu einem höheren Wesen zu einem riesigen, tiefbrünetten jüngeren Engländer vor ihm empor. Ein Widerschein dieser Andacht lag auch auf den Mienen der in stummer Neugier im Rund gescharten Briten. Ein Halbgott weilte unter dem Volk . . . der Markgraf Harald von St. Asaphs, der Erbe des Herzogs von Chichester. Er stand breitbeinig, die Hände in den Taschen, gleich einem gewöhnlichen Sterblichen da und unterhielt sich lächelnd mit den beglückten Ladies und Gentlemen und nickte lebhaft, als Benjamin T. Branagan ihn auf seinen Freund Lumley aufmerksam machte.

»Ich stellte ihn Ihnen in Cadix vor, Mylord.«

Lord Harald hatte keine Ahnung mehr.

»Was macht der Gentleman?«

»Die besten Granaten für die Verbündeten, Mylord.«

»Oh – wie gut von ihm!«

Die Menge umher sah mit ehrerbietiger Anteilnahme, daß der Peerserbe drei Schritte dem fremden Gentleman entgegenging und ihm gewinnend die mächtige weiße Hand entgegenstreckte.

»Froh, Sie wieder einmal zu sehen, Mr. Lumley! Wie geht's?«

»Danke, Euer Herrlichkeit.«

»Nichts war mir erwünschter zu hören, als daß Sie die Munitionsherstellung kontrollieren.«

»Wenn ich nicht durch diese Herren daran gehindert werde . . .«

»Oh . . . nein . . . nein . . .«

»Alles in Ordnung, Mr. Lumley!«

»Ein kleines Mißverständnis . . .«

Ein Händedruck Seiner Höchsten Ehren des Marqueß von St. Asaphs war mehr wert als ein Paß. Seine herzlichen Worte machten jeden Anflug eines Argwohns lächerlich. Die beiden Beamten von Scotland-Yard zogen sich geräuschlos und eilig mit einem um Verzeihung bittenden Lächeln zurück. Lord Harald runzelte, als er von dem Sachverhalt erfuhr, noch nachträglich die Stirne.

»Ist es nicht merkwürdig«, sagte er, »daß die Polizei in allen Ländern Dummheiten macht? Auch bei uns. Diese heillosen Burschen sollen verkappte Deutsche fangen und geraten dabei auf Sie! . . . Oh – ich bin befriedigt, daß Sie es heiter auffassen, Mr. Lumley . . .«

»Ich muß in der Tat über den Zwischenfall lachen, Mylord.«

»Dabei braucht die Polizei nur ihre Augen aufzusperren. Es wimmelt in unserem armen alten England von heimlichen Deutschen . . .«

»Man sollte es nicht für möglich halten, Euer Herrlichkeit!«

»Sie sind überall . . . man kann ihnen nicht entgehen . . . ich möchte wetten, daß sogar hier auf dem Rennplatz in diesem Augenblick welche unter uns sind.«

»Unglaublich!«

»Und statt die Deutschen auszuräuchern, belästigt man Sie! Ich muß im Namen Englands um Entschuldigung bitten, Mr. Lumley.«

»Erwähnen Sie es nicht, mein Lord Marqueß!«

»Ich möchte es gern gutmachen . . . Eben erzählt mir Mr. Branagan, wie grausam Sie in Ihrem stillen Sonntag an der Seeküste gestört wurden. Erlauben Sie mir. Sie zu bitten, dafür diesen Tag bei mir auf Ogmore Castle zuzubringen . . . Wir fahren jetzt gleich zurück.«

»Mylord . . . ich floh, wie ich ging und stand. Das Hotel ist zerstört. Ich muß mich erst in London von Kopf bis Fuß neu ausrüsten.«

»Es ist Sonnabend, Mr. Lumley. Ihre Bank in London ist geschlossen. Alle Läden bis Montag zu . . .«

»Leider wahr, Mylord!«

»Wir werden Ihnen mit allem aushelfen. Da, der gute Craven hat Ihre Gestalt. Er wird Ihnen einen seiner Frackanzüge geben. Los, Craven! Steigen Sie ein, mein lieber Mr. Lumley! Nein, bitte, neben mir! . . .«

»Ich danke von Herzen, Mylord!«

»Craven fährt uns mit hundert Kilometer Geschwindigkeit. Er ist Reverend. Er wird uns morgen den Gottesdienst in der Kapelle halten . . . Sie finden auch sonst allerhand Gäste in Ogmore Castle . . . Hervorragende Fremde, die ihr Weg auf unsere Insel führte! . . . Der Minister Barandiaran aus Paris. Eine Duma-Abordnung aus Petrograd. Mr. Holm, ein Däne. Ein distinguierter Holländer, der Yonkheer Ter Meer mit seiner lieblichen Frau . . .«

Der Daimlerwagen schoß wie ein lautloser, übelduftender Blitz dahin. England lag im Abendschein unter den vergoldeten Lämmerwölkchen am Himmel und selbst so friedlich wie ein Lamm. Wo war da noch etwas von Krieg auf den guten alten Inseln des Roastbeefs und des Gesangbuches, des Kurszettels und des Fußballes, der Heilsarmee und der Derby-Cracks, Jacks, des Seemanns, und Tommys, des Landsoldaten, die irgendwo draußen ihren Hafer auf dem Schlachtfeld verdienten wie das Rennpferd auf dem grünen Rasen?

An der Wegkreuzung spähten zwei Männer in das vorbei sausende Auto und traten beim Anblick des Markgrafen ehrfurchtsvoll zurück.

»Wieder Scotland-Yard . . .«

»Geheimpolizei, Mylord? Man sagt, es sei gestern da unten in einem Hafen etwas passiert . . .?«

»Oh – hörten Sie schon davon? Es soll eigentlich noch nicht darüber geredet werden.«

»Jede Neugier liegt mir fern, Mylord.«

»Also unter uns: der Kommandant der ›Heidelberg‹ ist gestern abend in Portsmouth entwichen.«

»Das sieht ihm ähnlich!«

»Nicht wahr? Mir ist das Ding besonders unerwünscht. Denn ich war gerade dafür, ihn mit gesundem Lärm nach England zu bringen, damit der Mann auf der Straße etwas für den Sonntag hat. Nun ist er selber der Mann auf der Straße. So war das nicht gemeint!«

»Niemand begreift Ihre Betrübnis mehr als ich, mein Lord Marqueß!«

»Danke, Mr. Lumley! . . . Ich hoffe, wir bekommen den höllischen Burschen heute noch irgendwo in England zu fassen!«

»Oh – sicher, Mylord!«

»Bekommen wir ihn nicht, so müssen morgen alle Blätter seinen Steckbrief bringen. Es wird keine Urkunde britischer Weisheit, Sir!«

»Mylord, die ganze Welt weiß, daß ein respektables Land nichts dafür kann, wenn die Deutschen mit ihren schmählichen Kniffen die Freiheit seiner Einrichtungen mißbrauchen.«

»Sie trösten mich, Mr. Lumley! Aber es wäre mir doch lieber, wenn ich wüßte, wo Captain Lürsen heute nacht schläft.«

Fern tauchte über lichtgrünen Parkwipfeln das unwahrscheinlich riesige Türmegewimmel des Schlosses Ogmore auf und rückte rasch näher.

Erich Lürsen war, schon von Friedenszeiten her, das Äußere britischer Adelshochburgen auf dem Lande nicht fremd. Und doch mußte sich das Auge immer erst wieder langsam an die ungeheuren Flächenmaße solch eines Hall oder Castle gewöhnen, wie da das Stammschloß des Hauses Glun in seiner vollen Größe mit seinen Terrassenaufbauten und Zinnen lag. Auf den weiten Wiesenflächen davor weidete weißes und buntgeflecktes Damwild. Dicht am Schloß Ogmore schimmerten, noch bunter, helle Damenkleider durch das Grün. Eine Gruppe von Gästen wandelte da, vor dem Dinner, auf der scheinbar endlosen Terrasse in der Abendkühle auf und nieder und kam gerade zum Eingangsportal, als dort der Daimlerwagen hielt. Lord St. Asaphs sprang wohlgelaunt heraus.

»Ladies und Gentlemen . . . Mr. Lumley aus Illinois . . . Guten Abend, Monsieur Barandiaran! Gute Überfahrt aus Paris? Da war keine Unterseepest im Kanal? Wie gut! . . . Ihre Hand, Mr. Holm . . . oh . . . mein lieber Yonkheer Ter Meer, ich bin erfreut. Sie wieder zu begrüßen!«

Der Gentleman aus Illinois hatte so scharfe blaue Augen wie irgendein Seemann der Welt. Mit denen sah er drüben, wo einige Ladies noch in einer Gruppe plaudernd standen, ein zweites Paar große blaue Augen fassungslos und ungläubig auf sich gerichtet, als sei mit ihm ein Geist und nicht ein Mensch erschienen. Und zugleich dachte er sich: Gott sei Dank, daß sie die Frau eines Diplomaten ist und seit vielen Jahren gewohnt, in Gesellschaft sich und ihre Gesichtszüge zu beherrschen . . .

Während man nach dem Schloßeingang schritt, hielt er sich unauffällig neben Johanna Ter Meer. Niemand war in dem Zwielicht in ihrer nächsten Nähe. Er lächelte heiter und forschte in seinem Yankee-Englisch:

»Wenn ich Ihren Gesichtsausdruck recht deute, scheint Ihnen mein Anblick aus irgendeinem Grunde erstaunlich?«

Sie faßte Mut. Sie sagte leise und ungläubig:

»Sie haben einen Doppelgänger, Mr. Lumley.«

»Tja – wie soll der Mann denn wohl heißen?«

Niemand hörte die paar halblauten hanseatischen Worte. Erich Lürsen lachte.

»Als wir uns zuletzt in Bremen sahen«, sagte er gedämpft, »da wünschte ich, daß wir doch einmal während des Krieges in England zusammen sein könnten . . . Das hat sich der liebe Gott gemerkt . . . da sind wir!«

 


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