Rudolph Stratz
Das freie Meer
Rudolph Stratz

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2

Haben Sie die Vermittlung angerufen?«

»Befehl, Herr Hauptmann! Eben meldet sich die Etappe.«

Es schnarrt von weither in den belgischen Kriegsfernsprecher.

»Hier Stationskommandant! . . . Bitte gehorsamst um Entschuldigung: hat vielleicht ein Marinekraftwagen heute an Ihrer Tankstelle Benzin gefaßt?«

»Ein junger Marineoffizier, mit einem Sarg auf dem Auto? Der kam aus Sluysbeke schon vor einer Stunde hier durch . . . Warum?«

»Die Witwe des gefallenen Kameraden und ihre Schwester warten hier auf der Station. Der Leutnant zur See, der den Sarg bringt, ist ihr Bruder. Ich bin gar nicht auf Damen eingerichtet. Es ist hier ein toller Betrieb . . .«

»Na – seien Sie mal hier vorne! Bei Ihnen herrscht ja noch der dickste Friede.«

»Wenigstens kann ich den Damen melden, daß das Auto gleich da sein wird?«

»Frohlocken Sie nicht zu früh. Die Straße ist unter aller Würde. Auf Wiederhören!«

»Auf Wiederhören! Danke gehorsamst, Herr Oberst!«

Der Hauptmann trat aus der Telefonzelle seiner belgischen Eisenbahnstation in das herbstliche Regensprühen und die Windstöße über der weiten Ebene. Er stieg, gewohnheitsgemäß die bespornten Stiefel über die am Boden gespannten Telefon- und Telegrafennotdrähte hebend, quer über die Schienen. Die zitterten dumpf. Ein rotes Kreuz in weißem Feld nach dem anderen rollte langsam auf grauen Güterwagen vorbei und brachte die Verwundeten von Ypern. Schwerer noch dröhnten die Nachbarstränge. Auf ihnen keuchten in entgegengesetzter Richtung die Munitionszüge an die ferne Front. Truppentransporte dazwischen. Weithin lagen auf der Strecke hinten noch drei, vier Züge im freien Feld und warteten. Man sah die ausgestiegenen Gruppen der Offiziere, wie sie, die Hand vor den Augen, ungeduldig nach dem roten oder grünen Einfahrtszeichen spähten. Wieder grollte der Boden unter der Wucht eines durchrollenden Granatentransportes. Verstummte. Dafür kam aus der Ferne der unbestimmte, kaum hörbare Donner des Todes von Ypern. Der Herbstwind stöhnte. Zwischen dem Grau der Krieger auf dem Bahnsteig flatterten schwarze Trauerflore. Der Stationskommandant drängte sich zu ihnen durch.

»Ihr Herr Bruder ist bald hier!«

Johanna Ter Meer stand neben ihrer Schwester und schlug sich den Schleier aus dem Gesicht, das sich in seiner blassen Regelmäßigkeit und seinen blonden Haaren noch schmaler und zarter von der dunklen Umrahmung abhob.

»Und dann wird der Zug hier fahren?«

»Ich werd' das Menschenmöglichste tun, um ihn zwischen zwei Lazarettzügen abzuschieben . . . Was gibt's? Die Linienkommandantur ist am Fernsprecher? Ich komme! Entschuldigen die Damen . . .«

Der Stationskommandant stürzte davon. Der Zug auf dem Nebenstrang, von dem er gesprochen, glich einer Rumpelkammer auf hundert Rädern. Halb zerschmetterte belgische Autos standen auf den Loris, französische Geschütze mit zersiebten Schutzschildern, niedergebrochene Feldküchen, ein durchlöcherter Ponton, zerbrochene englische Gewehre füllten einen Güterwaggon, kranke Pferde einen anderen. Im letzten Wagen saß friedlich harrend eine Schar Krankenschwestern. Ein Johanniter mit weißem Spitzbart zwischen den weißen Kragenausschlägen lief den Zug entlang.

Ein plötzliches Brausen erfüllte den Bahnhof. Ein Zug lief ein. Ein nagelschuhtrampelnder, lachender, drängender Schwall von grauen Helmen, braunen Gesichtern, grauen gerollten Mänteln, braunen Tornistern, grauen Röcken, braunen Gewehrkolben, grauen Hosen, braunen Fäusten überschwemmte die Verpflegungsstation, durchflutete vielhundertköpfig das mächtige Holzgebälk mit seinen Reihen brusthoher Tische ohne Bänke, fing an, stehend und hungrig, sich dabei die Beine von der langen Fahrt vertretend, zu löffeln.

Johanna Ter Meer trat mit ihrer Schwester in den Wind und Regen vor dem Stationsgebäude, unter dessen Vordach eine Reihe alter belgischer Weiber saß und Kartoffeln schälte. Frau von Rüdenberg war einen halben Kopf größer und einige Jahre älter als sie. Ihre bleichen Züge erschienen wie leblos unter dem Witwenschleier. Sie starrte unverwandt auf die schnurgerade, aufgeweichte Landstraße vor ihr, auf der zu beiden Seiten sich die Bäume unter dem grauen, regentriefenden Himmel im Sturm bogen.

Hinter dem verwaschenen Ruß des ausgebrannten Hauses am Hügel lief etwas hervor wie eine flinke graue Maus, glitt den Weg entlang, wurde immer größer.

»Da ist er!«

»Ist ihm denn etwas passiert, daß er immer so im Zickzack fährt?«

»Das ist wegen der Granatlöcher in der Straße«, sagte einer der Krieger, die mit den Schwestern zusammen Wasser holten und ihnen die Kübel trugen. »Bei dem Regen kann keiner wissen, ob das 'ne Pfütze ist oder ein tieferer Trichter.«

Auf dem Bahnhof entstand plötzlich Schweigen. Es bildete sich von selbst eine Gasse. Soldaten waren herbeigeeilt und trugen zu sechst den weißen hölzernen, mit ein paar Astern geschmückten Sarg des gefallenen Rittmeisters hinüber zum Zug. Drüben fuhr das wieder eingestiegene Bataillon gen Ypern weiter. Das stählerne Hurra der Lebenden verklang mit den Grüßen vom Bahnsteig, dem Winken der Schwestern im Brausen des Zuges voll vergilbten Laubgewinds und verwischter Kreideinschriften, verlor sich gen Westen in der Weite. Dann setzte sich auch der zweite Zug, der die Trümmer und Opfer des Krieges gen Osten heimführte, langsam in Bewegung.

»Laß Sibylle ganz in Ruhe, Hans.«

Johanna Ter Meer sagte es leise zu ihrem Bruder.

Der Oberleutnant zur See, Freiherr von Forchheim, war erst in der zweiten Hälfte der Zwanzig. Aber sein glattrasiertes junges Marinegesicht schien seiner Schwester Johanna um vieles älter geworden, seit sie ihn, noch im Frieden, zuletzt gesehen. Antwerpen lag darauf. Die Dünen. Die Yser. Der Krieg, der eben wieder draußen als geköpfter Kirchturm im Nebelgrau, als ein kleines schwärzliches Pompeji eines ehemaligen Dorfes vor den regenblinden Scheiben vorbeizog, der den Wagen erzittern ließ, wenn die Räder über die Schwellen der hölzernen Notbrücken neben gesprengten Steinpfeilern rumpelten, der in dem tiefen Schweigen herrschte, wenn der Zug, der Fliegergefahr wegen verdunkelt, stundenlang in der hereingebrochenen Finsternis auf freier Strecke hielt.

»Begleitest du Sibylle nach Deutschland, Johanna?«

»Ja, gewiß.«

»Du warst noch gar nicht dort seit dem Krieg?«

»Bisher ging es ja nicht. Jetzt erst verkehren ja wieder richtige Züge.«

Es gab einen Krach, einen Stoß, daß sie sich an den Holzbänken des Abteils dritter Klasse festhalten mußten, um nicht herunterzufliegen. Der Zug ruckte zur Weiterfahrt ohne Bremsen und Lichter an, rollte an entgleisten Lokomotiven, an stummen, vermummten Landsturmwachen in einsamer Nacht vorbei, kam glücklich durch das sonst stets verstopfte Schaerbeck nach Brüssel.

Schwere deutsche Soldatentritte hallten vereinzelt unter der mächtigen, tot und leer daliegenden Glaswölbung der Bahnhofshalle, eine Wache schützte den Eingang, Landsturmmänner und belgische Bürgergarde mit blauroten Armbinden sperrten den Platz davor ab, Doppelposten standen daneben vor dem Palasthotel, eine Schar grauer Feldautos war an dessen Eingang aufgefahren. Brüssel war im Krieg. Brüssel war in deutscher Hand.

Der Leutnant von Forchheim hatte alles wegen der morgigen Überführung der Leiche des Schwagers geordnet und folgte jetzt seinen Schwestern in das Hotel. Er ging an der Wachtstube am Eingang rechts vorbei, an dem großen Saal, der jetzt des Abends voll war von Massen von Offizieren in Feldgrau und ein paar weißen Kitteln von Feldärzten darunter, und stieg dann, aus seinem Zimmer kommend, die paar Stufen zu dem kleinen Luxusrestaurant hinten hinauf.

Auch hier war alles besetzt. Der Johanniter hatte sich seine Oberschwester zum Abendbrot eingeladen und saß mit ihr und anderen, Exzellenzen und Herren, deutschen Provinzgouverneuren und Kreischefs von außerhalb, am runden Tisch. An einem anderen Österreicher und preußische Kavalleristen. Daneben Ypern: Herren aus den Schlamm- und Wassergräben Flanderns, die ihre kotbespritzten Mäntel und Mützen in dem beinahe ebenso unkenntlichen Auto gelassen hatten und, ehe sie wieder die Nacht hindurch an die Front zurückjagten, hier stumm wie in einer fremden Welt saßen, wenig aßen, Sekt tranken und gleichgültig den Seitentisch wie einen Affenkäfig betrachteten. An dem thronten zwei Jüngelchen von der Brüsseler Goldenen Jugend in ihren Vatermördern, ihren weibisch in den Hüften geschnittenen Abendjäckchen und kokett geknöpften Lackschuhen, verlebt und blasiert inmitten der wettergebräunten deutschen Offiziere, schlürften ihre Austern und schickten eben den Schloßabzug zurück, weil dem Bordeaux noch zwei Grad Wärme fehlten.

Ein Tisch in der Mitte war nur von einem einzelnen Marineoffizier besetzt. Er schaute gelassen vor sich hin und rauchte. Er hatte ein bartloses, scheinbar sehr ernstes Gesicht, aber dabei einen still-humoristischen Ausdruck in den hellblauen Augen. Wer eintrat, wandte unwillkürlich nach dem Gruß noch einmal den Kopf nach ihm. Denn er trug bereits das Eiserne Kreuz Erster Klasse. Das war in diesen ersten Monaten des Krieges bei der Marine, deren Hauptteil noch keine Gelegenheit gefunden hatte, sich auszuzeichnen, eine große Seltenheit. Auch der junge Forchheim blickte zurück und erkannte den anderen. Der winkte ihm mit der Hand.

»Na«, sagte er langsam und mit dem Tonfall der Wasserkante. Es schien ihm zur Begrüßung genug.

»Guten Abend, Herr Kapitän!«

Der am Tisch trug statt der einen breiten goldenen Ärmeltresse des Oberleutnants deren drei als Zeichen des Korvettenkapitäns. Er war zehn Jahre älter, um die Mitte Dreißig, und ganz hellblond.

»Na«, sagte er wieder, »sind Sie auch noch bei der berittenen Landmarine, kleiner Forchheim? Ich reite schon bannig flott – rechter Zügel Steuerbord, linker Backbord! Schad', daß die Engelschen das nicht sehen . . . Setzen Sie sich doch. Mögen Sie Port? . . . Sonst trinken wir 'was anderes.«

»Danke gehorsamst, Herr Kapitän. Aber ich bin nicht allein.«

»Holen Sie ihn doch!«

»Ich bin mit Damen hier.«

»Tja . . . wie machen Sie denn das?«

Es ging plötzlich wie ein heller Sonnenschein über den trockenen Ernst des Gesichts und zwinkerte vergnüglich um die dünnen, energischen Mundwinkel. Besuch aus der Heimat war in Belgien ausgeschlossen. Es gab hier keine Damen . . .

»Ach, wenn's so wäre, Herr Kapitän! Aber es ist leider eine traurige Sache!«

»Oh . . . so . . .« Das Antlitz des Korvettenkapitäns wurde wieder ernst, plötzlich fast streng, so, wie er im Dienst aussehen mochte. Er hörte zu, wie der Oberleutnant zur See erzählte und damit schloß:

»Ich war eben oben bei ihr. Sie will nur allein mit sich sein diesen Abend. Nun kommt aber meine zweite schwesterliche Liebe in ein paar Minuten hier zu mir herunter.«

»Na – da werd' ich ja wohl ein bißchen nach vorne gehen und Platz machen.«

»Um Gottes willen . . . wir wollen Herrn Kapitän doch nicht vertreiben! Sind Herr Kapitän mit Urlaub hier?«

»Nächster Tage nehme ich Kurs Berlin.«

»Ach, nach Hause . . .?«

»Ja. Ich muß mal endlich was tun.«

Sein Gesicht war nachdenklich, beinahe sorgenvoll, während er das sagte. Der kleine Freiherr von Forchheim war baff und schaute wortlos auf das Eiserne Kreuz Erster Klasse. Der und erst etwas tun! Wenn man an heute vor zwei Wochen dachte . . . Da meinte auch der neben ihm:

»Erinnern Sie sich noch an Antwerpen? . . . Das war fein!«

Der Siegeseinzug in die von den Briten verratene und verlassene Scheldestadt, durch die alten Wälle hindurch, über deren Trümmerwerk noch zwei Nächte zuvor der Abenteurer aus dem Hause Marlborough im Flugzeug wie ein Unglücksvogel der Weltgeschichte gekreist hatte. Die Artillerie, die Ehrenwaffe des Tages, mit ihren blank geputzten Pferden und neuem Lederzeug, die Geschütze mit Herbstblumen bekränzt, die Generale und Admirale zu Pferd, der brausende Massengesang: »Ein' feste Burg ist unser Gott!« Die blauen Augen der beiden deutschen Seemänner leuchteten, und der ältere sagte:

»Ja – das war ja nun wohl der Anfang . . .«

Ein verwegener Zug spielte einen Augenblick über sein glattrasiertes Gesicht, die tolle Lust an Abenteuern. Aber er sagte weiter nichts, sondern schlürfte still seinen Wein, und der Leutnant von Forchheim dachte sich, ob das wohl wahr sei, was man, neben vielen sicher beglaubigten Stücken, von jenem erzählte: daß er in den letzten Tagen der Belagerung, als Brite verkleidet, ein paar Stunden drinnen in dem brennenden Antwerpen gewesen und glücklich mit wertvollen Nachrichten wieder herausgekommen sei? Zuzutrauen war es ihm schon. Er sprach Englisch wie ein Engländer, kannte England wie seine Tasche, sah, wenn er wollte, wie ein Engländer aus und machte in Haltung und Wesen täuschend einen Engländer oder Amerikaner nach. Er besaß überhaupt eine große schauspielerische Begabung in der Richtung zur ernsthaften Komik. Selbst die hohen Herren der Flotte waren, wenn man in der Messe unter sich war, nicht ganz vor ihm sicher.

Plötzlich wandten sich alle Köpfe nach dem Eingang. Nach einem neuen Bild, das da im Rahmen der Tür stand. Dem ungewohnten Bild einer deutschen Dame. Belgierinnen der hohen Brüsseler Gesellschaft kamen öfters hierher, kokettierten mit der Rotenkreuzbinde am Arm. Man erkannte sie an ihrem Französisch, an dem Puder, dem Parfüm, dem brünetten Äußeren. Das da war deutsch. Aschblondes gewelltes Haar über einem schmalen und lebhaften Gesicht von deutschem Schnitt und reiner Hautfarbe, eine schlanke, mittelgroße Gestalt in trauerschwarzem Abendkleid. Johanna Ter Meer zögerte, da sie den Raum voller Männer, alle Tische besetzt sah. Ihr Bruder war schon neben ihr.

»Aber natürlich kannst du dich da hinsetzen! Drüben zwischen den Bonzen sitzt doch auch eine Schwester. Erlaube, daß ich dir Herrn Korvettenkapitän Lürsen vorstelle . . .«

»Ich setze mich bloß, wenn ich Sie nicht etwa vertreibe, Herr Kapitän!«

»Ach – ich bleibe schon«, sagte Erich Lürsen ernsthaft. Sie sah, daß dabei zwei ganz kleine verschmitzte Grübchen rechts und links von seinen Mundwinkeln erschienen. Sie sah auch das Eiserne Kreuz Erster Klasse und machte unwillkürlich eine ganz leise, achtungsvolle Kopfbewegung, ohne etwas zu sprechen. Er merkte es doch. Sein trockenes und still-nüchternes Gesicht veränderte sich nicht, während er sie wohlwollend anschaute. Nur ganz hinten in den Augen flimmerte und plänkelte ein verwegenes Licht.

Ein junger Infanterieleutnant kam herein, steifbeinig von langer Autofahrt, trat zu den Offizieren von Ypern und sagte zur Begrüßung laut und recht von Herzen: »Gott strafe England!«

In ebenso aufrichtigem Baß antwortete der Major: »Gott straf' es!«

Der Leutnant von Forchheim hörte die Stimme, schaute hinüber und sprang jäh auf.

»Was hast du denn, Hans?«

»Da drüben sitzt ja der Major von Gramberg! Der Divisionsadjutant. Das ist eine wahnsinnig wichtige Persönlichkeit!«

»Warum?«

»Das fragst du noch? Von dem kann man, wenn man Glück hat, einen Platz im Auto kriegen!«

Wenn Johanna Ter Meer auch nur ein paar Tage in Belgien war, wußte sie doch schon, daß das Dasein hinter der Front Kampf um den letzten Platz im Auto und Jagd nach dem letzten Tropfen Benzin hieß. Sie wunderte sich also nicht, daß ihr Bruder sich zu kurzem Besuch bei den Herren drüben niederließ und ihnen eindringlich ihre Verdienste um das Vaterland entwickelte, wenn sie ihn bei seiner lächerlich dünnen Taille und seinem Schneidergewicht morgen als Überfracht im Kraftwagen mit zurück an die Front nehmen würden statt der kodderigen Eisenbahnfahrt.

Neben ihr sagte der Kapitän Lürsen:

»Warum machen Sie denn ein so unmutiges Gesicht, gnädige Frau?«

»Ach . . . eben jetzt . . . gelesen habe ich es schon oft in den holländischen und englischen Zeitungen! Aber gehört habe ich es vorhin zum erstenmal . . .«

»Gott strafe England . . .? Fein . . . was?«

»Gott hat uns alle gestraft mit diesem Krieg, nicht nur England . . .«

»Na – da wird er sich ja wohl die cousins nochmal extra auf ein Viertelstündchen beiseitenehmen müssen!«

»Wenn Sie so reden – oder die Herren dort drüben – das verstehe ich . . . Männer, die gegeneinander kämpfen, müssen sich ja schließlich hassen . . .«

»Oh – das geht auch ganz gemütlich, mit kaltem Blut. Ich bin gar nicht so für die Aufregung, Frau Baronin.«

»Aber dieser Haß hinter der Front! Dieser Haß in ganz Deutschland gegen England!«

»Und ich hab' die Vettern so gern«, sagte Erich Lürsen treuherzig.

»Ach, lassen Sie doch den Spott! Ist er denn nicht furchtbar, dieser Haß? Der Krieg wird ja bald ein Ende nehmen. Mein Mann und alle Neutralen sind überzeugt, im Frühjahr ist Schluß. Aber inzwischen vergiftet dieser Haß die ganze Welt und trennt die Menschen auch nach dem Frieden. Sie sehen sich noch mehr gegenseitig im Zerrspiegel als bisher. Der Haß ist der schlimmste Zerrspiegel! Ich komme eben aus England. In England haßt man uns nicht.«

»Dann wollen wir es sie lehren!«

Johanna Ter Meer rang ungeduldig die Hände ineinander. Sie beugte sich etwas vor und sagte, in der Gewohnheit einer Diplomatenfrau, mit fremden Männern und an vielen Orten ernsthaft und gleichberechtigt über politische Dinge zu reden, in einem vertraulichen, halb kameradschaftlichen Ton:

»Man kennt doch bei uns in Deutschland Britannien viel zu wenig. Ewig verwechselt man es mit den paar englischen Inseln. An die Dominions und alles, was da hinten liegt, denkt man gar nicht. Australien, die Südafrikanische Union, Kanada . . . Das ist mit Indien die halbe Erdkugel. Ich kenne die Welt seit zehn Jahren. Ich bin eine gute Deutsche . . . Warum sehen Sie mich auf einmal so an?«

Die blauen Seemannsaugen vor ihr, die etwas von der Farbe und dem Wechselspiel des Meeres hatten, lachten wie zwei Lichter über das unverbrüchlich ernste Gesicht.

»Wenn Sie es sagen, dann kann niemand 'was dagegen sagen, gnädige Frau!«

». . . und gerade weil ich eine gute Deutsche geblieben bin, auch in der Fremde, habe ich nur den einen Wunsch, daß Deutschland und England wieder in friedlicher Arbeit wetteifern und nicht in gegenseitigem Blutvergießen. Dieser Wunsch lebt auch jenseits des Kanals in vielen maßgebenden Köpfen. Noch vorige Woche fand ich das drüben im Gespräch mit dem Träger eines der vornehmsten Namen Englands, dem Marqueß von Saint Asaphs, dem Sohn des Herzogs von Chichester.«

»Kommt der edle Lord nicht mal zu uns nach Flandern herüber?«

»Er beschäftigt sich mit Politik. Er ist Mitglied des Unterhauses und Senior Clerk im Auswärtigen Amt. Er muß seine Worte wägen. Aber er sagte doch offen, daß Gedanken über den Frieden ihn täglich beschäftigten.«

»Ich hab' auch mal einen Engländer kennengelernt, der die Wahrheit sagte. In Trinidad . . .«

Der Kapitän Lürsen schwieg nachdenklich.

»Nun . . . und . . .?«

»Das war am Abend. Am nächsten Morgen war er tot. Er war schon ein älterer Mann. Das war er nicht gewohnt. Es war zu viel für seine Konstitution.«

Johanna Ter Meer zuckte die Achseln und schwieg ärgerlich.

»Du . . . ich hab' Dusel! Anfing nimmt mich morgen auf seinen Knien im Auto mit.« Der kleine Leutnant von Forchheim kam begeistert vom Nebentisch. »Ich ordne vorher alles und setze euch in den Zug. So um elfe rum gondelt ihr los und seid, wenn der liebe Gott ein Einsehen hat, um Mitternacht in Köln.«

Er setzte sich und frug nach einer Weile über seinen Teller:

»Na, Johanna, dir ist ja auf einmal die Sprache ganz verschnappt . . .?«

»Der Herr Kapitän und ich sprechen zwei verschiedene Sprachen. Er glüht vor Haß gegen England . . .«

»Ach wo! Ich bin ein ganz kühler Mann von der Waterkant«, sagte Erich Lürsen lächelnd.

». . . und ich spreche die Sprache der Vernunft – das heißt – verzeihen Sie, Herr Kapitän! Der gesunde Menschenverstand sagt uns doch, daß die Menschheit eine große Familie ist und Deutschland ein Mitglied dieser Familie und England auch . . .«

». . . aber ein bannig unangenehmes, gnädige Frau!«

»England ist eine Weltmacht. Eine Weltmacht kann man nicht zertrümmern . . .«

»Wenn die Vettern früher, wie sie noch klein waren, auch so gedacht hätten«, sagte der Kapitän Lürsen phlegmatisch, »dann wären die Kerls jetzt wohl nicht, was sie sind!«

»Dann darf man auch nicht vergessen, was die Welt der englischen Kultur verdankt. Das nimmt man als selbstverständlich hin. Ich finde, man ist darin manchmal ein wenig undankbar . . .«

»Sie wollten etwas bemerken, Herr Kapitän?«

»Ach nein, Forchheim. Ich bin lieber still – nicht? Kennen Sie unsern Doktor, den Kittrich?«

»Ich war einmal mit dem Herrn Stabsarzt an Bord der ›Heidelberg‹ . . .«

»Neulich war ich nicht auf'm Schick und mußte auf ihn warten. Da hatte er ein dickes Buch liegen. In dem standen alle Krankheiten hintereinander. Da blätterte ich darin. Haben Sie gewußt, Forchheim, daß es auch eine Englische Krankheit gibt?«

Der Kapitän Lürsen zwinkerte ganz ein bißchen und listig mit dem zugekniffenen rechten Auge.

». . . und der dicke Kittrich, wie er kam, sagte: ›Ja, das gibt's. Und gerade in Deutschland. Und bis hoch hinauf.‹«

Johanna Ter Meer schaute mit gefurchter Stirne um sich. An dem runden Tisch drüben war der Stuhl der Oberschwester leer. Sie erkannte, daß sie jetzt die einzige Dame im ganzen Raum zwischen den Offizieren war. Das war ihr unbehaglich. Sie erhob sich rasch und nervös.

»Ich muß jetzt wieder nach der armen Sibylle sehen«, sagte sie. »Also auf morgen früh!«

Sie reichte den beiden Herren die Hand und ging hinaus. Sie hielt dabei den blonden Kopf noch in einem nachträglichen stummen und gereizten Widerspruch etwas in den Nacken zurückgelegt. Der Korvettenkapitän Lürsen sah ihr nach und sagte nichts. Aber er setzte sich nicht wieder, sondern winkte dem weiß beschürzten Kellner. Es schien auch ihm Zeit, zu gehen.

»Ich wohne oben im Gouvernementshotel Astoria«, sagte er. »Wie? Sie begleiten mich noch ein Stückchen? Das ist gut, Mann. Kommen Sie!«

Draußen glotzten immer noch die weißen Augenpaare der harrenden Feldautos und schimmerten die roten Zigarettenpünktchen der Fahrer durch das Schwarz der Nacht. Es war von hier ein Kommen und Gehen nach Gent und Brügge und Ostende, nach Oudenarde und hinüber nach Lille oder über Valenciennes nach Frankreich hinein, über Namur nach Charleville-Mézières, über Mecheln nach Antwerpen. Seit ein paar Wochen war der Kanonendonner von dort verstummt. Die belgischen Damen standen nicht mehr jenseits des Nordbahnhofs geduldig ganze Nachmittage, die Papiertüten in der Hand, um die anrückenden Engländer mit Blumen zu schmücken. In den gelben Fluten der Schelde spiegelte sich das siegreich flatternde Schwarz-Weiß-Rot. Aber in Brüssel merkte man nichts von Trauer. Die Boulevards der Unterstadt waren jetzt, noch vor Mitternacht, der Militärpolizeistunde, schwarz von Menschen, die Kaffeehäuser lichterhell und überfüllt. Auf eine Stadt im Krieg deuteten nur alle paar hundert Schritte die drei bärtigen Gestalten des bayerischen Landsturms, die, dicke Schals um den Hals, unter den durchsichtigen englischen Regenhäuten das Hellblau der Friedensuniformen, mit aufgepflanztem Seitengewehr, ernst und bedächtig wie daheim in ihren Bergen, durch das Gekicher und Geschnatter, die höhnischen Mienen und wippenden Federhüte des belgischen Klein-Paris stapften.

Am Botanischen Garten hinauf, wo die beiden Marineoffiziere steil emporstiegen, wurde mit einem Schlag alles dunkel und still. Nur das rastlose Tatü-Tata der hin und her schießenden Heereskraftwagen hallte in den toten Straßen des Leopold-Viertels, vor kurzem noch einer der luxuriösesten Stadtteile der Erde, an den geschlossenen Häusern der geflohenen Reichen wider. Vor den Prachtbauten der nach Havre verwehten Ministerien schilderten stumm die deutschen Posten, wiesen riesige deutsche Inschriften den Weg zur Tankstelle, Paßzentrale, Linienkommandantur.

Die langen Fensterreihen im Palais des Königs ohne Land waren matt erleuchtet. Aber darüber blähte der Nachtwind die so viele Schmerzen deckende weiße Fahne mit dem roten Kreuz. An den Straßenecken klebten noch unter den drei Spalten des deutschen Kriegsberichts in deutscher, flämischer und französischer Sprache die frechen Erlasse des Bourgmestre Max. Aber er selber dachte über sie bereits im Gefangenenlager von Munster nach.

»Tja – was soll man da viel snaken?« sagte der Kapitän Lürsen nach einem langen Schweigen. »Sie müssen das morgen Ihrer Frau Schwester von mir bestellen, Forchheim: man soll immer höflich gegen die Damen sein. Aber so höflich, daß man deswegen die Engelschen lieb hat, das können die Damen nicht verlangen! Das lassen wir doch lieber unterwegs, Kindchen – nicht?«

»Sie hat nun mal den englischen Vogel! Ich ärger' mich ja auch. Man muß eben ihren Lebensgang kennen. Mit kaum Neunzehn, eben von den Englischen Fräulein heraus, ehe sie noch von der Welt 'ne Ahnung hatte, begleitet sie den Vater von München nach Kissingen, lernt da den Holländer kennen – verliebt sich, verlobt sich, heiratet . . . Ein Vierteljahr darauf war sie schon unterwegs nach Kalkutta. Na – es war ja eine gute Partie, und sie leben sehr vergnügt miteinander . . .«

»Sehen Sie, kleiner Forchheim – das ist's: wem das Leben Vergnügen macht, der hält sich nun mal an die Engländer. Aber der Mensch ist nicht nur zum Vergnügen auf der Welt.«

»Und von Indien rutschten sie dann nach China oder Japan – ich weiß nicht mehr, wohin zuerst – und rund um die Erde zurück und wieder los nach Südafrika . . . nach Europa kam die Johanna in den zehn Jahren höchstens ein halb dutzendmal und dann gleich von London oder Paris zu den Eltern aufs Land. Das übrige Deutschland kennt sie mordswenig . . .«

»Das soll wohl sein!«

»Ein kleiner Staat wie Holland, und dann von da aus gesehen überall auf der Welt die Engländer – na, wir haben's ja selbst erlebt . . . auf jeder Dreckinsel noch ein englischer Konsul und irgendwo immer noch ein halbes Dutzend Kähne von der Monmouth- und Terrible-Klasse . . . Na . . . und dann vor allem der Mann! Sonst ein guter, anständiger Kerl. Nichts gegen ihn zu sagen. Aber für die Engländer geht er durchs Feuer. Das hat auf sie abgefärbt.«

»Da wird man traurig, wenn man so was hört, Forchheim!«

Sie hatten die windumpfiffenen Ecken der Rue Royale hinter sich gelassen und waren im Gespräch am Astoria-Hotel vorbei bis zum Park gegangen. Zwei Geschütze richteten da oben, über die Türme von St. Gudule in der Tiefe hinweg, stumm ihre Mündungen gegen das unruhige Häusergewirr unten. In weiten Postenketten sperrten nächtliche Wachen dies schweigende Viereck von Regierungspalästen ab, das jetzt der Sitz des Kaiserlichen General-Gouvernements war. Hinter jenen verhängten Scheiben arbeitete vielleicht noch der alte Feldmarschall Goltz, ein Meister der Feder wie ein Meister im Sattel, Geist hinter der goldenen Brille, Wille um die Lippen, bis er des Morgens ankurbeln ließ und zu den Schützengräben Flanderns hinausfuhr.

Es war hier in der Höhe kalt und luftig. Frei wölbte sich der sternenlose Himmel. In dieser stürmenden, dunklen, sich in das Unbestimmte verlierenden Weite lag etwas vom Meer. So hatten die beiden, der Kapitän und der Oberleutnant zur See, manche Nachtstunden in fernen Breiten zusammengestanden. Sie schwiegen und schauten wie damals in die rauschende Finsternis, die Gesichter über die Stadt Brüssel hinweg nach Westen gewandt. Von dort kam die Windsbraut, die ihnen schneidend um die Ohren pfiff. Dort lagen im Meer die drei Inseln. Dort lauerte der Feind der Feinde.

Der Korvettenkapitän Lürsen war sehr ernst geworden. Er sagte, als spräche er zu einem unsichtbaren Gegner vor sich:

»Wart nur, Jung . . . 'n büschen Geduld! Wir kommen schon!«

»Warum gehen der Herr Kapitän denn jetzt nach Deutschland zurück?«

Der kleine Freiherr von Forchheim merkte schon an dem Räuspern vor der Antwort, daß Erich Lürsen wieder der Schalk im Nacken saß.

»Ich muß nach meiner alten Tante in Ritzebüttel schauen. Die bangt sich jämmerlich nach mir.«

»Aber, Herr Kapitän . . .«

»Na – und dann . . .« Der Kapitän Lürsen schlug dem andern derb mit der flachen Hand auf die Schulter und wurde mit einemmal ein ganz anderer Mensch vor unruhiger Wagelust. »Dann wollen wir mal weiter sehen, was wir anfangen! . . . Ich hab' da so allerhand vor . . . Vielleicht nehme ich Sie mit . . .«

 


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