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»Ich weiß, Cornelis«, sagte Johanna Ter Meer, »was es heißt, dir den Glauben an England zu nehmen – dir, der mich auch ganz mit diesem Glauben erfüllt hat! Aber einmal mußt du erfahren, was England ist . . .«
Der Yonkheer Ter Meer stand am Fenster der Hotelwohnung und schaute geistesabwesend hinab in das Gewimmel der wie große Käfer dahinschießenden Autos, der Viererzüge, der zweirädrigen Kutschen, der Zylinder- und Blumenhüte der eleganten Welt von Pall Mall, wo sich drüben in dem Klubland das Stadthaus des Herzogs von Chichester, grau und kalt wie er selber, aus dem Silbergrau eines englischen Frühlingstages erhob. Die Läden waren heruntergerollt. Ein Zeichen, daß sich weder der Peer selbst noch sein Erbe, Lord St. Asaphs, oder sonst ein Mitglied der Familie Glun zur Zeit in London befand.
»Der Lord Saint Asaphs hat dir den Brief in die Hand gegeben, Jantje?«
»Ja.«
»Du hast ihn verbrannt?«
»Ich sah, wie er verbrannte.«
»Und du sahst vorher so sicher, wie ich hier stehe, in ihm die verborgenen violetten Linien?«
»Ich sah sie mit eigenen Augen . . .!«
»Und erkanntest genau, was sie vorstellten?«
»Ich sagte dir schon, wer mir den Sinn der Linien erklärte.«
»Jantje . . . Sieh mich an!«
»Ich tue es, Cornelis.«
»Und sage mir, ob du seitdem noch etwas von dem deutschen Captain gehört hast?«
»Nichts mehr, seit wir vor vierzehn Tagen Ogmore Castle verließen . . . Ich hoffe, er ist längst nicht mehr in England.«
»Ich kann es nicht hoffen. Wo kämen sonst seitdem die fortwährenden geheimnisvollen Explosionen und Brände auf den britischen Werften her? Ganz England ist in Unruhe . . .«
Der Yonkheer Ter Meer ging, selbst unruhig, durch das Zimmer. Machte halt.
»Jantje . . . zeig mir den Brief! Dann will ich es glauben.«
»Mir glaubst du nicht?«
»Niemand braucht zu glauben, was er nicht selber sah!«
»Wenn ich es dir sage? . . . In den zehn Jahren unserer Ehe habe ich nie ein unwahres Wort gesagt.«
»Oh – ich weiß es! Aber darum weiß ich nicht, wie ich mich in dieser Sache halten soll . . . Denke doch, wie elendig wäre solch eine Tat! Immer sitzen die Engelschen in der Kerk! Da können sie doch niet, wenn sie herauskommen, wie die Räubers handeln . . .«
»Wenn es England nützt?«
»Ich bin noch mit Lord St. Asaphs spaziert . . . ganz pläsierlich und behaglich . . . Jantje . . . Jantje . . . die Stunde eben hat mir viel aus meinem Leben genommen . . .«
»Sei froh!«
»Oh –! Die Zuversicht auf Groot-Britannie zu verlieren! Es kommt gleich dahinter, daß man sein Augenlicht verliert . . . oder sein Geld . . . ich bin ein guter Niederländer. Aber Nederland ist klein, und Groot-Britannie ist groot. Es ist die Welt außerhalb Nederlands!«
»Hoffentlich nicht mehr lange!«
»Es geht mein halbes Leben fort, wenn ich Groot-Britannie niet mehr hinter mir weiß. Dich hat der Schrecken vierzehn Tage hingeworfen. Ich bleibe bis zu meinem Ende daran siech. Als wat loop ich herum, ohne Vertrauen zu England?«
»Vertraue lieber mir, Cornelis.«
Der Yonkheer Ter Meer trocknete sich erschöpft mit dem Seidentuch die hohe Glatze. Er trat zu seiner Frau und nahm ihr schmales, blasses Gesicht zwischen seine Hände und sah sie liebevoll an: »So ist es, Jantje! Du hast recht. Du hast mich, und ich hab' dich. Du bist niet engelsch und auch niet nederlandsch und gehörst auch niet mehr zu den Deutschers! Du bist meine Frau, die ik lieb hab' und die ik immer sal lieb hebben, und so moet es bleiben . . .«
Er lächelte mit Überwindung. Er gab sich alle Mühe, seine Erschütterung zu beherrschen.
»Wir dürfen niet kleingeistig sein, Jantje. Ich meine, wir vertrekken schleunigst, sobald du dich wohl genug fühlst.«
»Ich kann mit dem nächsten Zuge reisen . . .«
». . . und holen unseren kleinen Jan aus Eastbourne. Das ist für dich das beste Geneesmittel . . .«
»Ich mache mich gleich fertig, Cornelis!«
»Wir nehmen den Lunch-Train. Da trinken wir im Zug ein gesellig Kopje Kaffee . . . Jantje . . . ich kann kaum mehr Luft scheppen! . . . ich bin auf einmal so ängstig, aus England wegzukommen . . .«
»Ich auch!«
»Wenn das wahr ist, was du sagst, meinen es die Engelschen böse mit uns. Dann können sie es auch weiter mit uns böse meinen . . . dann sind wir hier in Gefahr!«
»Siehst du den Menschen da unten vor dem Hotel, mit den Sommersprossen und dem konfiszierten Gesicht? Ich wollte es dir nicht sagen, solange ich mich so elend und reiseunfähig fühlte: er steht schon die ganzen Wochen immer da und starrt zu unseren Fenstern herauf, zuweilen auch ein anderer oder ein dritter . . .«
»Ja. Ich sehe den misdadigen Menschen . . .«
»Wir werden von der Geheimpolizei bewacht, Cornelis . . .«
»Grooter God!«
»Sie wissen doch, daß ich eine Deutsche bin und den Kapitän Lürsen traf. Vielleicht denken sie, ich habe mit die Hand im Spiel, wenn wieder eines von den Arsenalen in die Luft fliegt . . .«
»Dann sind wir in Gefahr!«
»Ich glaube es auch.«
»Ich loope, Jantje! Ich hole stracks unsere Papier zur Überfahrt nach Nederland!«
Unten in der Halle des Hotels, durch die der Yonkheer Ter Meer hindurchschritt, klang das Gewirr englischer Stimmen halblaut wie immer, aber erregter als sonst. Er hörte, wie ein anglo-indischer Gentleman mit dem kennzeichnenden gelben Ledergesicht der Tropen zu einem anderen baumlangen britischen Überseer in Khaki sagte:
»Hat man es je erlebt, daß man dem Gottseibeiuns erst Salz auf den Schweif streut und ihn dann wieder laufen läßt? . . . Nicht viel weiser haben wir es mit dem deutschen Captain angefangen . . .«
»Nicht so laut! Männer von der Straße brauchen das nicht zu hören.«
»Läßt sich die große Explosion im Kriegshafen von Chatham verheimlichen? Auf zehn Meilen im Umkreis zersprangen die Fenster. In Greenwich rief noch eine taube alte Lady: ›Herein!‹«
»Das waren die Iren.«
»Sicher die Iren. Aber wer hat diesen unerfahrenen Patricks genau gezeigt, wo gerade die Schuppen mit den hochentzündlichen Stoffen lagerten? Das konnte nur ein Fachmann tun.«
»Der Deutsche!«
»Und der Brand in Sheerneß in der nächsten Nacht? Leute vom anderen Ufer, vor Southend, haben versichert, sie hätten nie ein kostspieligeres Feuerwerk gesehen, als wie da Seiner Britischen Majestät Schiffe eins nach dem andern zu den Sternen gingen.«
»Die Fenier . . .«
»Wahrlich, die Fenier! Aber wer lehrt sie die Missetat? Der entflohene Deutsche! Das geheimnisvolle Verschwinden der ›Cassiopeja‹ vorige Woche? Kein besseres Schiff lief je in Portsmouth vom Dock. Verschollen mit Mann und Maus!«
»Die andauernden Schandtaten gegen unsere Kriegsflotte in Portsmouth lassen sich nur dadurch erklären, daß dort ein Feind durch unsere geheimsten Werften ging und nun seine irischen Helfershelfer als Dockarbeiter hinschickt . . .«
»Der Captain Lürs . . .«
»Oh – sprechen Sie den verwünschten Namen nicht vor britischen Ohren aus!«
»Der geheimnisvolle Deutsche!« riefen draußen die hellen Stimmen der kleinen Zeitungsverkäufer. Der Yonkheer Ter Meer sah, als er auf die Straße trat, an den Spitzen der Blätter den trockenen und zähen Kopf des Kapitäns Erich Lürsen, der seit vierzehn Tagen überall im Vereinigten Königreich in Zeitungen und Maueranschlägen auftauchte.
Da draußen lag London im Sonnenschein. London wie immer. London noch ohne eine andere Spur des Krieges als das Bunt der Werbeaufrufe und das Braungelb des Khaki auf den Straßen. London in seinem sinnverwirrenden Rasen und Brausen. London – für den Yonkheer Ter Meer, wie er die Welt sah, der Mittelpunkt der Welt. Er begriff die Welt nicht mehr. Fühlte sich auf ihr unsicher. Sie wankte ihm unter den Füßen. Und das Sonderbarste war ihm das Empfinden, als hätte er ein schlechtes Gewissen gegen England, statt umgekehrt England gegen ihn. Dann kam ihm die ganze letzte Stunde wie ein Schattenspiel vor. Man konnte es mit einer einzigen Handbewegung verscheuchen, indem man es einfach nicht glaubte! Das wäre gut britisch gewesen! Das Britentum stak doch in einem, war mit einem verwachsen wie mit jedem dritten Mann auf der Welt . . .
In dem nahen Hydepark, den er in einer noch nie erlebten Erregung atemlos mit langen Schritten durchmaß, würden heute nachmittag, wie jeden Tag, den Gott den englischen oberen Zehntausend gab, feierlich und langsam die Luxusautos rollen. Es trabten die Viererzüge, streckten sich die Vollblüter unter den Gentlemen und Ladies, saß in vielen Stuhlreihen hintereinander die festlich geputzte Zuschauerschaft des glänzenden Gesellschaftsschauspiels, das England, unbekümmert um fernen Schlachtendonner auf dem Festland, sich und seinen Gästen von der ganzen Erde gab. Und er sollte nicht mehr dazugehören?
Und dort drüben im Osten, in der City, wurde das Geld der Erde gesammelt und an die Würdigen verteilt. Was war die Wunderlampe Aladins gegen die Schlüssel zu den unterirdischen Goldgewölben der Bank von England? Was waren Zaubersprüche und kabbalistische Zeichen alter Sagen gegen die Macht, die aus langen dünnen Wechselakzepten, schmalen Scheckformularen, kurzen Code-Depeschen der City rund um die Erde kreiste? Die Erde war im Krieg. Aber die City arbeitete ruhig weiter. Am Himmel stand der Nordstern, auf Erden der Wechseldiskont der Londoner Börse als Maß der Welt. Und er sollte nicht mehr daran teilhaben? Ohne diese Welt konnte man doch nicht mehr sein – nicht mehr atmen . . .
Auf dem Rasen des Hydepark standen ein paar Dutzend Menschen um einen Mann, der von einer Tonne herab gegen die »Hunnen« predigte. Der Yonkheer Ter Meer hörte im Vorbeigehen seine wilde und heisere Stimme: »Drahtlose irische Telegrafie kontrolliert britische Schiffsbewegungen« . . . und wieder den Namen »Captain Lürsen . . .«
Er drehte hastig um. Suchte die nahegelegene Regierungsgegend von Whitehall auf. Dort war auf der breiten Straße ein hundertstimmiges Grunzen wie von einer Herde Schweine. Viel Volk stand vor dem Marineministerium. Der lange blonde Schutzmann lachte zu Yonkheer Ter Meers Frage:
»Britische Steuerzahler grunzen die Admiralität aus, weil sie seit vierzehn Tagen die Verwüstungen in britischen Kriegshäfen duldet . . .«
Drüben dehnte sich vor Cornelis Ter Meer breit der Spiegel der Themse. Da hinten ahnte er flußabwärts den Mastenwald des Hafens, die stundenlangen Dächer der Docks mit allen Schätzen der fünf Erdteile, und weiter hinaus das Meer, das weite Meer, und hörte im Geist aus seinem Rauschen und Möwenschlei das altgewohnte »Beherrsche, Britannia, beherrsche die Wellen!« Er hätte es für einen verbrecherischen Wahnsinn gehalten, hätte er eine deutsche Nationalhymne gehört: »Beherrsche, Germania, beherrsche die Länder!« Aber »Rule – Britannia« war ihm ein selbstverständlicher Naturlaut. Er hatte eigentlich niemals darüber nachgedacht . . . es war nun einmal so . . . das Meer war nicht frei. Es gehörte England . . . Mit solchen Gedanken trat er in das Paßamt.
Als er nach zwei Stunden wieder herauskam, war sein Gesicht bleich. Er stand verstört im wohlvertrauten Gewimmel der Taxis und Cabs, der Bus und Luxusautos vor ihm auf dem Fahrdamm, dem Gedränge gutgelaunter Angelsachsen um ihn auf dem Bürgersteig. Musik schmetterte. Ein Bataillon kanadischer Hilfstruppen zog zur Parade. Die Menschenwoge drängte ihn zur Seite, daß er an ein paar australische Offiziere in Khaki anstieß. Sie hörten seine Entschuldigung kaum. Sie waren in ein freundschaftliches Gespräch mit einem Burengeneral in schiefem Schlapphut vertieft. Kleine Japaner kamen geschäftig, mit Mappen unter dem Arm, aus dem Ministerium und kreuzten sich mit Indern in europäischer Kleidung, auf dem Kopf den Turban. Yankeefamilien standen bewundernd still, die Damen als Pariserinnen verkleidet, die Herren eine Nachahmung Londoner Gentlemen. Man konnte nicht sagen, ob diese kleinen gelben Geschöpfe, deren City-Zylinderhut beinahe so hoch war wie sie selber, vornehme Annamiten, Maoris oder Madagassen darstellten. Eine riesige Rothaut in Zivil ging vorüber. Neger in Tropenuniform. Ein Somali-Scheich fuhr in einer Droschke, den Dolmetscher auf dem Vordersitz, an dem Kolonialamt vor. Die ganze Welt drängte sich, wetteiferte, England und seinen europäischen Lehnsvölkern zu dienen. Und jeder war willkommen.
Man war doch ein Glied in dieser Kette der Menschheit. Ein freies Glied. Ein selbstbewußtes. Man gehörte doch dazu! Aus innerster Überzeugung. Der Yonkheer Ter Meer seufzte schwer.
Endlich schlug er wieder den Weg nach Hause ein, trat zu seiner Frau in das Hotelzimmer, ließ sich in einen Sessel fallen und sagte erschöpft:
»Zu spät . . .«
»Was heißt das?«
»Sie verweigern die Ausstellung der Pässe . . . vorläufig wenigstens . . .«
»Warum?«
»Es seien Truppenverschiffungen nach Frankreich im Gange. Schiffsbewegungen auf dem Kanal. Keine englische Zeitung dürfe in diesen Tagen nach dem Festland, geschweige denn eine Lady von deutscher Herkunft . . .«
»Das ist nur ein Vorwand . . .«
»Für Schlimmeres, das noch für uns nachkommen mag!«
»Was ist denn da in dem Vorzimmer draußen?«
»Es sind Männerstimmen!«
»Sie nennen auf englisch unseren Namen . . .«
»Sie kommen herein . . .«
»Sie holen uns . . .«
Cornelis Ter Meer stand würdevoll und ruhig auf. Sein Gesichtsausdruck war fest. Er war ein Mann von Mut.
»Herein!«
Er war den Besuchern in den Empfangsraum entgegengegangen. Plötzlich erhellten sich seine Züge. Vor ihm stand nur einer der Geschäftsführer des Hotels im schwarzen Gehrock, der dienstbeflissen einen so vornehmen Gast wie den Mr. Granville, M. P. und Lord im Schatzamt, persönlich hinaufgeleitet hatte, ihn anmeldete und sich ehrerbietig zurückzog.
Das Ehrenwerte Mitglied des Hauses der Gemeinen streckte Cornelis Ter Meer in sonniger Frische die Hand zum Gruß entgegen.
»Welch lächerliches Mißverständnis, mein teurer Yonkheer Ter Meer! Ich eile, es aufzuklären. Eben hörte ich mit aufrichtigem Widerwillen, daß einige untergeordnete Schwachköpfe von Paßbeamten Ihnen Schwierigkeiten mit der Ausreise machten . . .«
»So ist es, Mr. Granville!«
»Da sind keine Schwierigkeiten für einen Neutralen wie Sie. Einen Freund Englands, wie ich zu sagen wage . . .«
»Ich war es bisher immer, Sir.«
»Nichts liegt England ferner, als unabhängigen Ausländern von Auszeichnung irgendwie vorzuschreiben, wie sie kommen und gehen mögen. England ist die Freiheit und kämpft für die Freiheit . . .«
»So dachte ich bis heute morgen, Mr. Granville.«
». . . und jedermann auf der Welt sollte das wissen! Wann wollen Sie reisen?«
»Sobald wie möglich.«
»Sie erhalten in einer halben Stunde Ihre Pässe hier in das Hotel zugestellt. Sie brauchen sich um nichts zu bemühen!«
Gewinnende Herzlichkeit lächelte aus den bartlosen und zeitlosen Zügen des Junior-Lords des Treasury, der ebensogut dreißig wie fünfzig Jahre alt sein konnte, und spiegelte sich auf Cornelis Ter Meers Antlitz in einem Schimmer von Erlösung wider. Da war auf einmal wieder England. Das alte England. Das hilfsbereite. Das allgegenwärtige, das mit einem Händedruck und zwei Worten jedem Mann auf der Welt auf den Weg half und seinen Platz wies.
Geschäfte rufen mich, mein lieber Yonkheer Ter Meer. Alles steht gut. Glänzend für England. Aber noch will harte Arbeit für die Freiheit der kleinen Völker getan sein. Empfehlen Sie mich Mrs. Ter Meer, wenn es beliebt!«
Als der Schatzlord und Gemeine Seiner Britischen Majestät über den Flurteppich zum Lift ging, war sein Gesicht um zwanzig Jahre älter, verbissen und verdrießlich.
»Ich habe das Ding in Ordnung gebracht«, sagte er zu dem Baronet Bacharach, den er unterwegs traf. »Harald St. Asaphs will es, daß diese Mrs. Ter Meer so rasch wie möglich das Festland gewinnt und nach Deutschland reist. Er hat seine guten Gründe.«
»Ich weiß!«
»Da soll uns niemand darin stören. Große Dinge stehen auf dem Spiel . . .«
». . . und stehen nirgends gut . . .«
»Gallipoli eine Hölle . . .«
»Ypern ein Aderlaß ohne Ende!«
»Wir wußten vorigen Sommer nicht, wieviel wir auf eine Karte setzten. Das Schicksal Englands!«
»Ich bin wahrhaft befriedigt, mein lieber Mr. Granville, Ihren Gleichmut zu sehen!«
»Wellington zeigte seinen Truppen stets ein ehernes Gesicht, Sir Frederick . . . selbst nachmittags um vier Uhr bei Waterloo!«
»So ist es! Wir müssen jetzt jeder ein Stück Pokerspieler sein. Wer in diesem Jahre die Erde blufft, gewinnt.«
»Wenn man nur die Hand voll hat, jede Karte ist jetzt Trumpf. Der blutigste kleine Neutrale mag für England stechen!«
Als Cornelis Ter Meer bald darauf mit seiner Frau und seinem Gepäck das Auto bestieg, um nach Eastbourne zu fahren, leuchtete wieder vor ihm in Riesenlettern vom Kopf einer Leitung, die ein Knirps von Straßenaraber wie eine Schürze vor dem Leib trug: »Der geheimnisvolle Deutsche.« Und zwischen den farbigen Maueranschlägen, in denen Horatio Kitchener of Khartoum wie weiland Wallenstein das größte Söldnerheer aller Zeiten aufbot, stand es schwarz auf weiß und doch ebenso grell in den Blättern der Straßenhändler: »Fenier am Werk«, »Verschwörung im Herzen Britanniens«, »Briten, schützt eure Häfen!«
Beim Einsteigen in den Wagen zuckte Johanna Ter Meer zusammen.
»Da ist er wieder«, sagte sie halblaut, mit einem Seitenblick auf einen sommersprossigen, zweifelhaften Menschen, der, die Hände in den Taschen, anscheinend müßig an der Wand lehnte, und nach einer Weile, im Fahren den Kopf wendend: »Er hat sich auch ein Taxi genommen. Er folgt uns.«
»Du siehst Spuken, Jantje!«
Dabei war es dem Yonkheer Ter Meer aber selbst wieder unheimlich zumute. Es lag etwas um sie beide in der Luft. Es schien ihm, als herrsche in dem Zuge, der sie aus London nach Süden führte, eine elektrische Schwüle, als läge eine Drohung in den halblauten Gesprächen, Mißtrauen in den Blicken der Reisenden umher. Der Feind im Land. Der Feind irgendwo und überall. Der Feind vielleicht auch in diesem Zug. Unbekannte schritten während der Fahrt durch ihn, prüften schweigend die Gesichter. Damen, Kinder, Grauköpfe sahen sie nicht erst an. Nur die jungen Männer.
»Sucht ihr den Deutschen?«
»Vielleicht fährt er als Lady mit!«
»Ich möchte wetten, der Kellner im Frühstückswagen ist ein heimlicher Deutscher.«
Man lachte. Die Geheimpolizisten erwiderten nichts und gingen weiter. Johanna Ter Meer schien es, als hätten die Männer von Scotland Yard gerade sie im Vorbeigehen besonders scharf angeschaut. Ihr Mann stand beklommen auf und trat, um sich von der Zugluft kühlen zu lassen, in den Gang. Von innerer Unruhe getrieben, wandelte er in dem Wagen auf und ab und stieß dabei auf einen großen, bärtigen Mann.
»Oh, Herr Pedersen! Kommen Sie aus Bergen herüber?«
Der norwegische Reeder bejahte. Er war ein Guttempler und trank nur heiße Milch und kaltes Wasser. Trotzdem schien es dem anderen, als habe der Skandinavier eben bei einem Frühstück der Flasche zu stark zugesprochen, so leuchteten seine Augen und sprudelte seine Rede. Aber es war nur das Fieber des Goldes, der Rausch unerhörten Gewinnes der Neutralen . . .
»Ob ich für England segle? Ich machte schon im Frieden nur Trampfahrten auf Liverpooler Rechnung. Jetzt im Krieg lasse ich schwimmen, was schwimmen mag. Kein Kasten zu alt, um nicht kalfatert und getakelt zu werden. Schiffsverluste? England zahlt alles. Gefahr? Die Heuer ist danach. Die Matrosen drängen sich aus Ehrgeiz, die deutschen Minenfelder zu kreuzen. Ein buntes Volk: Finnen, Neger, Chinesen – aber unter ihnen allen, vor Feuer und auf Deck, ein guter englischer Geist!«
Der breitschultrige, wuchtige skandinavische Schiffseigner sprach selbst Englisch wie ein Brite.
»Was gibt England uns zu verdienen, Yonkheer Ter Meer! Unsere Gesellschaften zahlen in einem Jahr ihr Kapital als Dividende. Und mehr! Ich mag die Summe gar nicht nennen. Ich glaube selbst kaum daran, wie reich ich in den letzten Monaten geworden bin. Millionen von Kronen rechnen jetzt bei uns im Norden wie sonst die Zahnstocher. Alles durch Alt-England! Für England durch dick und dünn! Auch wenn der goldene Regen nun bald aufhört.«
»Wie meinen Sie das, Mr. Pedersen?«
»Nun: wir haben jetzt das Frühjahr 1915. Bis zum Herbst 1915 ist doch Deutschland vernichtet. Das ist nicht meine Meinung. Das ist die der ganzen Welt.«
Die Briten im Abteil nebenan steckten die Köpfe in große Nummern der »Morning Post« und der »Times«. Dicke schwarze Lettern prangten über den Spalten: »Italien im Krieg für die Kultur!« . . . »Rumänien im Begriff zu folgen!« . . . »Portugal bereit!« »Die Vereinigten Staaten rüsten sich!« »China erwacht!« . . . Die ganze Erde, je nachdem London die Völker der Reihe nach beim Namen aufruft wie der Zahnarzt in der Sprechstunde. Der Yonkheer Ter Meer schüttelte den Kopf. Solch Kreuzzug der gesamten Menschheit gegen ein paar Völker. Im Grunde gegen ein einziges Volk: das deutsche. Mußte ein solches Volk nicht Fürchterliches, Unsagbares, nie Dagewesenes verbrochen haben, daß alles, was auf Erden atmete, darüber herfiel? Aber was?
Er sann lange und angestrengt nach. Aber es fiel ihm nichts ein, und er fand nichts. Denn er kannte Deutschland besser als andere Ausländer. Er haßte Deutschland nicht. Er war Deutschland sogar dankbar, denn er hatte sich aus Deutschland das Glück seines Lebens geholt, seine Frau. Da drinnen saß sie, in dem Abteil am Fenster. Ihr Gesicht zeichnete sich als ein zarter, blond umrahmter Schattenriß von dem lichtblauen englischen Himmel dahinter ab. Bei dem Gedanken, daß aus diesem heiteren Himmel ein Donnerschlag auf sie niederfallen könne, wurde ihm weh ums Herz vor Liebe zu seiner Frau und vor Gram um England, und wieder ein leiser, lockender Zweifel, daß England doch gar nicht so sein könne . . . daß die Flammen des Kaminfeuers von Ogmore Castle einen ganz harmlosen Brief vernichtet haben mochten . . . daß alles nur böser Schein war statt böser Tat . . .
Draußen vor den Fenstern schwebte über Hügeln und Wiesengrün der Schatten Wilhelms des Eroberers. Hier, in diesem reichen englischen Süden, war alles voll von geschichtlichen Stätten und Erinnerungen. Seit mehr als tausend Jahren kein Feind im Land! Und dafür England draußen überall, wo man Segel spannte und Farbige nutzte und mit den Schiffspapieren am Dampfkrahn stand und im Kontor Milreis und Pesetas, Lire und Gulden, Yen und Dollars in den Wertmesser der Welt, den Sterlingkurs, umrechnete und über dem Hauptbuch den Gewinnsaldo abschloß.
Seit mehr als tausend Jahren kein Feind im Land . . . Und dabei sah man bei klarem Wetter von den weißen Klippen der Kreideküste hinüber nach Kap Grisnez und Boulogne, nach dem armen alten Europa, das sich wieder einmal, furchtbarer denn je, mit seinen flammenden Städten und röchelnden Menschen in den Krämpfen des Krieges wand, und hier auf der Briteninsel war scheinbar nichts als Frühling und Frieden, und der Yonkheer Ter Meer dachte sich: Wer kann wider dieses Land . . .?