Rudolph Stratz
Das freie Meer
Rudolph Stratz

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5

Der Himmel über der Sinaiwüste war feuerblau. Der Sand unten schwefelgelb. Die Toten lagen still in ihm. Auf dem Rücken. Auf dem Gesicht. Einen Arm in die Luft. Die Arme vor der Brust gekreuzt. Ein Sudanneger im Todeskampf mit einem kaffeebraunen Araber verkrallt. Das wachsgelbe Adlerprofil eines Kaukasiers. Quer über ihm ein zimtfarbener Inder. Weiße, rotüberströmte Australier und Neuseeländer. Starre weiße Augen der Kanadier. Tote Tiere. Vier Pferdebeine steil empor. Ein kopfloser weißer Esel mit einem Maschinengewehr auf dem Rücken. Der in der Fäulnis rasch sich aufblähende braune Hügel eines Kamels, die granatengefüllte Geschoßkiste noch in der Seitentasche des Höckers. Wickelgamaschen. Tropenhelme. Lee-Enfield-Gewehre und Karabiner . . .

»Ein pittoresker Anblick«, sagte der Marqueß Harald von St. Asaphs frisch und wohlgelaunt zu den Offizieren seiner Begleitung. Er stand vor dem Leichenfeld in der arabischen Wüste wie der Sportsmann vor der Strecke. Er trug auch, statt der Khaki-Uniform der anderen, einen Burberry-Jagdanzug, in dem er früher unter dem Äquator Großwild geschossen hatte. Die übrigen Briten scharten sich ehrfurchtsvoll um ihren Halbgott. Für sie, die Offiziere, hieß dies hier Gefahr, Durst, Sonnenstich, kranke Augen und Mühsal. Aber es war jedem unter ihnen selbstverständlich, daß die Erde jederzeit und überall so in Ordnung gehalten werden mußte, daß das Auge eines besichtigenden Unterhausmitgliedes und Peerserben daran keinen Anstoß nahm.

Der Lord St. Asaphs stand baumlang und breitbeinig, das Fernglas vor den Augen. Er sah den Rückzug der türkischen Vorposten nach gelungenem Überfall auf die britischen Erkundungstruppen vor dem Suezkanal. Gleich Schwärmen von Tausenden von weißen Vögeln stoben die Beduinen in fliegendem Galopp, mit flatternden Burnussen davon. Eine Gruppe türkische Offiziere ritten als die letzten.

»Es ist zynisch, wo diese Deutschen überall sind. Betrachten Sie den allerletzten Offizier! Er reitet, die Fußspitze hoch, wie man es ihn in Potsdam gelehrt hat. Er ist ein Preuße!«

Der ferne deutsche Generalstäbler hielt, wandte sich und blickte durch sein Glas auf Lord Harald wie der auf ihn. Deutschland und England schauten sich an der Grenze Asiens und Afrikas als Vorkämpfer des streitenden Erdballs ins Auge. Dann war drüben, wo der Reitertrupp gewesen, nur noch das Flimmern der heißen Sonne im Sand, und der Markgraf von St. Asaphs musterte wieder freundlich das Totenfeld vor sich und meinte dann tiefsinnig:

»Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, Rawlins, warum Briten im Anfang immer Schläge bekommen?«

»Wir wurden überrascht, Euer Herrlichkeit!«

»Ich sehe, wir werden immer überrascht! Warum treiben die Piraten auf der ›Heidelberg‹ immer noch schamlos auf offenem Atlantik ihr Handwerk?«

»Es ist in der Tat betrübend . . .«

»Es ist an der Zeit, ernst zu werden, Gentlemen. Nun – reiten wir zurück!«

Der riesenhafte brünette Lord nahm, die Pfeife im Mund, mit der Blitzesschnelle des Sportsmannes die drei jähen Rucke seines aufspringenden Bischarin-Kamels wahr, saß ohne Purzelbaum oben auf dem Höcker und trabte ohne Schwindel auf dem Turm des Tieres mit seinem Gefolge davon. Drüben in der Richtung nach dem Roten Meer stand die Fata Morgana am Himmel. Viele Schiffe schwammen da in der Luft wie in einem stillen, weiten Ozean. Aber sie schwammen heute alle verkehrt, mit den Masten nach unten. Das ärgerte den Lord Asaphs. Es erinnerte ihn an den Kapitän Lürsen und seine ›Heidelberg‹. Sowie er am Rand des Suezkanals neben dem Eisenbahngeleise vom Kamel stieg, forschte er:

»Neues von dem Höllenkasten?«

»Dieser letzte Streich der ›Heidelberg‹ war erbärmlich. Heute früh meldete man, sie sei in Grund geschossen . . .«

»Oh, lassen Sie hören!«

»Statt dessen hat Kapitän Lürsen eine Prise, den ›Robert Bruce‹, der ›Heidelberg‹ ähnlich gemacht und bei den Kanarischen Inseln auf den Strand gesetzt, daß man dachte, er wäre es selber. Und in der allgemeinen Freude fuhr er davon!«

Der Markgraf von St. Asaphs überblickte rauh und ärgerlich das arbeitsame Gewimmel der Tausende von kaffeebraunen, blauhemdigen Fellachen am Suezkanal, der, im Frieden ein stiller, fadendünner Strich durch die Wüste, jetzt einer von unzähligen Arbeitsameisen umwimmelten toten Schlange glich. Er nickte. Hier geschah das Beste für ungestörte Durchfuhr von Indern nach Flandern, von Reis, Wolle und Seide nach London. Es war klar, daß britischer Schiffsraum hier doppelten Kriegsverdienst buchte. Unermeßlich reich, wie er selbst war, prüfte er doch instinktiv jedes Ding auf Erden daraufhin, ob England aus ihm genügend Geld machen könnte. Die Macht der Lords ruhte auf reichlich Hammelkeule und Fußballspiel für den Mann auf der Straße, auf der Tausendpfundrente aus farbiger Arbeit für den Gentlemen des Mittelstandes. Der Wechseldiskont sollte so niedrig sein wie die Bischofspfründen hoch, argentinischer Weizen so billig wie Sheffieldstahl teuer. Das verlangte jeder respektable Brite von seinen blaublütigen Halbgöttern.

»Gute Arbeit, Saint Asaphs«, meldete heiter Mr. Edward Evans, unadlig, auch nicht Baronet oder Knight, und doch ein Quaderstein englischer Gesellschaft, aus einer Familie der Land-Gentry, die ihren Stammbaum bis in Normannenzeit zurückführte.

»Aber wissen Sie schon, daß die ›Heidelberg‹ den ›Moorish Prince‹ mit einem Vermögen an Kautschuk an Bord versenkt hat? Ich bin froh, daß ich Gummi-Shares hab'. Sie steigen!«

»Ein guter Seemann«, sagte der Marqueß von St. Asaphs voll widerwilliger Anerkennung, »aber auf britische Kosten!«

»Als Miß Clifford gestern hier bei uns draußen den Tee einnahm, um auch etwas vom Krieg zu sehen, war sie sehr in Angst, zu erfahren, ob die englische Flotte noch auf der Welt sei. Die Ladies fragen es schon, Saint Asaphs!«

»Die Ladies haben recht!«

»Dieser deutsche Captain ist ein zu schneller Fuchs für alles, was R. N. hinter seinem Namen führt. Ich bin kein Seemann von der Royal Navy. Aber ich möchte, wie ich hier stehe, jedem Mitglied der Königlichen Marine mein Erstaunen darüber ausdrücken, daß seit mehr als vier Wochen dies zynische Spiel mit britischem Eigentum auf hoher See geduldet wird! . . . Soll denn ein britischer Werkmann sein Weizenbrot mit six pence höher bezahlen, weil ein Preuße den Atlantischen Ozean für seinen Golfgrund erklärt hat und darauf die Bälle schlägt, wie er will?«

»In der Tat, es scheint ein unchristlich gewandter Bursche. Wir müssen ihn fangen!« sagte Lord St. Asaphs und fuhr im Salonwagen hinüber nach Kairo.

Die Londoner Börse tief verstimmt . . . Wall Street in Neuyork auch . . . Er las es beim Aussteigen, noch in der Bahnhofswölbung, in der Nummer der »Egyptian Times«, die er einem Araberbengel aus der Schmutzpfote genommen. Die Straßen Kairos, durch die sein Auto rollte, zeigten zerschmetterte Fenster, mit Brettern verschlossene Läden. Um den Fischmarkt herum hatten viele der eingeborenen Männer und Frauen verbundene Köpfe und Arme.

Der Marqueß von St. Asaphs fand an jedem Punkt der Erde Leute, die es sich zur Ehre rechneten, ihn an seine Bekanntschaft mit ihnen zu erinnern. So kam jetzt Mr. Govre von seinem Schweppe's Soda eilig an das Gitter der Terrasse vor Shepheards Hotel. Er trug eine Brille vor dem bartlosen, einem Kirchenmann gleichenden Gesicht und war einer der dreistesten Jagdreiter der drei Inseln. Er ritt trotz seiner Kurzsichtigkeit durch die hohen Hecken von Northamptonshire wie über die Bäche von Leicestershire, über die Hügel von Surrey und die Steinmauern von Irland, über die Moräste von Winchester und das Heidekraut von New Forest.

»Was ist denn hier los? Aufruhr der Farbigen? Hängt sie!«

»Die Australier waren es, mein Lord Marqueß. Die Burschen langweilten sich hier im Lande. Sie hatten sich alle ihre Heimatpost schon nach Berlin adressieren lassen. Nun liegen sie draußen bei den Pyramiden!«

Der kurzsichtige Jagdleiter, der jährlich tausend Pfund für die Hetzmeute seiner Grafschaft zeichnete, wies mit dem Reitstock nach dem Nil. Lord Harald fuhr über den grünen, jetzt schmalen Strom und zwischen alten Lebensbäumen den grauen Dreiecken der Pyramiden entgegen.

Der Union Jack flatterte im Wüstenwind über Tausenden von Zelten. Die Sphinx starrte aus steinernen Augen auf eine bewaffnete Völkerwanderung, wie sie sie seit den Jahrtausenden der Pharaonen nicht mehr gesehen. Viel Khakivolk saß lachend und lärmend auf ihr. Das Gebrotzel von Hammeltalg, der beißende Rauch des flackernden Kamelmists umgab den Marqueß von St. Asaphs mit einer bläulichen Wolke, während er mit seinen Begleitern weiter durch das Lager der indischen Hilfsvölker ging. Er schritt an den Hütten der afrikanischen Askari vorbei, wich einem Haufen ungeschlachter Kapburen aus und fragte einen französischen Kolonialoffizier von den schwarzen Sahara-Tirailleuren zu Kamel nach seinem Bruder, Lord Francis Glun, der nahe dabei in der flatternden Mäntelgruppe einiger südarabischer Heiliger hinter langhaarigen, aus den Sinaiklöstern geflohenen orthodoxen Slawenmönchen stand.

Seine Rechte Ehren der Lord Francis Glun, Captain in der prunkvollen berittenen Leibgarde Georgs V. in Whitehall, war ebenso brünett wie Seine Höchste Ehren der Markgraf von St. Asaphs und hatte dasselbe dunkle Bärtchen wie der ältere Bruder und Peerserbe. Aber er war viel kleiner. Fast zierlich gewachsen. Man hätte ihn sich in weißem Burnus und weißer Kapuze leicht als einen Morgenländer vorstellen können.

»Keine Not mehr im Nedscha, Dschemen und Maskat, Harald«, meldete er. »Auf nichts haben wir in letzter Zeit mehr Sorgfalt verwendet als auf einen gesunden Geist zwischen Mekka und Medina. Man sieht es auch jetzt an der glorreichen Ermordung der ›Emden‹-Leute.«

»Sämtlich tot?«

»Leider nein.«

»Wir tun alles nur halb!«

Der Markgraf von St. Asaphs hatte nichts gelernt, aber viel gesehen. Er hatte nie über etwas nachgedacht, aber immer die Augen offen gehalten. Er war nicht klüger als andere. Aber Stellung und Geburt gaben ihm wie von der Höhe eines Wachtturmes einen Rundblick in die Ferne. Er versetzte unzufrieden:

»Was ist das jetzt wieder mit der ›Heidelberg‹? Die Eseljungen in Kairo lachen uns aus, mein alter Francis.«

»Oh, keine Sorgen wegen der ›Heidelberg‹! Das verwünschte Schiff ist ganz in die Enge getrieben. Es läuft wie eine vergiftete Ratte zwischen Senegambien und den Kanarischen Inseln hin und her. Bei Cap Verde und den Azoren liegen britische und französische Flotten auf der Lauer, russische und japanische Kreuzer. Kommodore Rice sagte es. Er kam eben aus Alexandrien.« –

Dort in Alexandrien saß der Sehr Ehrenwerte Lord Norton in seiner Dienstwohnung am Mehmet-Ali-Platz. Der grauköpfige Lord trug den bescheidenen Titel eines Beirats in einem Ministerium der ägyptischen Regierung. Wenn er zu dem Khediven oder dessen in Gold und Purpur starrenden Staatsdienern ging, um ihnen unter vier Augen Grobheiten und Drohungen vom Strand der Themse auszurichten, war er bis in das letzte Vorzimmer ein leutseliger, unscheinbarer Gentleman, dessen harmloses Hauptvergnügen vor den Augen des ägyptischen Volkes darin bestand, an heißen Nachmittagen, wenn jeder vernünftige Mensch schlief, zwecklos im Sonnenbrand kleine Bälle über ein Netz zu schlagen, herumzuspringen und sie mit einer Handkelle wieder aufzufangen.

»Der neue Khedive ist an Gehorsam gewöhnt«, sagte der Lord wohlgelaunt zu seinem Neffen Harald St. Asaphs. »Alles steht gut. Ich denke, ich werde im Mai bei euch noch einen letzten Fuchs jagen können. Es wird mit Konstantinopel rasch zu Ende gehen! Was, Captain?«

»So hoffe ich«, sprach der Captain Bedwell, ein untersetzter Seemann, der an das verschollene Urbild des John Bull, des Hans Stier von einst, erinnerte. »Ich werde leider den Match nicht mitmachen. Ich habe eben Befehl erhalten, mit dem ›Unshakable‹ in See zu gehen.«

Der »Unshakable« war einer der neuesten Schlachtkreuzer der »Invincible«-Klasse, wenige Jahre vor dem Krieg gebaut, eine kostspielige Donnermaschine, zu gut als altes Eisen für die Dardanellen.

»Geheimnis, wohin, Captain?«

»Nein! Mit Volldampf durchs Mittelmeer nach Gibraltar. Vielleicht gebe ich der ›Heidelberg‹ den Fangschuß und nicht die Japs oder diese verächtlichen Seeleute, die Franzosen!«

»Nehmen Sie mich mit, wenn's beliebt!«

Dem ältesten Sohn eines Britenherzogs stand die Welt zu Diensten, um so mehr die Wächter der Welt, die Britenpanzer. Schon wehte in der Glut des Eunostos-Hafens beim Arsenalbecken das erste erlösende Lüftchen der Schiffsbewegung, die übereinandersteigenden flachen Dächer Alexandriens und die Pompejussäule lösten sich in fernes Sonnenflimmern, die letzten scheinbar auf dem Wasser schwimmenden Palmgruppen des Nildeltas schwanden, Delphine überschlugen sich im perlenden Weißgrün des Kielwassers. England war wieder wirklich England, eine riesige Seeschlange in ihrem nassen Element. England war voll seines alten Frohsinns in der geräumigen Kajüte über dem Ruder am Heck, wohin der Kapitän Bedwell seinen erlauchten Gast und einige seiner Schiffsoffiziere zum Nachmittagstee geladen. Die aufwartenden Matrosen standen breitbeinig, die Hände auf dem Rücken, die Augen anteillos nach oben, an den schaukelnden Wänden. An denen hingen viele Schiffsbilder . . . von der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts bis auf die Gegenwart. Es war immer dasselbe Fahrzeug: als stürmender, weiß getürmter Segler der napoleonischen Zeit, als in doppelter Stückpfortenreihe weiß gebordeter hölzerner Dampfer des Krimkriegs, als schwarz geharnischte schwimmende Feste des zwanzigsten Jahrhunderts. Es war die Ahnengalerie des »Unshakable«, er selbst in seinen Verwandlungsformen, der nun schon zum siebenten Male seinen eigenen Namen neu trug, nachdem die vorige Gestalt auf der Werft zerschlagen oder im Meer versunken war.

»Ich glaube, Captain, daß mein Urgroßoheim Archibald Glun Ihren ›Unshakable‹ siebzehnhundertfünfundsiebzig vor Dünkirchen befehligte.«

»Nichts wahrscheinlicher als das, Mylord. Denn siebzehnhundertsechsundachtzig führte mein Vorfahre James Bedwell ihn nach zehnjährigem Aufenthalt in den westindischen Kriegen heim.«

»Einer aus meiner Familie stürzte auf ihm als Midshipman zu Nelsons Zeit vom Großmast in See«, sagte der Ehrenwerte Leutnant Bughurst. »Der Wachoffizier hatte ihn zur Strafe hinaufgeschickt. Es war zu kalt an dem Tag. Er war erst Dreizehn.«

Zur Rechten erschienen durch die Glasfenster die langgestreckten grauen Berge Kretas. Der nächste Tag lag strahlend hell über der Enge zwischen Sizilien und Afrika. Viele Dampfer waren in Sicht und dippten gehorsam schon von weitem vor dem heranschäumenden Meerdrachen die Flagge und empfingen ein nachlässiges Wimpelzucken zum Gruß. Auf allen Schiffen gingen die Landesfarben hoch: Norwegens blaues und Dänemarks weißes Kreuz in rotem Feld und Schwedens gelbes Kreuz in gezacktem Himmelblau, die weißen Sterne in blauem Viereck und rot-weißen Streifen der Vereinigten Staaten und Frankreichs Blau-Weiß-Rot und Hollands Rot-Weiß-Blau und Italiens Grün-Weiß-Rot. Dazwischen unterschieden die scharfen Seeaugen auf dem »Unshakable« die Hausflaggen der eigenen Handelsflotte am Heck, das einfache Rot der Leyland, den weißen Stern im roten Grund der White Star, den gekrönten goldenen Löwen im Rot der Cunard und neben diesen Liverpooler Farben das Blau-Weiß-Rot-Gelb der Londoner P. and O.

Nur eine Reihe Flaggen fehlte, die man sonst auf prachtvollen Riesendampfern an allen Enden der Erde sah: keine gekreuzten Schlüssel und Anker mehr, kein Hapag-Schild über Anker und Tau, kein Posthorn über der Kaiserkrone, kein Reserveoffizierkreuz im Schwarz-Weiß-Rot. Die deutsche Seefahrt stand still, und der Captain Bedwell sagte:

»Gott sei Dank, daß ich dem Antichrist auf den Wellen nicht mehr begegne!«

»Meine Augen sind viel besser, seit ich die Farben nicht mehr sehe.«

»Ich habe seitdem wieder einen wahren britischen Hunger.«

Die Gentlemen standen vor dem »Ajax«, dem vordersten Panzerturm nahe über der See, auf dem niederen, gefechtsklaren Deck, das sich völlig leer und blank wie eine Tenne unter ihren Füßen hob und senkte. Über ihren Köpfen starrte das erste Zwillingspaar der Feuerschlünde aus seinem Panzerhaus, fünfzig Fuß lang und ungeheuerlich in dem pfeifenden Wind, neigte die schwarz glotzenden Mäuler, reckte sie im Stampfen der eilig dampfenden Festung. Der Kommandant des Vorderturmes, der nach diesem gemeinhin selbst »Ajax« genannt wurde, reckte die Arme.

»Es ist wunderbar! Auf viele hundert Meilen rundum kein blutiger Teutone mehr in See.«

»Oh – geben Sie acht, Lord Saint Asaphs!«

Der Kapitän sprang selbst hinzu und faßte den Markgrafen am Arm, der plötzlich ganz nahe an den Schiffsrand getreten war. Da war keine Reling, keinerlei Schutz. Das fehlte Captain Bedwell noch, daß auf seinem Schiff ein leibhaftiger Peerserbe über Bord ging . . .

»Was haben Sie nur, mein Lord?«

Der Marqueß von St. Asaphs ließ das Fernrohr nicht von den schwarzen Augen.

»Ich sah da eben etwas – einen Augenblick – ganz weit da hinten . . .«

»Was für ein Ding?«

»Es schien mir wie das Sehrohr eines Tauchbootes!«

Die Seeleute lachten. Seine Herrlichkeit war keine Wasserratte wie sie. Ein Stückchen Treibholz hatte ihn wohl getäuscht.

»Ein britisches U-Boot würde hier über Wasser fahren, Mylord.«

»Und ein deutsches . . .?«

»Oh – mein Lord Markgraf! Wie käme solch ein Pestboot auch nur bis Gibraltar? Und welche Flunder kommt ohne unsere Erlaubnis an Gibraltar vorbei?«

Wieder lachten sie alle. Aber hätten sie die Sprache der Vögel verstanden, so hätten die Möwenschwärme, die hinter dem Schiff um die über Bord geworfenen Küchenabfälle kreisten, es ihnen mit ihren schrillen Kehlen zugeschrien: Bald wird vor Gallipoli der »Inflexible« sich beugen und der »Irresistible« keinen Widerstand mehr leisten, der »Goliath« wird seine Stärke verlieren, und der »Ozean« wird ertrinken. Der »Amethyst« wird nicht mehr funkeln und der »Rekrut« fallen und »Bouvet« mit ihm. Der »Gaulois« wird ein toter Gallier sein, und »Gambetta« und »Danton« werden in ihrem Rededonner verstummen. Dort drüben zog der Tod Britanniens an euch vorbei gen Gallipoli! Die Entscheidung der Welt. Ein einziger von euch hat die Nähe des furchtbarsten Gegners geahnt . . . der Marqueß von Saint Asaphs . . .

»Halloo! Neues von der ›Heidelberg‹?«

Funksprüche rasselten im Mast. Hunderte von Meldungen aus allen Ecken der Erde kreuzten sich zwischen den drei alten Weltteilen im Mittelmeer, befreundete und vielleicht auch feindliche, offene und geheime . . .

»Signal Point in Gibraltar gibt: ›Heidelberg‹ steuert, von einem Dutzend Schiffen gejagt, unter vierunddreißig und fünfunddreißig Grad Breite und sechs bis acht Grad Länge die marokkanische Westküste nordwärts.«

»Sie läuft unserer Flotte in den Rachen!«

»Ich wußte ja: wir auf dem ›Unshakable‹ haben das Nachsehen.«

Südlich der Pithyusen wurde der blaue Himmel grau. Regenböen fegten heran. Grobe See zeigte die Nähe des Atlantischen Ozeans. Der Sturm wehte fast genau von dort, aus der Straße von Gibraltar. Ein leeres Faß trieb auf den schäumend sich überkippenden Wellen. Ein zweites . . . ein drittes . . . eine Menge. Felder von Ölpfützen . . . Balken . . . eine Mütze . . .

Zur Rechten war nun schon die flache andalusische Küste. Zur Linken der gezackte Schnee des Atlas. Ein kleiner Handelsdampfer arbeitete sich vorbei, zeigte, wie betrunken in den Wellen rollend, im Großmast flatternd seine Flagge. Es war ein Grieche. Bunte Wimpel stiegen hüben und drüben . . . Zeichen aus dem internationalen Signalbuch: schräge rot-gelbe Streifen und blaue Vierecke in weißem Feld, rot-weiß-blaue und gelb-blaue Wimpel, weiß-blaue Stander, blau-weiß gewürfelte Vierecke, blaue mit weißen und rote mit gelben Streifen, blaue Rechtecke in Weiß spielten nacheinander. Der Kapitän wartete kaum das Ende ab. Er sprach kein Wort, steckte die Hände in die Taschen und rannte mitschiffs bis zu seinem Kommandoturm. Er war so wütend, daß ihm nur der Markgraf zu folgen wagte.

»Ist es möglich, Mylord? . . . Sind wir noch Briten? . . . Ein neutraler Dampfer kehrt im Atlantik unter unseren Augen aus Angst vor den Deutschen um. Ein britischer Dampfer beinahe in Sicht von Gibraltar von der ›Heidelberg‹ beschossen. O der Schande!«

»Es wird ihr letzter Streich gewesen sein!«

»Dieser Kahn ist nicht von Menschenhand gemacht. Er kommt aus der Hölle.«

»Dabei führt er natürlich in zynischer Frechheit unsere eigene Flagge . . .«

»Nein. Diesmal Blau und Weiß!«

»Die russische?«

»Es wird eben gemeldet: er ließ, wie er mitten zwischen den schlafmützigen Franzosen durchfuhr, die Marseillaise spielen und signalisierte, er sei auf der Jagd nach der ›Heidelberg‹ . . .«

»Und war dabei die ›Heidelberg‹ selber?!«

». . . und alle Franzosen enterten und schrien noch begeistert: ›Vive la Russie!‹ hinterher.«

»Es ist schamlos«, sagte der Markgraf.

Ein paar Stunden später hörte er unten in der ihm eingeräumten Offizierskajüte den Ruf eines Signalgasts, Stimmen auf Deck, Tritte auf den Planken. Er enterte elastisch die senkrechten Eisenleitern hinauf, die auf einem gefechtsklaren Panzer die Holztreppen ersetzten, schwang sich, beim Schlingern des Schiffes schräg nach hinten hängend, mit Viertelwendung durch die runden Aufstieglöcher, stand breitbeinig, gelassen wie im Klub in Piccadilly, barhaupt oben im grauen Pfeifen und Spritzen der See.

»Nie hab' ich so viel totes schwarzes Volk auf einmal gesehen«, sagte tiefsinnig neben ihm ein rotbäckiger Midshipman.

Hunderte von Kegelkugeln trieben in den Fluten. Aber sie waren schwarzwollig. Weiße Gebisse fletschten auf. Es waren die Köpfe ertrunkener Neger. Verwaschene Turbane, gebleichte farbige Schärpen schleiften mit.

»Gehörten die Nigger uns?«

»Nein. Den Franzosen. Es muß der Transportdampfer mit Senegalschützen sein, den die ›Heidelberg‹ vor ein paar Tagen versenkt hat.«

Ein britischer Zerstörer raste vorbei. Er fuhr eigentlich nicht. Er schoß durch die Wellen wie ein Wiesel durch das hohe Gras, verschwand in ihnen, kam schaumtriefend wieder heraus, meldete aus dem weißen Gischt:

»Die ›Heidelberg‹ heute morgen auf der Höhe von Cadix gesichtet und gejagt. Jetzt jedenfalls schon genommen.«

»Und da ist erst Gibraltar!«

Der riesige Felsklotz stieg schattenhaft und düster empor. Auf der anderen Seite der Bucht bogen sich hinter Algeciras die spanischen Dattelpalmen an der Küste im Sturm. Vom afrikanischen Ufer waren nur unbestimmte Umrisse von Gebirgen zu sehen. Spanische Torpedoboote, die rot-weiß-rote Kriegsflagge mit dem gelben Wappen am Mast, kämpften von der marokkanischen Küste her gegen die Windsbraut, jagten wie ein Komet mit kaum sichtbarem Kopf und langem, schief gewebtem Rauchschweif nach Ceuta zurück. Es war ein Heulen und Donnern in dem weiten, leeren Raum von Himmel, Wasser und Luft, die zu einem einzigen stürmenden Element zusammenzufluten schienen, von oben in Wolkenbrüchen niederklatschten, von vorn das Deck des Panzers mit reihenweise wie weiße Schwarmlinien anlaufenden Wellenbergen überschwemmten.

»Rauhe See«, sprach der Marqueß von St. Asaphs, sich behaglich wie ein nasser Pudel schüttelnd. Das Schiffsbuch verzeichnete schon Windstärke acht. Aber der Sturm wuchs immer noch. Erst im Schutz der offenen Reede von Gibraltar ließ er scheinbar nach. Man sah kaum die Stadt am Felshang und die Molen des inneren Hafens, so weit lag der »Unshakable« draußen, um, wenn nötig, sofort weiterzudampfen. Vorläufig ging der Kommandant in einer Barkasse an Land. Lord Harald mit ihm. Unterwegs, schon nahe an den Kohlenlagern auf den Kais der neuen Mole, kam ihnen von der Torpedostation drinnen der Zerstörer von vorhin entgegen. Er war pechschwarz. Sein Vordersteven ragte steil in das spritzende und klatschende Naß. Er war auf dem Wege nach Cadix. Lord Harald St. Asaphs war sofort entschlossen, mitzufahren. Drüben stoppten sie. Was draußen auf der beinahe weiß gewordenen, wie kochenden See Selbstmord gewesen wäre, die Übernahme an Bord, das mochte ein zäher, langbeiniger Sportsmann hier im Hafen schon vollbringen. Matrosenarme halfen nach. Der Markgraf stand im triefenden Ölmantel, die Pfeife im Mund, sich mit beiden Händen festhaltend, auf dem sich wie wahnsinnig wälzenden Fahrzeug, das scheinbar jeden Augenblick bald nach rechts, bald nach links zu kentern drohte. Es war eine Fahrt für feste Magennerven. Da war kein Platz für Seekrankheit. Der lange Lord hatte die freudige Spannung wie beim Ende einer Fuchsjagd, wenn der Huntsman dem Feld die Köpfe freigab. Würde er noch zum Ende der »Heidelberg« zurechtkommen? Bei diesem Sturmgrau und einbrechender Dämmerung, durch die man kaum mehr eine Meile weit sah?

Man mußte schon lange an Tarifa vorbei sein. Er spähte hinüber nach Afrika. Keine Möglichkeit, Lloyds Leuchtturm auf dem Cap Spartel zu entdecken! Aber an den ungeheuren Wellenbergen, die sich jetzt heranwälzten, merkte man, daß man die Säulen des Herkules hinter sich hatte. Der Erste Offizier schrie dem Peerserben etwas ins Ohr und wies nach vorn. Da war Land. Eine Klippe, um die ein brausender weißer Brandungsgürtel schwappte. Kap Trafalgar. Damals, vor hundert Jahren, waren die Welschen und die Dons auch aus Cadix herausgesegelt. Man war dicht vor Cadix. Ein dumpfer Donnerschlag durch das Tosen des Atlantik. Ein zweiter. Anscheinend ganz nah . . .

»Sie haben sie! Sie haben sie!«

»Drei Hochs für Alt-England!«

»Da kommen britische Schiffe aus dem Nebel in Sicht!«

»Nein – ein alter Spanier!«

»Ein Küstenpanzer.«

»Der ›Fortun de Torre‹. Er feuert!«

»Wer hat hier zu schießen außer uns?«

»Mit Kartuschen! Er gibt Warnungsschüsse ab. Er wahrt die spanische Dreimeilenzone.«

»Hol' die Pest alle neutralen Gewässer!«

»Was bedeutet das Kanonenzeichen?«

»Die Verfolgung hat die spanische Hoheitsgrenze erreicht.«

»Dann müßte die ›Heidelberg‹ mit des Bösen Hilfe irgendwo hier auf neutralem Ankergrund sein?«

»Ich bin wahrhaft traurig, sagen zu müssen, daß es so den Anschein hat, mein Lord Marqueß.«

In der rasch zunehmenden Finsternis über den Wassern tauchten Schwärme schaukelnder schwarzer, schneller Striche auf. Man war auf eine britische Torpedoflottille gestoßen. Der Zerstörer trat in Luftverbindung mit dem Kommodore.

»Hurra!«

»Was für ein Ding?«

»Die ›Heidelberg‹ steckt irgendwo im Golf von Cadix wie die Maus im Käfig. Entrinnen kann sie nicht mehr.«

»Morgen wird man sehen, Mylord. In dieser Höllennacht ist ja nichts zu machen.«

Die weiße Stadt Cadix lag jetzt wie eine wilde graue Felseninsel inmitten des Meeres, das sie von allen Seiten umbrüllte. Ihre schmale, lange Verbindungsdüne nach dem europäischen Festland hatten Sturm und Nacht verschluckt. Sturm umheulte die hohen Mauern. Warf den Markgrafen von St. Asaphs beinahe nieder, als er vor dem Seetor mit seinen Begleitern aus der wild tanzenden Barke stieg. Von überall her hörte man das Dröhnen der aufgeregten Wogen um die ganze Stadt und um die Klippen draußen. Dahinter rauschte in endloser Dunkelheit das Meer. Viele verirrte Lichter auf ihm gleitend. Stilliegend. Als zuckende Zeichen blinkend und schwindend. Mondstrahlen von Scheinwerfern. Dann plötzliche Windstille zwischen den schwindelnd hohen Häusern der andalusischen Hafenstadt. Eine beinahe unheimliche Ruhe, in der man auf einmal überall Menschenstimmen hörte, Menschen sah, die in Mengen vor ihren Toren standen, weil der Orkan sie oben von ihren flachen Dächern wehte – spanische Laute, dann, in der Herzog-von-Tetuan-Straße Worte, bei denen der nervenlose Lord doch wie von einem Nadelstich zusammenzuckte – zum erstenmal seit einem halben Jahr wieder deutsche Worte irgendwo auf der Erde. Man mußte sie anhören – hier, auf neutralem Boden . . .

»Es sind seit gestern viele Deutsche hier, Sir«, meldete ihm ein trinkgeldhungriger Hafenschmarotzer, der sich ihm angeschlossen hatte, in gebrochenem Englisch. »Viele leben seit Kriegsanfang in Sevilla und Malaga, weil sie nicht weiter können. Sie sind wegen der ›Heidelberg‹ hier.«

Der Marqueß von St. Asaphs achtete nicht darauf. Er sagte mit einem schadenfrohen Lächeln unter dem dunklen Schnurrbärtchen zu dem Gentleman neben ihm:

»Diese Deutschen, die da vor uns gehen, erzählten sich eben – laut wie immer – die ›Heidelberg‹ sitze in der Richtung nach Norden auf den Klippen fest. Ihre Freunde hätten es eben aus Rota gemeldet.«

Craven, der athletische Clergyman zu seiner Linken, machte bei Erwähnung der kleinen Winzerstadt, aus der die englische Hochkirche ihren Bedarf an blaurotem Abendmahlwein bezog, ein salbungsvolles Gesicht.

»Möge sie heute nacht zur Hölle gehen«, sprach er inbrünstig.

Lord Harald lachte.

»Eben höre ich es wieder«, sagte er, auf den Konstitutionsplatz einbiegend, auf dem der Sturm im Kreise wirbelte, die Fächerpalmen schüttelte und um die gespenstisch verrenkten alten Drachenbäume pfiff. »Die ›Heidelberg‹ liegt leck quer auf einer Unterwasserklippe zwischen Bormeja und Puntilla. Wir können heute nacht ruhig schlafen, Gentlemen.«

Das Café Inglès, in das sie eintraten, war voll von Menschen. Spanier, Franzosen. Viele Engländer und Amerikaner. Aufregung auf allen Gesichtern. Unbekannte sprachen einander an. Was angelsächsisch war, rückte zusammen. Aus einer Britenrunde gleich am Anfang sprang beim Anblick des Peerserben ein kleiner nachlässig gekleideter Mann mit einem Gesicht gleich einem verschrumpften Winterapfel eilig auf, schob den Kellner, der hemdärmelig, die Zigarre im Munde, bediente, mit einem ebenso demokratischen Schulterschlag beiseite und stürzte auf den Marqueß von St. Asaphs zu. Der musterte ihn eisig. Er kannte ihn nicht.

»Ich hatte die Ehre, Euer Herrlichkeit in London vorgestellt zu werden, mein Lord Markgraf.«

»Oh – in der Tat?« sagte der Marqueß zwischen den Zähnen.

»Auf Westminster-Terrasse, Euer Höchste Ehren. Benjamin T. Branagan aus Ohio. Ich kontrolliere die Kanaan-Stahl-Werke.«

»Die Munitionsfabriken?«

»So ist es, mein Lord.«

»Bei Jupiter!« Der britische Große bot dem kleinen stämmigen Yankee gleich beide Hände und schüttelte sie herzlich. »Wie geht's, mein teurer Mr. Branagan? Ich bin so froh, Sie zu sehen. Welch angenehme Stunde verplauderten wir damals zusammen! Ich hoffe ernstlich, Sie bald in Ogmore Castle zu begrüßen.«

»Euer Herrlichkeit sind sehr gnädig!«

»Sind Sie in Geschäften hier?«

»Ich besuche mit meinen Ladies die Alhambra. Es ist dort erquickend warm und lieblich. In acht Tagen hoffe ich von Paris aus selbst die Sprengwirkung meiner neuen Giftgranaten zu studieren.«

»Vortrefflich, lieber Herr!«

»Und meinen Glückwunsch, wenn es erlaubt ist, mein Lord Marqueß!«

»Wozu?«

»Die ›Heidelberg‹ ist soeben gesunken!«

»In der Tat?«

»Mein Landsmann dort, ein zäher Sportsmann, ist im Auto bis Punta Santa Maria und zurück gefahren. Der Sturm blies ihn beinahe um!«

»Und was weiß er?«

»Die ›Heidelberg‹ brach auf der Klippe auseinander wie ein Ei und ging in die Tiefe. Viel Volk stand in den Wanten und versank.«

»Der Gentleman sah es selbst?«

»Er sah es. Die Franzosen auf See wissen es auch schon durch Funkspruch von hier.«

»Sehr gut! Ich danke Ihnen, mein teurer Mr. Branagan. Lassen Sie mich Ihrem Freund die Hand schütteln.«

Es war ein tiefes Schweigen der Ehrfurcht, als der Marqueß Harald von St. Asaphs an den Tisch voll Briten trat. Man stellte sich nicht vor. Man sprach sich einfach englisch an. Das war der Freibrief für die Erde. Mr. Branagan erläuterte nur:

»Ich habe meinen Landsmann vorhin hier in Cadix an einer Straßenecke kennengelernt, wo wir beide zufällig gleichzeitig Schutz gegen den Wind suchten . . .«

»Oh . . . wie erfreulich«, sprach der Lord und setzte sich zwischen sie. Er war gegen Yankees, solange sie ihm nützen konnten, immer sehr höflich.

»Es hat sich gezeigt, daß Mr. Lumley wie ich aus dem mittleren Westen stammt – aus Illinois. Wir sind beide, unserer platform nach, Männer Roosevelts . . .«

»Recht so . . .«

». . . und es zeigte sich ferner, daß wir beide schätzen, daß freien Amerikanern Munitionsverschiffung überallhin zusteht. Nehmen Sie noch ein Getränk, Mr. Lumley?«

»Dank Ihnen, Mr. Branagan«, sagte der Gentleman aus Santa Maria. Er war noch jung, bartlos und hellblond und hatte einen humoristischen Gesichtsausdruck. Beim ersten Wort verriet er durch die eigentümlich näselnde Aussprache den Amerikaner. Seine Ausdrucksweise war trocken und bestimmt. Er nickte, die Hände in den Taschen, die Beine lang ausgestreckt, dem Lord zu seiner Linken freundlich zu.

»Eine grausame Nacht, Lord Saint Asaphs. Ich kalkuliere, daß morgen von der ›Heidelberg‹ keine Planke mehr zu sehen sein wird.«

»Oh – glauben Sie das wirklich? Auf Ihr Wohl, Mister Lumley!«

»Ich danke, Mylord! Ich trinke auf Ihr langes und glückliches Leben. Ja, morgen wird viel Freude in Lloyds Sälen sein.«

»Lloyds lag beängstigend matt!«

»Gott strafe die ›Heidelberg‹!« sagte Mr. Lumley und lachte über den Strohhalm seines Getränks hinweg, den er zwischen den Zähnen hielt. Es war ein vergnügliches Zwinkern ganz hinten in seinen Augen. Die anderen lachten mit. Der Gentleman von der Kanaan Company erläuterte:

»Mr. Lumley zieht drüben sein Geld aus Maschinenbau. Er sucht Anschluß an Lieferungen nach Europa. Es stehen, wie er mich sehen ließ, prominente Finanzkreise hinter ihm.«

»Bauen Sie ja Ihre Fabriken um, Sir.«

»Gießen Sie uns dicke Geschütze!«

»Oh – ich denke, Sie werden sehr bald etwas von meinen Geschützen hören«, sprach Mr. Lumley bescheiden.

»Und eins, Mr. Lumley!« Lord St. Asaphs legte mit gewinnender Vertraulichkeit seinen Arm über die Stuhllehne des anderen. »Erwähnen Sie in Ihren Briefen nach den Staaten die ›Heidelberg‹ nicht zu ausführlich. Das kleine Schiff verdient es ja gar nicht . . .«

»So ist es, Mylord!«

»Schreiben Sie doch lieber, es sei gar nicht so schlimm gewesen. Es sei uns im Gegenteil herzlich willkommen gewesen, daß einmal solch ein Schiff sich herauswagte und alle deutschen Mängel sehen ließ. Es sei ein prächtiges Übungsspiel für die britische Flotte gewesen . . .«

»Sie werden Berichte über die ›Heidelberg‹ lesen!«

»Das Schiff hat ja wirklich nur im Anfang ein wenig blindes Glück gehabt. Die Besatzung bestand aus Seeräubern –«

»Seeraub, Mylord, ist das richtige Wort für manche Dinge jetzt auf dem Meer.«

»Und es ist beschämend, hinzufügen zu müssen, daß sie auch so feige war, wie es Seeräuber sind, und sich schimpflich ergab . . . Oh – was haben Sie, Mr. Lumley? Sie sahen für eine Sekunde ganz grimmig aus.«

»Es ist nichts, Mylord. Ein wenig Gesichtszucken. Es ist meine üble Angewohnheit.«

»Sie können ja hinzufügen, man sei in Deutschland von dem kläglichen Ausgang des Unternehmens bitter enttäuscht. Der verantwortliche Admiral habe sich bereits in voller Uniform in den Kaiser-Wilhelm-Kanal gestürzt. Wollen Sie?«

»Ich will so viel tun, daß Sie erstaunt sein werden, Mylord.«

»Sie sind ein wahrer Freund Englands, Mr. Lumley. Sie wollen uns doch nicht schon Ihre Gesellschaft entziehen?«

Mr. Lumley war aufgestanden. Es zuckte von den Mundwinkeln her um den trockenen Ernst seiner Lippen, und er lachte.

»Ich muß nach meinem Daimler sehen! Es ist meine Art auf Reisen, daß ich mich nicht schlafen lege, ehe ich nicht selbst das Vorhängschloß vor Tank und Haube gelegt habe. Ich empfehle mich Eurer Lordschaft. Gute Nacht, Gentlemen!«

Mr. Lumley ging draußen rasch die dunklen, stürmenden Straßen entlang. Auf dem Isabellenplatz trat ihm ein Mann im Mantel entgegen. Plötzlich konnte der Gentleman aus Illinois Deutsch – sogar Deutsch wie ein Deutscher, mit deutlichem Anklang an die Bremer Mundart.

»Tja . . . da bin ich. Alles in Ordnung?«

»Alles!«

»Dann können wir ja wohl 'n büschen aufs Wasser gehen.«

»Unsere Gerüchte haben gewirkt. In der ganzen Stadt erzählen sie sich, daß die ›Heidelberg‹ auf den Klippen festsitzt.«

»Kinnings, ihr werdet euch wundern!«

»Und draußen auf See glauben sie es auch in allen Messen.«

Der Mann im Mantel hatte den Tonfall eines Deutschamerikaners. Er und sein Begleiter schritten eilig, mit vorgebeugten Köpfen, dem in der Ferne unsichtbaren, nahen Donnern und Salzstieben der Hafenkais entgegen.

»Das Barometer steigt. Es gibt schön Wetter.«

»Das stört mich nicht. Die Nacht ist noch lang.«

»Wieviel Uhr?«

»Kaum Klock zehn.«

An der Treppe schaukelte ein Boot mit vier Ruderern. Die beiden blieben stehen und gaben sich die Hand.

»Dank Ihnen für Ihre Hilfe! Danken Sie auch noch den anderen Deutschen, die geholfen haben.«

»Keine Ursache, Captain Lürsen.«

»Das war mal für mich ein ganz gemütliches Stündchen an Land – nicht? Aber nun wollen wir doch mal schauen, daß wir still freikommen.«

»Los, Caballeros!«

»Gott helfe weiter, Captain Lürsen!«

Der andere stand breitbeinig in dem schwankenden Boot. Alle Geister der Abenteuerlust tanzten im Aufglimmen seiner Zigarre über sein trocken verwegenes Gesicht und lachten in seinen blauen Seemannsaugen.

»Wenn der liebe Gott nur nicht den Vettern drüben hilft. Das übrige mache ich ja dann wohl schon von selber.«

Er setzte sich behaglich auf die triefende Bank und winkte dem anderen mit der Hand zum Abschied. Der stand oben und grüßte zurück und sah, wie das Boot mit dem Korvettenkapitän Erich Lürsen unter schweren Ruderschlägen in die tosende, pechschwarze Nacht hinausschaukelte und verschwand . . .

Gegen Morgen ließ die Wut der Wellen und Winde nach. Es wehte nur noch stoßweise in wachsenden Zwischenzeiten, wurde ein immer ruhigeres Atmen des Alls. Es kam die Stille nach dem Sturm. Es kam die Sonne. Es kam, gegen die neunte Vormittagsstunde, ein Himmelblau, das keine blaue Farbe mehr, sondern ein blaues Feuer war, so flammend und unergründlich wölbte es sich über dem ebenso tiefblau gewordenen Meer. Auf dem lösten sich die weißen Wellenmähnen in leichten Schaum und ebenen Wasserspiegel. Nur wer auf den Wogen fuhr, merkte noch an den ungestümen Schwankungen seines Schiffes die bis in ihre Tiefen erregte tote See.

Eine Märchenstadt schwamm schneeweiß flimmernd, wie eine Luftspiegelung, im blauen Ineinanderfluten des spanischen Himmels und des Atlantischen Ozeans. Eine Insel aus Tausendundeiner Nacht, mit unzähligen Türmen, Zacken, Zinnen, Mauern, lag Cadix im goldenen Sonnenschein. Auf seinen flachen Dächern standen schwarz die Menschen. Sie säumten in schwarzen Linien die hohen Uferkais. Sie bedeckten zu Tausenden drüben die andalusische Küste des Festlands, die hier im Golf von Cadix viele Stunden weit ein einziger großer Garten war. Sie lugten von den Wanten und Rahen der Schiffe auf der Reede in die Weite. Alle Augen suchten dort die Reste der »Heidelberg«.

Der Marqueß von St. Asaphs hatte mit seinen Freunden den Aussichtsturm des Hoteldachs bestiegen. Ringsum hoben sich zu Hunderten diese Miradores, diese Warten über der Stadt, in die Lüfte. Sein Fernrohr wanderte von Trafalgar bis zum Kanal des Heiligen Vaters und sah nicht mehr als die anderen. Sah nichts.

»Gesunken!«

»Mit Mann und Maus!«

Ein herzliches britisches Lachen. Aber es klang nicht ganz zuversichtlich und ungezwungen. In jedem dieser Engländer steckte ein Stück Wasserratte. Daher kamen die Zweifel. Man hätte annehmen müssen, daß wenigstens eine Mastspitze aus den Fluten ragte. Oder irgendwo ein Teil des Schiffsrumpfes sich kieloben wölbte. Nichts von alledem. Der athletische junge Reverend Craven kletterte durch die Luke auf das Dach. Er war atemlos.

»Neues?«

»Man weiß drüben am spanischen Ufer gar nichts von dem Schiff.«

»Nichts?«

»Niemand hat es gesehen. Oder gar seinen Untergang.«

»Und gestern abend erzählte man es in ganz Cadix!«

»Da ist keine Planke. Keine Leiche. Kein gekentertes Boot. Nichts, was zu einem Schiffbruch gehört!«

»Und draußen auf See sind sie auch auf einmal so merkwürdig unruhig.«

»Was soll das bedeuten?«

Die Kriegsdampfer der Verbündeten umrahmten fern am Himmelsrand mit ihrem Dutzend schwarzer Rauchtrauben die weite Bucht. Man sah diese geballten Schlotwolken sich bewegen, scheinbar suchend in den Atlantischen Ozean hinaussteuern, sah das pfeilschnelle Gleiten der Zerstörer, die wie schwarze kleine Schlangen unruhig die blaue Flut durchschnitten.

»Dies ist besorgniserregend!«

»Es kann einen Mann wenigstens nachdenklich machen, Sir.«

Ringsum waren lange, aber noch stoisch ruhige, sommersprossige Britengesichter. Nahe drüben, bei der Punta San Felipe, lagen einige mächtige deutsche Ozeanfahrer verankert. Sie hatten sich bei Kriegsausbruch hierhergerettet und seitdem still im Schutz der spanischen Gastfreundschaft geruht. Heute waren Leute auf ihrem Verdeck. Die winzigen Figürchen neugieriger Matrosen hoben sich vom Spinnweb des Takelwerks ab. Man erkannte durch das Fernrohr deutlich die lachenden deutschen Gesichter. »Was haben die Germans zu grinsen?«

»Ich hoffe ernstlich, nicht über uns!«

»Gehen wir lieber hinunter. Warrington wird noch da sein.«

»Fragen wir den Admiral!«

»Oh – ein betrübender Anblick . . .«

»Was ist da zu sehen?«

»Ein britischer Admiral, der seine Fassung verlor!«

Die Tür von Nummer dreiunddreißig der Taverne stand offen. Innen lief ein vierschrötiger alter Herr mit wutgeballten Fäusten von dem bis zum Boden reichenden Fenster bis zur Schwelle und zurück.

»Um Gottes willen, Sir James . . . Seien Sie ein Brite!«

Aber Sir James Warrington, R. N., keuchte. Seine kleinen wasserblauen Augen funkelten in dem krebsroten Bulldoggengesicht.

»Was auch geschehen sein mag . . . Sie trifft es nicht, Sir James. Sie hatten hier nicht dienstlich zu tun.«

»Nein, ich war nur Zuschauer dieser schwarzen Nacht!«

»Wo ist die ›Heidelberg‹?«

»Fragt lieber, wo sie heute nacht war, Gentlemen!« Der Admiral stürzte an das offene Fenster, vor dem das Balkongitter sich wölbte, und wies in die Richtung nach San Felipe. »Seht ihr dort die deutschen Dampfer?«

»Ja . . . ja . . .«

»Dort, zwischen den beiden ganz vorn, hat die ›Heidelberg‹ die halbe Nacht gelegen.«

»Was?«

»Dicht vor unserer Nase, Gentlemen!«

»Wie?«

»Ein paar tausend Schritte von hier. Wir hätten sie mit Händen greifen können.«

»Oh – sagen Sie das nicht, Sir James!«

»Und dann?«

»Zwischen Mitternacht und Morgen ist sie hinaus!«

»Aus dem Hafen?«

»Mit Volldampf im Stockdunkel zwischen den Franzosen draußen durch! Sie hatte natürlich Helfershelfer an Land. Signale mögen gegeben sein. Hafenkundige gewonnen. Aber immerhin . . .«

Die Engländer sahen sich an. Zu sehr Seefahrer waren sie alle, als daß ihnen nicht unwillkürlich ein Schauer der Hochachtung vor diesem Seemannsstück über den Rücken gerieselt wäre: Bei Nacht und Sturm ohne Lotsen in die Bucht von Cadix und dann wieder hinaus! Und draußen der Feind . . .

»Und nun?«

»Nun ist sie wieder in weitem Feld. Das alte Spiel geht wieder los. Sie hat Kohlen bis in die Bunker. Ich hörte es eben von der Gasse herauf. Die Deutschen verkünden es zynisch in der ganzen Stadt.«

»Schade, daß man den Mann nicht für die Königliche Marine anwerben kann«, sprach Craven, der Clergyman, und es entstand eine Stille. –

Es war gute englische Art, um unbequeme Dinge herumzudenken, wie man auf der Fuchsjagd um unbequeme Hindernisse herumritt. Man belog sich selbst noch viel mehr als den Erdball. Großbritannien konnte niemand anderem die Wahrheit sagen, weil es sie von seinem eigenen Angesicht verbannt hatte. Aber als der Marqueß von St. Asaphs einige Tage später bei heißem Sonnenschein unter den Bananenstauden und Drachenbäumen der Alameda von Gibraltar saß, kam aus der Stadt, am Grün des Trafalgar-Friedhofes vorbei, aus dem »Kloster«, dem Amtssitz des Gouverneurs, sein zweiter Bruder, Lord Charles Glun, mit auffallend langen Schritten, die Hände in den Taschen der weitbauchigen Reithose, die Stummelpfeife sorgenvoll und ärgerlich schief im Munde. Lord Charles war ebenso hünenhaft an Wuchs wie der Markgraf, aber dabei von angelsächsischem Allerweltsblond, sein Gesicht sommersprossig, kalt und beschränkt. Er setzte sich und sagte zwischen Zähnen und Pfeife:

»›Heidelberg‹ wieder am Werk!«

»Wo?«

»Im nördlichen Atlantik. Auf der Amerika-Fahrtlinie. Nichts kann unerwünschter sein. Man sah schon wieder einen ausgebrannten Segler treiben.«

Die hochgeborenen britischen Brüder schauten eine Weile nachdenklich vor sich in das Gefieder der Zwergpalmen hinein.

»Reitest du heute nachmittag, Charley?«

»Ich muß auf einen Sprung hinüber nach Marokko. Die Franzosen sind ewig Pfennigfuchser. Bei Raisuli und den Adjerres hier in der Nähe hat der ›Times‹-Korrespondent schon nützliche Arbeit getan. Aber unser Scheckbuch muß bis Timbuktu reichen!«

»Ja, es muß viel mehr geschehen«, sprach der Marqueß Harald von St. Asaphs und erhob sich in seinen sechseinhalb Fuß Länge. »Wir wären töricht, wenn wir uns nicht eingestehen wollten: Wir haben noch nie ein Volk so unterschätzt wie das deutsche! Ich fahre morgen nach London zurück.«

 


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