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Zwanzigstes Kapitel.
Das zweite Kind in Ruderheim

Ich fuhr langsam nach Hause, den kleinen Pat auf dem Schoß, der mich stillvergnügt mit seinen wasserblauen Augen anblinzelte. Es ging alles gut, bis mir auf einmal aus der Ferne ein Wagen entgegenkam. Es war eine Chaise, die, wie ich sofort erkannte, einer uns befreundeten Familie der Nachbarschaft angehörte. Vermutlich waren die Damen auf einer Spazierfahrt begriffen.

Schnell wie der Blitz wickelte ich Pat in seinen Shawl ein, steckte ihn unter den Sitz, strich mir dann die Decke über den Knieen glatt und fuhr nicht ohne innere Aufregung des Weges weiter.

Die Damen ließen halten, wir wechselten die üblichen Grüße. Sie erkundigten sich nach meiner Frau, waren erstaunt, mich allein zu sehen und machten verschiedene liebenswürdige Bemerkungen, auf die ich so heiter und ungezwungen wie möglich antwortete. Sie waren in bester Laune, aber doch merkte ich ihnen eine gewisse Befangenheit an, die ich mir nicht erklären konnte, denn der kleine Pat hatte sich während der ganzen Unterredung nicht gerührt und keinen Laut von sich gegeben.

Als ich ihn nachher wieder auf den Schoß nahm, entdeckte ich zufällig, daß seine Flasche keck zwischen den Wagenkissen hervorsah. – Kein Wunder, dieser Anblick mußte die Damen befremden!

Zu Hause angekommen, fuhr ich sogleich nach der Scheune, wo ich glücklicherweise Jonas traf. Ich reichte ihm den kleinen Pat hin, – er war ganz starr vor Erstaunen und hielt das Kind auf dem Arm, ohne ein Wort zu sagen. Als ich ihm aber meinen Plan auseinandersetzte, begriff er ihn nicht nur sehr schnell, sondern war auch ganz vergnügt darüber. Es schien ihm an dem Erfolg ebenso viel zu liegen, wie mir selber. Eben wollte ich das Kind ins Haus tragen, als Jonas bemerkte, daß es barfuß war.

»Wie kommt das!« sagte ich, »Pat hatte doch Socken an, als er mir übergeben wurde, das weiß ich bestimmt.«

»Hier sind sie,« sagte Jonas und zog sie aus dem Shawl heraus, »er muß sie abgestreift haben!«

»So kann ich ihn aber nicht hineintragen,« meinte ich, »wir wollen sie ihm wieder anziehen, – halten Sie ihn einmal!«

Jonas setzte sich auf den Futterkasten und legte den Kleinen vorsichtig auf seinen Schoß, so daß er mir die Füßchen entgegenstreckte, während ich vor ihm kniete und mich bemühte, ihm die Socken wieder anzuziehen. Keine kleine Arbeit! Sie waren nämlich so lose gestrickt, wie ein Netz, und Pats winzige Zehen, die er fortwährend zusammenkrümmte und wieder ausstreckte, kamen oft an Stellen hindurch, wo man sie am allerwenigsten erwartete. Nach vieler Mühe hatte er sie endlich beide an, und auch die Fersen saßen so ziemlich am richtigen Fleck.

»Nun wollen wir sie festbinden,« sagte ich, »wo sind seine Strumpfbänder?«

»So kleine Kinder tragen, glaube ich, noch keine,« meinte Jonas nachdenklich.

»Nun, ich halte ihm eben die Beinchen fest, während ich ihn hineintrage; er strampelt immer mit den Füßen, sonst würden sie schon sitzen bleiben.«

Als ich am Küchenfenster vorbeiging, sah Pomona von ihrer Arbeit auf, erblickte mich und ließ den Gegenstand, den sie gerade in der Hand hielt, mit lautem Krach zu Boden fallen – wie viel der Krach mich kostete, weiß ich nicht.

Jonas stürzte hinein, um Pomona alles zu erzählen und im nächsten Augenblick ertönte ein schallendes Gelächter! Bei diesem Lärm erschien Euphemia oben am Fenster: »Still!« rief sie in strengem Ton und winkte mit der Hand, – kaum hatte sie mich jedoch erblickt, so kam sie auch schon die Treppe herabgeflogen, und wir trafen gerade an der Thüre zum Speisezimmer zusammen.

»Was in aller Welt – –!« rief sie.

»Dies,« sagte ich und hielt Pat in die Höhe, »ist mein Kind!«

»Dein – Kind?« rief Euphemia, »wo hast du es her, was willst du damit?«

»Ich hab' mir's aus Neu-Dublin geholt,« versetzte ich, »damit ich zu Hause Unterhaltung habe und Beschäftigung finde. Ich bin sonst doch nur das fünfte Rad am Wagen.«

»So?« sagte Euphemia.

In diesem Augenblick begann der kleine Pat zum erstenmal zu weinen, vielleicht weil ihn meine Frau mit so kritischen Blicken ansah. Sogleich ging ich mit ihm auf und ab, und sang ihm ein Liedchen vor, um ihn zu beruhigen. Da ich aber keine Kinderreime kannte und es mehr auf eine besänftigende Musik als auf die Worte ankam, sang ich nach der Melodie einer alten Methodisten-Hymne:

»Patchen, Patchen, sei nicht bange.
Was fehlt dir denn, was schreist du so?
Bald kriegst du deine volle Flasche
Und dann bist du wieder froh!« –

»Was für Unsinn,« lächelte Euphemia mitten in ihrem Ärger.

»Gar kein Unsinn – in der Flasche
Ist nur süße, weiße Milch!«

So singend ging ich zur Küchenthüre und ließ mir von Jonas die Flasche aus der Scheune holen. Pomona bekam förmlich Krämpfe vor Lachen und Euphemia bemühte sich vergebens, ernsthaft zu werden.

»Wer soll es denn warten, das möchte ich nur wissen?« sagte sie endlich im Tone strenger Entrüstung.

»Manchmal ich und manchmal Thomas,«

gab ich trällernd zur Antwort, indem ich das Kind auf meinen Armen hin und her wiegte.

Die Flasche kam und ich wollte dem kleinen Pat zu trinken geben; aber, war es nun, daß die Gegenwart so vieler kritischer Zuschauer uns zerstreute, – denn Jonas und Pomona standen an der Thüre und wollten sich vor Lachen ausschütten, während Euphemia sich das Taschentuch vor den Mund hielt – oder verstand ich mich nicht recht auf die Flasche – kurz, der Kleine bekam nichts und fing vor Enttäuschung bitterlich an zu weinen!

»Gieb her, gieb mir das Kind,« rief Euphemia und entriß mir Pat samt der Flasche, »sonst steckst du ihm gar noch die ganze Geschichte auf einmal in seinen großen Mund!«

In friedlichem Behagen studierte nun Pat die Züge der guten Frau, die ihn so schön zu füttern verstand und spielte vergnügt mit seinem Gummistöpsel.

»Du wirst doch nicht etwa glauben,« sagte Euphemia, als wir mit dem Kinde allein waren, »ich werde zugeben, daß du dies irländische Pflänzchen im Hause behältst! S'ist ein richtiger Paddy! Paddy – Spottname für die Irländer in Amerika, welche meist der dienenden Klasse angehören. D. Übers. Aus ihm wird doch nichts besseres als ein gewöhnlicher Taglöhner, mit der Butte auf dem Rücken!«

»Ja so,« sagte ich, »daran habe ich gar nicht gedacht – nun wird mich seine Entwickelung doppelt interessieren, und als erstes Spielzeug soll er eine kleine Butte haben!«

»Ich scherze durchaus nicht, nimm nur das Kind und trage es schnell wieder hin, wo du es herbekommen hast, denn es fällt mir gar nicht ein, seine Wartung zu übernehmen.«

»Das sollst du auch nicht, ich weiß ja nun wie's gemacht wird und kann es ganz gut selber besorgen. Ich füttere das Kind und Jonas hilft mir dabei. Jetzt sieht es aber schläfrig aus, soll ich es hinauftragen und auf unser Bett legen?«

»Ach was?« rief Euphemia, »lege es hier auf die Decke, bis wir gegessen haben, und dann schaffst du es wieder nach Hause!«

Ich legte den kleinen Hibernier auf die zusammengefaltete Stepp-Decke, welche Euphemia auf den Boden gebreitet hatte, und, das Stumpfnäschen nach oben gewendet, schlummerte er zufrieden ein.

Am Nachmittag nagelte ich vier Füße an eine Kiste, machte darin vermittelst eines Kopfkissens ein ganz behagliches Nest zurecht und anstatt Pat nach Hause zu bringen, borgte ich mir abends etwas Kinderzeug von Pomona und schickte mich an, ihn zu Bett zu bringen.

Das gab jedoch Euphemia nicht zu; ohne ein Wort zu sagen, nahm sie ihn mir weg und besorgte alles selbst.

»Morgen,« sagte sie, »mußt du ihn auf jeden Fall fort bringen, ich dulde es nicht länger, – noch dazu in unserem Zimmer!«

»Von dem Kind, das du adoptiert hast, habe ich doch niemals in solchem Ton gesprochen,« versetzte ich.

Sie erwiderte nichts, sondern ging hinaus, um wie gewöhnlich während Pomona das Geschirr aufwusch, für deren Kleine zu sorgen.

In der Nacht erwachte Pat mehrmals und störte uns sehr durch seine Klagetöne; die beiden erstenmale stand ich auf, trug ihn herum und sang selbstgemachte Reime zur Melodie meiner Methodisten-Hymne, aber das drittemal übernahm Euphemia das Kind, weil ihr das Kindergeschrei noch weit erträglicher sei, als mein trübseliger Singsang. Bald war der Schreihals beruhigt, und nachdem sie ihm das Bettchen aufgeschüttelt hatte, ließ er nichts mehr von sich hören.

Als ich am Morgen das rotköpfige Würmchen in seiner Kiste liegen sah, sank mir fast der Mut, aber im Lauf des Tages faßte ich mir wieder ein Herz und widmete mich ganz meinem Schützling, den ich im Hause herumtrug, und dabei eine Menge Verse mit und ohne Reim komponierte.

Euphemia war sehr ungehalten darüber und hörte nicht auf zu schelten; sie wollte schon ihren Hut aufsetzen um des Kindes Mutter zu holen, doch als ich ihr sagte, die Mutter sei tot, gab sie den Plan wieder auf. Sie gab sich viel Mühe mit Pat, denn, meinte sie – daß so ein Geschöpf vernachlässigt werde, könne sie nicht mit ansehen, dabei ließ sie Pomonas Kind ebensoviel Sorgfalt angedeihen, wie früher.

Der nächste Tag verging, was das Kind betrifft, ganz ebenso, aber am dritten bekam ich meinen Schützling herzlich satt, und Pat schien meine Gefühle zu teilen. Wenn ich ihn aufnehmen wollte, streckte er die Arme nach Euphemia aus und sein ganzes Gesicht strahlte vor Freude, sobald er bei ihr war.

Im Laufe des Nachmittags unternahm ich eine zweistündige Spazierfahrt. Bei meiner Rückkehr saß Euphemia im Wohnzimmer und hielt den kleinen Pat auf dem Schoß. Die Veränderung, die mit dem Schelm unterdessen vor sich gegangen war, setzte mich in das höchste Erstaunen. Er war von Kopf bis zu Fuß in Kinderzeug gekleidet, das Pomona gehörte, seine struppigen roten Härchen waren ganz glatt gekämmt, und die kleinen Musselinärmel mit blauen Schleifen verziert. Bei diesem Anblick stand ich sprachlos da.

»Sieht er nicht hübsch aus?« sagte Euphemia und stellte ihn auf ihr Knie, »was doch die Kleider alles thun! Es ist nur gut, daß Pomona und ich einen solchen Vorrat genäht haben. Pat ist schon ganz zärtlich mit mir, und wie stark er ist! er kann beinah' auf den Füßen stehen. Sieh nur, wie komisch er lacht! Weißt du was? – in der Kiste lasse ich ihn nicht mehr schlafen, aber ich habe neulich im Laden sehr nette kleine Korbwiegen gesehen; die sind gar nicht teuer und du könntest eine im Wagen mitbringen! – Da schreit das andere Kind, und ich weiß nicht, wo Pomona ist – bitte, gieb einen Augenblick acht auf ihn –« und fort war sie.

Ich sah aus dem Fenster – der Wagen stand noch angespannt vor der Thüre, – in einem Winkel lag Pats alter Shawl; schnell rollte ich ihn hinein samt den neuen Kleidern, eilte die Treppe hinab, legte den Kleinen auf mein Knie und ließ das Pferd wenden. Pat benahm sich ganz anders als bei der Herfahrt; er blickte ängstlich zu mir auf und als ich ihn zum Thor hinausfuhr, brach er in ein so lautes Geschrei aus, daß Lord Eduard herbeigelaufen kam, um zu sehen, was es gäbe. Euphemia erschien oben am Fenster und rief mir nach, aber was sie sagte, verstand ich nicht; ich knallte mit der Peitsche und das Pferd trabte munter auf der Straße nach Neu-Dublin dahin.

Die guten irischen Mütter wunderten sich nicht wenig, daß der Kleine so bald zurückkam.

»War er denn nicht artig?« fragte Frau Hogan, die ihn mir abnahm.

»O ja, ganz artig,« versetzte ich, »aber ich kann ihn nicht mehr brauchen.«

Gewiß würde man noch weitere Erklärungen von mir verlangt haben, wäre nicht die ganze Weiberschar, die Herumstand, in laute Ausrufe des Entzückens über Pats schöne Kleider ausgebrochen.

»Nun seh' nur einer,« rief Frau Duffy, »das schöne Röckchen, mit Spitzen unten dran, und der gute Herr schenkte ihm das alles und hat auch die fünf Dollars obendrein gezahlt!«

»Ich bin ganz froh, daß er wieder da ist,« meinte die Pflegetante, »denn der alte Pat, sein Vater, schreibt, daß er aus den Minen zurückkomme; wer weiß, ob es ihm recht gewesen wäre, wenn er gehört hätte, daß sein kleiner Pat nicht da sei. Wenn er aber wieder fortgeht und Sie den Kleinen wieder brauchen, können Sie ihn jederzeit umsonst mitnehmen.«

Ich machte der Tante keine Hoffnungen auf spätere geschäftliche Verbindungen der Art, und fuhr langsam wieder nach Hause. Euphemia kam mir – Pomonas Kleine auf dem Arm – an der Thüre entgegen. Es entspann sich folgendes Gespräch:

»Du hast also deinen kleinen Pflegling wieder zurückgebracht?«

»Ja, das habe ich!«

»Es muß dir doch recht schwer geworden sein?«

»Schrecklich schwer!«

»Du hast wohl gefürchtet, er würde deine Zeit und Gedanken so sehr in Anspruch nehmen, daß wir nicht mehr so viel von einander haben, wie früher.«

»Das nicht gerade! Nur merkte ich, daß ich vom Regen in die Traufe kommen würde.«

Statt jeder Antwort ging Euphemia an die Thüre und rief Pomona herbei. Als diese erschien, legte ihr meine Frau die Kleine in den Arm.

»Hier, Pomona,« sagte sie, »nimm dein Kind!«

In diesen einfachen Worten lag eine tiefe Bedeutung; auch verstand sie Pomona sogleich. Ihre Augen glänzten und beim Hinausgehen drückte sie ihr Kind an sich und bedeckte es mit Küssen; auch konnte ich durch das Fenster beobachten, wie sie zu ihrem Jonas nach der Scheune lief.

Euphemia schloß die Thüre und trat mit ihrem gewohnten Lächeln auf mich zu, ohne daß sie sich das mindeste merken ließ.

»Nun soll ich mich wohl ganz dir widmen – nicht wahr?«

Das that sie auch! –

*

Seit diesem Ereignis ist noch ein drittes Kind in Ruderheim angekommen. Es gehört nicht Pomona und stammt auch nicht aus Neu-Dublin. Dieses Kind hat unsern häuslichen Frieden nie auch nur einen Augenblick gestört.


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