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Neunzehntes Kapitel.
Das Kind in Ruderheim

Ich hatte geglaubt, daß nach den im vorigen Kapitel geschilderten Ereignissen unser Leben wieder seinen ruhigen und alltäglichen Gang weitergehen würde, ohne besondere des Aufzeichnens werte Begebenheiten. Das kam jedoch anders; die Ruhe und Gleichmäßigkeit unseres Daseins erlitt nämlich bald eine gewaltige Störung, deren Ursache die Ankunft eines kleinen Kindes war.

So ruhig und friedlich sein Wesen war, brachte es doch alle unsere Pläne und Gewohnheiten aus dem Geleise und warf alle bestehenden Einrichtungen über den Haufen.

Im Sommer, während meines Urlaubs, begann es seinen vollen Einfluß auf uns auszuüben; eine ungünstigere Zeit hätte es gar nicht wählen können! Bis dahin hatte ich nicht allzuviel von seiner Herrschaft gespürt: Tags über war ich nicht zu Hause, und abends machte es sich für gewöhnlich nicht allzu bemerklich. Erst als meine Ferien begannen, traten die Ereignisse ein, über welche dieses Kapitel berichtet. –

Ich wollte diesmal nicht in die Sommerfrische gehen, sondern zu Hause die Freuden des Landlebens genießen. Zur Abwechslung sollten allerlei Ausflüge zu Fuß und zu Wagen unternommen werden.

Ich hatte aber die Rechnung ohne den Wirt, – oder vielmehr ohne meine Frau Wirtin – gemacht; Euphemia ließ mich leider meistens allein; einfach, weil sie für nichts anderes mehr Interesse hatte, als für das Kind. Es lag ihr zwar alles daran, daß ich nach Herzenslust meinen Liebhabereien nachgehen und mich vergnügen sollte; jedoch sie selbst ging so ganz in dem Gedanken an das Kind auf, daß sie oft von meinen geplanten oder ausgeführten Unternehmungen keine Ahnung hatte. Wenn ich ihr etwas erzählte, meinte sie zwar, sie höre mir zu, in Wirklichkeit aber war sie ganz Ohr für das Kind und auf den geringsten Ton desselben gespannt, um sofort hinzueilen.

Ich hatte ihr schon oft gesagt: »Warum läßt du denn nicht Pomona für das Kind sorgen! Du brauchst ihm doch nicht deine ganze Zeit und Kraft zu widmen!« Aber sie erwiderte stets, daß Pomona so vielerlei zu thun habe, wobei sie unmöglich immer auf das Kind acht geben könne – z. B. wenn sie in den Stall müsse! –

Dann schlug ich vor, eine Wärterin für das Kleine zu mieten, aber sie lachte nur darüber und meinte: »Es macht ja so wenig zu schaffen, und ich thue es so gern.«

»Ja,« versetzte ich, »aber vor lauter »wenig zu schaffen haben«, kommst du gar nicht mehr dazu, mir einige Augenblicke zu schenken!«

»Wie kannst du nur so etwas sagen! Du weißt doch selbst; – horch!« – und fort war sie: das Kind hatte eben angefangen zu schreien.

Am Ende bekam ich das satt! Wenn ich einen Satz anfing, war ich nie sicher, ihn beendigen zu dürfen. Alles verlor seine Bedeutung, sobald sich nur das leiseste Kindergewimmer vernehmen ließ!

Auch Jonas kam nicht zur Ruhe. Er hatte meistens seine besten Kleider an, wegen der dringenden Besorgungen im Ort, die allem andern vorgingen. Dann machte ich mir zuweilen das Vergnügen – nicht ohne wehmütige Empfindung – die Arbeit, von der Jonas fortgeschickt worden war, zu vollenden.

Eines Tages fragte ich ihn, wie ihm all' dies gefalle?

»Ja,« versetzte er nachdenklich, »ich weiß eigentlich nicht recht. Ich wundere mich nur, daß ein so kleines Ding fast die ganze Zeit von drei erwachsenen Menschen in Anspruch nimmt. – Vielleicht,« fügte er hinzu »kommen Sie auch noch einmal daran und müssen mit helfen!«

Da Jonas in diesem Augenblick ins Haus gerufen wurde, sagte ich nichts auf seine Bemerkung, aber ich dachte mir das meinige.

Zunächst fand ich seinen Scherz wenig respektvoll. Aber so lange er in meinem Dienste stand, hatte er sich in dieser Beziehung nicht das geringste zu Schulden kommen lassen. Wenn er also jene Äußerung that, so mußte er guten Grund dazu haben. Das entschuldigte ihn.

Sodann kam ich auf eine Idee, in der ich mich immer mehr bestärkte, bis ich zuletzt einen bestimmten Plan darauf gründete. Bevor ich ihn jedoch zur Ausführung brachte, wollte ich noch einmal versuchen, Euphemia zur Vernunft zu bringen.

»Wenn das Kind uns gehörte,« sagte ich, »oder wir auch nur verwandtschaftliche Pflichten ihm gegenüber zu erfüllen hätten, wäre es etwas anderes, aber, daß du dich so ganz und gar Pomonas Kind widmest, scheint mir unverständig. Es ist doch gegen allen gesellschaftlichen Brauch, wenn die Frau des Hauses das Kind der Magd wartet.«

»Auf diesen »Brauch« gebe ich herzlich wenig,« sagte Euphemia, »und dann bitte ich, Pomona nicht mit einer gewöhnlichen Magd zu verwechseln. Mir kommt sie immer wie ein Familienglied vor, wenn ich auch nicht gerade sagen kann, was für eins. Seit ihrer Verheiratung hat sie sich sehr zu ihrem Vorteil entwickelt; und ihr Kind ist so hübsch und lieb, wie das anderer Leute. Wer weiß, was noch einmal aus ihm wird! Sind nicht mehrere unserer Präsidenten aus niederem Stande emporgestiegen?!« –

»Aber es ist ja ein Mädchen!« warf ich ein.

»Nun, dann kann sie einmal die Frau eines Präsidenten werden!«

»Übrigens,« fuhr ich fort, »glaube ich gar nicht, daß Jonas und Pomona es gern sehen, wenn du ihr Kind so viel für dich behältst.«

»Ach was, Unsinn!« meinte Euphemia, »eine Frau in Pomonas Stellung kann nur froh sein, wenn eine Dame sich um ihr Kind bekümmert und es aufziehen hilft, und Jonas müßte ja der reine Barbar sein, wenn er sich nicht freute, daß seiner Frau etwas von ihrer Sorge abgenommen wird! – Bist du das, Pomona? Bring' die Kleine nur zu mir, wenn du gern die Wäsche stärken willst!«

Ich glaube Pomona war es gar nicht so sehr um die Wäsche zu thun; indes brachte sie das Kind, während ich mich entfernte. Die Sache schien mir ziemlich hoffnungslos. Mit der Zeit mußte die Kleine zwar heranwachsen, aber schwerlich noch während meines Urlaubs!

So beschloß ich denn meinen Plan auszuführen: ich ging in den Stall und spannte das Pferd an den kleinen Wagen. Jonas war nicht zur Hand, ich hatte mir längst abgewöhnt, ihn zu rufen. Ich fuhr langsam durch den Hof und zum Thor hinaus, niemand rief mir nach oder fragte, wohin ich wollte! Wie ganz anders war das in früherer Zeit gewesen! Damals wußte sie um all' mein Thun und Lassen, und würde höchst wahrscheinlich neben mir im Wagen gesessen haben. Jetzt aber fuhr ich allein und unbeachtet davon! –

Ungefähr drei Meilen von unserm Hause lag der Flecken Neu-Dublin, der aus einer Gruppe ärmlicher, baufälliger Häuser bestand. Es wohnten ausschließlich Irländer dort, denen es in ihrem Schmutz und Elend ganz behaglich zu sein schien. Die Männer waren tagsüber meist auswärts in Arbeit, aber irgend jemand war immer zu Hause, man mochte anklopfen wo man wollte.

Ich kannte eine der Matronen des Ortes, eine Frau Duffy, die gelegentlich zum Scheuern und Putzen zu uns kam und ihr galt mein Besuch. Sie fühlte sich offenbar sehr geehrt und wischte mir einen Stuhl mit der Schürze ab.

»Frau Duffy,« sagte ich, »ich komme, um mir ein kleines Kind zu mieten.«

Die gute Frau verstand mich nicht gleich, als ich ihr aber klar machte, daß ich auf kurze Zeit ein Kind zu meiner Verfügung zu haben wünsche und ihr eine hübsche Vergütung dafür bezahlen wolle, brach sie in lautes, anhaltendes Gelächter aus. Ich kam ihr vor wie einer, der aufs Land geht, um Unkraut zu kaufen. Unkraut und Kinder gab es die Hülle und Fülle in Neu-Dublin. Allmählich merkte sie jedoch, daß es mir Ernst war, und da sie mir hinlänglich traute und wohl wußte, daß alles gut gedieh, was bei mir ins Futter ging, war sie zu dem Handel bereit; sie besorgte nur, von dem Alter, wie ich wünsche, werde gerade nichts vorrätig sein.

»Meine Kinder laufen schon alle herum,« sagte sie, »dort auf der Straße krabbeln ein paar, und drüben auf dem Zaun sitzen auch noch welche! Aber ich will Ihnen schon eins verschaffen; kommen Sie nur einmal mit zu Frau Hogan, die hat sechzehn oder siebzehn Stück, meist kleine, denn als Hogan sie heiratete, hatte er schon vier oder fünf – und sie wird Ihnen gewiß gern eins davon abtreten.« Dabei band sie die Schürze über den Kopf und führte mich zu ihrer Nachbarin.

Frau Hogan stand gerade am Waschfaß, als wir eintraten, und Frau Duffy nahm sie bei Seite, um ihr mein Anliegen mitzuteilen. Sie konnte gar nicht begreifen, wozu ich das Kind brauche, besonders auf so kurze Zeit; da sie aber hörte, daß ich gut dafür bezahlen wolle, und es ihm an nichts fehlen würde, zerbrach sie sich nicht weiter den Kopf darüber, sondern erklärte sich bereit, mir ein Kind abzutreten. – Als sie überlegte, welches sie mir geben solle, bedeutete ich ihr, es müsse noch klein sein, denn es sei schon ein Wiegenkind im Hause, und meine Leute verstünden, damit umzugehen.

»Ach so, es soll dem andern Gesellschaft leisten,« meinte Frau Hogan, der ein neues Licht aufging – »das ist ein guter Einfall, es muß ja schrecklich eintönig sein, wenn nur ein Kind im Hause ist! – Da kommt gerade eins von meinen – Polly, – wollen Sie die?«

»Aber sie läuft ja schon,« sagte ich, »eins, das schon läuft, kann ich nicht brauchen!«

»Ja, laufen thun sie alle schon sehr früh, aber Polly ist noch ganz jung und klein.«

»Das sehe ich wohl, aber ich suche eins, das man in die Wiege legt, und das noch nicht allein herauskrabbeln kann.«

Frau Hogans augenblicklicher Vorrat enthielt offenbar nichts Passendes für mich, aber plötzlich rief Frau Duffy: »Da fällt mir Marie McCann ein, gerade gegenüber!«

Wir gingen sogleich alle drei über die Straße und traten in ein kleines Haus ein.

»Nun sehen Sie her,« mit diesen Worten zog Frau Duffy stolz die Decke von einer kleinen Bettstelle. »Was meinen Sie hierzu?«

»Das sind ja aber zwei!« rief ich.

»Ja wohl,« versetzte Frau Duffy, »es sind Zwillinge und das sind immer zwei, aber sie sind noch ganz jung.«

»Ja,« sagte ich bedenklich, »beide kann ich nicht nehmen! Glauben Sie, daß die Mutter mir eins davon mitgeben würde?«

Die Frauen schüttelten mit dem Kopf und meinten, darauf würde sich die Mutter, – die gerade auswärts beschäftigt war – schwerlich einlassen, sie habe erst fünf Kinder und sei sehr besorgt um sie. Später, wenn sie einmal ein Dutzend hätte, würde sie gewiß gern eins hergeben.

In Begleitung der beiden Frauen besuchte ich noch mehrere Häuser und entschied mich endlich für einen jungen Sprößling, der mutterlos war und von einer Tante in der Nachbarschaft als »Flaschenkind« aufgezogen wurde. Das Kind paßte so gut für meinen Zweck, daß ich mich wunderte, warum man es nicht gleich in Vorschlag gebracht hatte; vermutlich wollten die beiden Frauen ihren nächsten Bekannten den Vorteil zuwenden.

Wir kamen überein, daß ich das Kind so lange behielte, als ich es brauchte, die Bezahlung sollte wochenweise im voraus erfolgen. Es war ein blauäugiger Knabe. Auf dem Kopf sproßten ihm die ersten rötlichen Härchen, seine Haut war voll kleiner Sommerflecken; die Nase zeigte eine starke Richtung nach oben, sein Mund war breit und die Oberlippe ungewöhnlich lang.

Nachdem ich das Geschäftliche mit der Tante abgemacht und ihr erlaubt, das Kind zu besuchen, so oft sie wolle, stieg ich in den Wagen, breitete meine weiche Reisedecke über die Kniee und legte das in einen Shawl eingewickelte Kind darauf. Für den Fall, daß es unterwegs trinken wollte, steckte ich seine frisch gefüllte Flasche zwischen die Kissen des Wagens. Ich nahm die Zügel in die linke Hand und hielt meinen Schützling mit der rechten fest. Im Abfahren fragte ich noch: »Wie heißt das Kind?« –

»Pat,« sagte die Tante, »nach seinem Vater Patrick, der in den Minen arbeitet.«

»Nennen Sie ihn nur, wie Sie wollen!« rief Frau Duffy dazwischen, »er hört doch noch nicht auf seinen Namen!«

»Pat ist mir ganz recht,« sagte ich, »leben Sie wohl!« und dabei lenkte ich das Pferd sehr vorsichtig durch die jugendlichen Scharen, die meinen Wagen von allen Seiten dicht umstanden. –


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