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Aristide Poignard hatte sich eine schier unerfüllbare Aufgabe gestellt. In den Tagen und Wochen, die dem Tod Dantons folgten, war es ein Ding der Unmöglichkeit, einen einzelnen Verdächtigen in den Pariser Gefängnissen ausfindig zu machen. Die Zahl der Blutopfer wuchs den Henkern und deren Helfershelfern über den Kopf. Die Zellen, Gänge und Säle der Conciergerie, des Luxembourg und Saint Lazares waren vollgepfropft mit Menschen, die der Ladung vor das Revolutionstribunal und somit der Guillotine harrten, denn die Anklage Fouquier Tinvilles war gleichbedeutend mit einem Todesurteil. Der höchste Adel Frankreichs, die Aristokratie und Geistesblüte der bedeutendsten Kulturnation, die glänzendsten Namen der gestürzten Monarchie waren hier zusammengeworfen mit dem Abhub der Gosse, den die Häscher des Überwachungskomitees aus den schmutzigsten Winkeln der Hauptstadt zusammengekehrt hatten, und alles harrte desselben Loses. Frauen, die einst an den Stufen des Thrones gestanden, ja eine, deren im Schoße der Zukunft die Kaiserkrone noch harrte, teilten in diesen Kerkern den Strohsack mit dem verworfensten Gesindel, das in seiner Masse den Machthabern über den Kopf zu wachsen drohte und mit dem aufgeräumt werden mußte. Wahllos würfelte man die Gefangenen beiderlei Geschlechts durcheinander, und so erblühte den des Todes Harrenden hier am Rand des Grabes noch des Liebesrausches duftende Blume und die zarte Blüte der durch den Hauch des Todes geadelten Poesie.
Dantons Opfer dampfte zum Himmel und forderte neue Hekatomben von Tag zu Tag. Das Blut des Führers, auf den das Volk vertraut hatte, war nach der Ansicht des großen »Unbestechlichen« nur mit Blut wegzuwaschen ... und so sandten denn Fouquier Tinville und sein Gerichtshof die von Robespierre am meisten gefürchteten Insassen von Saint Lazare auf das Schafott. Zwei Generäle, die der Republik in Treue gedient hatten, Gobel, der alte Erzbischof von Paris, der zu allem »Ja und Amen« gesagt, die Witwen Héberts und Desmoulins' und schließlich Chaumette selbst befanden sich unter diesen Opfern.
Als das Haupt dieses fanatischsten Führers der Cordeliers fiel, hatte Aristide Poignard wieder einmal seine Einnahmequelle verloren. Niemand gab ihm jetzt auch nur einen Sou dafür, wenn er vor der Maison Duplay im Torweg stand und zusammen mit FIeurette seine Orangen verkaufte. Wieder einmal saß er auf der Straße und noch immer floß in Strömen ... das Blut.
Wieder konnten Fleurette und er betteln gehen, wenn sie den Sturm, der noch immer über Paris dahinbrauste, überstehen wollten. Und während der Maler und die Dirne jetzt tatsächlich auf dem Pont Neuf die Hände ausstreckten und die Vorübergehenden um eine milde Gabe anflehten, wurden den Gefangenen in Saint Lazare die Tage vor ihrem Tode zum ... Fest!
»Man sollte kurzen Prozeß machen, Fleurette,« sagte der Maler an einem Abend des Floréal, als ganz Paris infolge des schönen Wetters und einer im Auftrag Robespierres wieder einmal in Szene gesetzten Massenexekution auf den Beinen gewesen war. »Man sollte kurzerhand in die Seine springen, dann hätte das ein Ende. Zum Teufel auch, wenn man heute so gar keinen Namen hat und es nicht einmal bis zum Verdächtigen bringen kann, der noch einmal anständig gefüttert wird und anständig stirbt! Die Lumpenhunde geben nur noch Kupferstücke, den ganzen Tag stehe ich hier und habe noch keine 15 Sous verdient! Und du, Fleurette?«
»Ich habe nur 11,« erwiderte das Mädchen, und die Tränen standen ihr in den Augen.
»Laß uns gehen, Fleurette,« sagte jetzt Aristide.
»Aber wohin denn? Lerouge im Café du Glaive gibt uns doch schon lange nichts mehr. Wir schulden ihm doch noch 16 Franks!«
Bitter lachte Aristide Poignard.
»Lerouge ... Wer sagt denn, Fleurette, daß wir zu Lerouge gehen wollen? Ich betrete nie und nimmer mehr die Schwelle eines Menschen, der mich vor die Tür gesetzt hat, das weißt du doch, ich gehe hinaus in den Faubourg Saint Denis. Kommst du mit?«
»Was willst du in Saint Denis, Aristide?«
»Dort soll es Arbeit geben, Fleurette! Es sitzen viele Gefangene in Saint Lazare, die Assignate in den Taschen haben. Das Geld hat keinen Wert mehr für den, den Fouquier Tinville schon in Arbeit genommen hat. So verprassen sie ihr Gut. Komm mit, die Speisehäuser in Saint Denis sind überlaufen. An den Büfetts stehen die Leute Queu, die das Essen für die Gefangenen in Saint Lazare holen. Der Wein fließt in den Zellen und Sälen in Strömen. Alle Räume in Saint Lazare sind vollgepfropft! Komm mit!«
»Ich fürchte mich, Aristide!«
Poignard lachte.
»Gibt es für unsereinen noch was zu fürchten, Fleurette, wenn einem der Hunger wie ein Geier an den eigenen Gedärmen frißt? Ich beneide Auguste Rodeur, daß er in Saint Lazare oder sonst wo im Trockenen sitzt und sich für seine Assignate ein Filet und eine Flasche Burgunder kaufen kann. Ist es nicht besser, in Saus und Braus auf Madame Guillotine zu warten, als hier auf dem zugigen Pont Neuf langsam an Unterernährung zu krepieren? Komm also mit!«
Allmählich war es dunkel geworden. Aristide Poignard machte sich auf den Weg und seufzend folgte ihm Fleurette. Er hatte ja recht, das Handaufhalten auf dem Pont Neuf warf verflucht wenig ab. Schließlich war die Idee mit Saint Denis und dem Gefängnis Saint Lazare nicht die schlechteste, wenn es dort alle Hände voll zu tun gab.
Schweigend schritten Aristide und Fleurette nebeneinander her. In den Wellen der Seine spiegelten sich die Lichter des Kais. Der Mond der warmen Vorsommernacht trat eben hinter einer Wolke hervor und warf sein silbernes Licht auf den Fluß, so daß die Reflexe wie eine Schar munterer Fische durch die dunkle Tiefe schossen.
Fleurette blieb stehen. Sie trat dicht an den Rand des Kais und schaute hinab in das gurgelnde Wasser.
»Am Ende hast du so unrecht nicht, Aristide,« sagte sie erschauernd. »Das Leben ist laut und hart und da drunten liegt sich's lind und weich.«
Wie in plötzlicher Sehnsucht breitete sie beide Arme aus, als ob sie den Fluß dort unten umfangen wollte, so daß Poignard wirklich einen Augenblick erschrak.
Aber dann sagte er:
»Das ist alles Larifari, Fleurette, man lebt nur einmal und der Tod bleibt der Tod. Gelichter wie du und ich übersteht auch diese Revolution, weil Unkraut nicht zuschanden werden kann. Komm mit, wir wollen doch sehen, ob für uns von dem Tisch der Glücklichen in Saint Lazare nicht auch ein Brocken abfällt!«
Er nahm den Arm Fleurettes. Mit sanfter Gewalt mußte er das Mädchen von dem Rand der Kaimauer fortziehen, denn deren Augen waren wie gebannt auf den durch die Lichter des Mondes in silbenen Glanz getauchten Wasserspiegel gerichtet.
Die endlos lange Rue Saint Martin, durch die sie das Tor gleichen Namens und dann den Faubourg Saint Denis erreichen wollten, war in dieser Stunde schon still und dunkel.
Wie Schatten huschten die beiden an den Häusern entlang. Hie und da gab das Pflaster den Schritt ihrer Füße in hohlem Ton zurück.
»Weißt du, Aristide, daß es dein Unglück war, als du meine Bekanntschaft machtest,« sagte jetzt Fleurette.
Poignard lachte gezwungen.
»Wer hätte mir umsonst Modell für meine Nymphe gesessen, Fleurette?«
»Hat dir die Nymphe vielleicht Glück gebracht, Aristide? Monatelang hat sie unverkäuflich auf unserer Bude in der Rue Saint Roch gestanden und dann ist sie für 100 Sous zum Trödler gewandert. Ach, ich und die Nymphe, wir sind dein Unglück geworden, Aristide!«
Die Worte des Mädchens griffen Poignard ans Herz. Er legte seinen Arm um die Hüften Fleurettes. Einen Augenblick blieben die beiden in der dunklen Rue Saint Martin stehen. Ein Schimmer des Mondlichts fiel jetzt wieder auf Fleurettes schlanke Gestalt, deren Wuchs die einstige Grazie und Schönheit, die dem Maler die Anregung zu seiner Nymphe gegeben hatten, noch immer zeigte. Aristide sah der Freundin seines Elends und Unglücks in die von tiefen, blauen Ringen umränderten Augen und sagte:
»Meine liebe Fleurette! Du, mein Unglück? O nein! Die Revolution ist mein Unglück gewesen, wie sie das Unglück Tausender in Frankreich war. Sie hat die Kunst gemordet, und wenn die tot ist, dann stirbt auch der Künstler mit ihr ab. Das ist alles! Nicht du warst es, Fleurette!«
»Wirklich nicht ich, Aristide?«
Ein glückliches Lächeln glitt bei ihrer Frage und den Worten Poignards um Fleurettes auch in den Tagen des Hungers und Elends noch immer geschminkten Mund.
Poignard fuhr fort:
»Nein, wirklich nicht du, Fleurette, du bist mein letzter Halt in den Stürmen dieser Tage gewesen, ohne dich und deine Liebe wär' ich schon tot! Hätte ich ohne dich die Polichinellen zustande gebracht, mit denen wir uns auf der Place Grève doch eine Zeit lang ernährt haben, bis der Pöbel andere sehen wollte. Nur um deinetwillen, Fleurette, habe ich mir die 40 Sous von der Regierung geben lassen, nur um deinetwillen bin ich zu Chaumette gelaufen und habe mich in dessen Dienste gestellt. Deine Liebe hat mich über Wasser gehalten, sie allein, Fleurette!«
»Meine Liebe?«
Bitter klang das wundersüße Wort aus dem geschminkten Munde des Mädchens.
»Hat so eine wie ich eine Liebe, Aristide,« fragte sie.
Er ging auf ihren Ton ein.
»Auch so eine wie du, Fleurette, hat eine Liebe,« antwortete er ernst.
»Es gibt überhaupt kein Wesen, so arm, und keines so schlecht, Fleurette, das nicht eine Liebe hätte!«
»So schlecht sagst du, Aristide!«
»Ich spreche nicht von dir, Fleurette! Du hast mich gefragt und ich muß dir antworten, ganz im allgemeinen antworten, wie du mich im allgemeinen gefragt hast. Vielleicht hat diese Zeit, die sich unterfing, alle Begriffe der Menschheit auf den Kopf zu stellen, auch solches zuwege gebracht, FIeurette, daß man den Edelmut und die Liebe, die den andern abhanden gekommen Zu sein scheinen, bei den Besucherinnen der Cafés des Palais Royal zu suchen hat!«
»Deine Worte machen mich so glücklich, Aristide!«
»Siehst du, Fleurette! Als ich dich damals auflas von der Gasse vor dem Palais Royal und dich mit nach Hause nahm, gab es mir wohl manchmal der Dünkel ein, daß ich dich retten könnte! Jetzt hat sich der Spieß umgedreht, Fleurette! Wenn ich noch lebe und wenn diese Tatsache ein Anlaß zum Danke wäre, dann schulde ich das dir, dir allein, Fleurette!«
Sie sah ihm beglückt in die Augen und preßte ihren Arm an seine Schulter, die sie umschlungen hielt.
»Als ich damals den Schleier opferte, Aristide ...«
Er lachte. Er erinnerte sich augenblicklich gar nicht daran, daß sie doch mit auf den Schleier anspielen konnte, aus dem sie die Kleider für den Erzbischof Gobel auf seinem Polichinellentheater geschnitten hatte.
»Welchen Schleier,« fragte er daher erstaunt.
»Den schwarzen, den ich nach dem Tod meiner Mutter trug und aus dem ich den Talar für den Pfaffen gemacht habe.«
»Ach richtig, Fleurette! ... Das war also damals, da du den Schleier opfertest ...«
»Da glaubte ich das Letzte hergegeben zu haben, Aristide, was mich noch an die Reinheit meiner Kindheit und an die Vergangenheit band, da glaubte ich jeden Besitzes bar zu sein. Dem war aber nicht so, mein Freund!«
»Im Gegenteil, Aristide! Das Opfer weckte in meinem Innern alles, was ich längst verloren wähnte, wieder auf. Ich dachte aufs neue meiner Mutter und der Tage der Kindheit, da ich noch ein kleines Mädchen wie alle andern war. Auch Dirnen aus den Cafés des Palais Royal sind nämlich einmal kleine Mädchen wie alle andern gewesen, Aristide!«
»Das waren sie sicher einmal alle, alle, Fleurette. Auch die Bluthunde, die heute in den Tuilerien regieren, sind einmal unschuldige Knäblein gewesen, die verhungert wären, wenn ihnen ihre Mütter die Brüste nicht gereicht hätten ...«
»Ja ... auch die Bluthunde, Aristide! ... Aber ich dachte meiner Kindheit, da ich den schwarzen Schleier opferte, von dem ich mich nicht trennen wollte, weil das seit langer Zeit wieder das erste Opfer ... aus Liebe war!«
»Das sagst du, Fleurette?«
»Das sage ich, die sich wie oft dem erstbesten zum Opfer brachte, ohne der Liebe Glück und Leid zu empfinden, das sage ich, Aristide! Und wenn du jemals einen Ausweg aus diesem Wirrsal finden solltest, dann denke der Stunde meines Opfers! Willst du das tun?«
»Das will ich, Fleurette!«
Poignard drückte ihre Hand und es kam ihm vor, als sei dies ein heiliges Versprechen, das er eben der einstigen Dirne aus dem Palais Royal gegeben hatte.
Langsamen Schrittes waren die beiden durch die warme Vorsommernacht weiter und weiter gegangen, durch die Rue Saint Martin, hinaus aus Paris ... und jetzt standen sie vor dem gewaltigen Tore, das den Eingang zu Saint Lazare bildet.
»Ist das Saint Lazare,« fragte Fleurette. »Es sieht aus wie ein Kloster!«
»Es war auch ein solches, Fleurette, ehe es in den Tagen der Republik zum Staatsgefängnis erhoben wurde.«
»Haben hier Mönche oder Nonnen gehaust?«
»Mönche ... Augustiner ... Fleurette!«
»Es scheint sehr alt!«
»Weit über 500 Jahre, Fleurette! In der Zeit der Kreuzzüge ward es von einem frommen Pater errichtet, der es zum Hospital bestimmte und Kranke in seinen Räumen pflegte, denn die Pest verheerte damals den größten Teil Frankreichs und ganz Paris!«
»Die Pest, Aristide?«
Fleurette schrak zusammen.
»Das muß eine schaudervolle Krankheit sein!«
»Kaum so schaudervoll wie die, die heute in den Mauern von Paris wütet, Fleurette! Saint Lazare hat glücklichere Tage gesehen, als die der Pest und die der Revolution!«
»Erzähle, Aristide!«
»Als die Krankheit in Paris zum Stillstand gekommen war, ward Saint Lazare ein Kloster. Unermeßliche Reichtümer sind dann von Saint Vincent de Paul in diesem Kloster zusammengetragen worden und jeder Arme ward hier umsonst verpflegt. In jenen Tagen hätten wir wahrscheinlich den gleichen Weg wie heute gemacht, Fleurette! Jetzt hat man die Mönche in die Kerker und auf das Schafott geschleppt und ... Saint Lazare ist ... Gefängnis!«
Aristide und Fleurette traten durch das hohe Portal in den Hof Saint Lazares, das sich plötzlich im Schein der Windlichter und Fackeln, die man hier angebracht hatte, wie ein unergründlicher Schlund mit seinen langen und rätselvollen, von niederen Säulen getragenen Gängen vor ihnen auftat.
Die Wache ließ die beiden ruhig passieren. Das war Wunsch und Wille der gerechten Regierung des großen »Unbestechlichen«. Hunderte und aber Hunderte gingen in diesen Tagen im Luxembourg, in der Conciergerie, in Saint Lazare aus und ein, um sich nach dem Schicksal eines Verwandten oder Freundes zu erkundigen oder sich selbst nach ihm umzusehen. In den meisten Fällen ohne jedes Resultat, da sie sich unter der Menge der Gefangenen ebensowenig zurechtzufinden vermochten, wie Fouquier Tinville in den Bergen seiner Anklageschriften im Bureau der Conciergerie.
In den langen und düsteren Bogengängen von Saint Lazare brannten die Laternen, die Aristide und Fleurette einen schwachen Schein auf ihren Weg warfen. Diese Gänge führten vorüber an den schweren, eichenen und mit Eisen beschlagenen Türen, die den Eingang zu den in Kerker verwandelten Zellen und Sälen der vertriebenen Mönche bildeten.
Menschen schoben sich durch diese Gänge ... suchende, neugierige ... wie Aristide und Fleurette. Aber auch Aufwärter und Mädchen aus den Saint Lazare benachbarten Speisehäusern liefen dazwischen mit Tellern und Schüsseln, Gläsern und Flaschen, die den Gefangenen die Nahrung und das Getränk in die Zellen und Säle brachten, denn wer sich hier nicht selbst beköstigte, lief Gefahr zu verhungern, noch ehe der Henker das Fallbeil für ihn geschliffen hatte. Viele der Gefangenen saßen schon Monate lang in Saint Lazare, weil sich Fouquier Tinville immer noch nicht bis zu ihrem Aktenheft hindurchgearbeitet hatte. So wurde der Aufenthalt hier diesen zur Gewohnheit, die Ungewißheit der noch bevorstehenden Lebensdauer, die Gewißheit des nahenden Todes wurden zum Stachel, das Leben noch einmal in vollen Zügen zu genießen, so weit man dazu imstande war. Und die Wächter legten keinerlei Hindernisse in den Weg, wenn einer nur die nötigen Assignate zum Bezahlen in der Tasche seines seit Monden nicht mehr gesäuberten und gewechselten Rockes trug. Sie hatten keine Augen. Sie sahen nichts. Es wäre auch zu viel verlangt gewesen, wenn sie überallhin hätten sehen sollen, da die in Kerker gewandelten Zellen und Säle der Mönche mit Menschen geradezu gestopft waren wie die Karren der Henker, deren Pferde an jedem neuen Morgen unter der Last, die sie zu ziehen hatten, kaum mehr vorankamen.
Eben öffnete ein junger Mensch, der in einem Korb auf den Schultern ein paar Flaschen Wein trug, die schwere Tür einer der größten Zellen. Poignard sah ihn einen Moment erstaunt an. Er war so begierig, einen Blick in die Zelle werfen zu können.
Der junge Mensch redete ihn zuerst an und sagte:
»Ihr steht vor der richtigen Zelle, Bürger, wenn Ihr Euch in Saint Lazare noch nicht auskennen solltet! Es ist der rollende Sarg, vor dem Ihr steht!«
»Was ist das, der rollende Sarg,« forschte Fleurette auf das höchste gespannt.
»Das wißt Ihr nicht, Bürgerin,« lachte der mit dem Weinkorb, »seid Ihr denn fremd in Saint Denis? Das ist doch der Spitzname, den die Gefangenen selbst dieser Zelle gegeben haben. In ihr bringen die Leute ihre letzte Nacht zu, die das Pech hatten in der Lotterie der heiligen Guillotine zu gewinnen. Tretet ruhig ein, wenn es euch interessiert, Bürger, man geniert euch nicht. Aber habt Obacht, daß man euch nicht verwechselt, es soll schon vorgekommen sein, daß man einen falschen ›frisiert‹ hat ... und das wäre zum mindesten unangenehm. Denen bringe ich ihren Wein. Der Commerce meines Patron blüht, seitdem wir hier so viele Kundschaft haben. Wir stehen dicht am Eingang des Himmels!«
»Was willst du damit sagen, Bursche?«
»Oho ... Bürger ... und Ihr, wenn ich bitten darf! ... Was ich damit sagen will? Habt Ihr denn die Aufschrift draußen über der einstigen Kapelle Saint Lazares nicht gelesen? Die haben sie doch jetzt zum Empfangsraum für unsere Pensionäre gemacht!«
»Welche Aufschrift?«
»Hier ist das Haus Gottes und die Pforte des Himmels! ... Das könnt Ihr über der alten Kapelle lesen, Bürger, und so wahr wie heute ist das noch niemals gewesen. Doch kommt!«
Der Junge, der den Korb mit dem Wein nach Saint Lazare brachte, öffnete mit einem Tritt die schwere Eichentür, vor der zwei Nationalgardisten totenstumm Wache standen, hinter ihm traten Poignard und Fleurette ein.
Es war ein großer, von Laternen hellerleuchteter Raum, in dem die Gefangenen, die des anbrechenden Todesmorgens harrten, Zum Teil an Tischen saßen, zum Teil sich auf den längst der Wände liegenden Strohsäcken noch einmal ausgestreckt hatten.
»Meine Flasche Wein, Pierre,« rief da eine Stimme.
»Und meine und meine ...« eine zweite und eine dritte.
Hier wurde getrunken, gespielt und sogar gesungen. Die Tage des Schreckens hatten die furchtbare Angst vor dem Tode wie durch ein Wunder des Himmels verscheucht.
Man warf die Karten, schlug die Guitarre, küßte und scherzte, auch noch in der letzten Nacht, bevor man den Karren des Henkers besteigen sollte.
Männer und Frauen ... es waren Herren und Damen der höchsten Kreise bunt zusammengewürfelt mit Burschen und niederstem Gesindel ... Alles saß hier an den Tischen ...
Der Friseur war noch nicht dagewesen. Er hatte die Toilette noch nicht vorgenommen, so daß die Opfer noch leidlich ausschauten.
Setze meine Flasche Burgunder hierher, mein Freund,« redete da ein noch junger Mensch den Burschen an, in dessen Begleitung Poignard und Fleurette den »rollenden Sarg«, von niemandem behelligt, betreten hatten.
Es war eine hochgewachsene und elegante Erscheinung, aus deren Mund diese Worte kamen. Das edelgeformte und schöne Gesicht war offenbar durch langen Aufenthalt im Freien von der Sonne gebräunt. Weder die Aussicht des so nahe bevorstehenden Todes, noch die aufreibenden Wochen m Saint Lazare hatten die frische Farbe aus diesen sympathischen Zügen auswischen können. Der war sicher noch nicht allzulange im Kerker und Fouquier Tinville hatte mit ihm rasche Arbeit gemacht.
Den Kopf in die Hand gestützt, saß er mit andern am Tisch und schrieb. Jetzt wandte er sich in ganz freundschaftlichem Ton an einen der Gefangenenwärter, die im Saal von Tisch zu Tisch gingen, und beim Auftragen der Weine und Speisen behilflich waren, und sagte: »Ihr schwört mir einen Eid, Bürgersoldat, daß Ihr dieses Blatt in die Hände meiner Witwe niederlegt!«
»Wird besorgt, Bürger Montjourdain, Ihr könnt Euch auf mich verlassen. Das wird besorgt. Ich habe des öfteren schon solche Aufträge pünktlich ausgeführt, und die Herrschaften wären sicher alle mit mir sehr zufrieden gewesen, wenn sie die Erledigung ihrer Aufträge noch erlebt hätten!«
Einige der um den Tisch sitzenden, die dem Wein schon reichlich zugesprochen hatten, brachen in ein krampfhaft Lachen aus. Aber dieses Lachen barg trotz allem einen grellen Mißklang in seinem Ton.
»Wer ist der Bürger, der da schreibt,« wandte sich Poignard, in dessen Innerem ganz plötzlich ein Interesse an diesem dem Tod Verfallenen erwacht war, an den Burschen mit dem Korb. »Ihr nanntet ihn Montjourdain?«
»In den Tagen des Tyrannen hieß er de Montjourdain,« erklärte der Bursche nun Poignard. Und auch Fleurette lauschte gespannt.
»Es ist eben heutzutage schon eine Gefahr, wenn man einmal das unschuldige Wörtchen »de« vor seinen Namen gesetzt hat, Bürger! Er war Kommandant eines Bataillons der Nationalgarde und hat der Republik in Ehren gedient. Aber der große ›Unbestechliche‹ erklärte ihn für verdächtig und der ›Unermüdliche‹ säumte nicht. Er hat sich erst vor sechs Wochen verheiratet, der arme Kerl, und heute ist er so weit!«
Montjourdain, von dem die Rede war, sah von seinem Papier auf. Er merkte wohl, daß der Junge aus dem Speisehaus und diese seltsamen Gäste des »Rollenden Sarges«, die offenbar die Sorge um einen Bekannten oder auch nur die schnöde Neugier hierhergetrieben hatten, sich über ihn unterhielten. Er wandte sich deshalb an Poignard und sagte:
»Wenn es Euch interessiert, Bürger, dann lest! Ich bin zwar nur Soldat, aber in meinen Freistunden, wie jetzt, befasse ich mich auch mit der Poesie!«
»In der Tat, das sind Verse,« sagte Poignard, als er das ihm überreichte Blatt aus Montjourdains Händen entgegennahm.
»Lest es vor, Bürger. vielleicht paßt es auch zu der Stimmung der übrigen Herrschaften!«
Montjourdain hatte diese Worte so laut gesprochen, daß sich ein großer Teil der Gäste des »Rollenden Sarges« nun um den Tisch drängte.
»Lest, lest, Bürger,« forderte Montjourdain noch einmal auf.
»Ich würde es selbst lesen, aber ich fürchte die eigenen Verse könnten mir in der Kehle stecken bleiben. Wenn ich nicht irre, dann hat Euch unser Ganymed ja schon erzählt, daß ich mich vor sechs Wochen verheiratet habe. Man muß seiner jungen Frau doch noch einen Gruß senden am Abend vor dem Tage, da man die Einladung zu Besteigung des Karrens empfängt. Lest also, lest!«
Poignard war dicht an eine der Laternen getreten, die an der Wand des »Rollenden Sarges« befestigt waren. Fleurette sah ihm über die Schulter. Die meisten der Schicksalsgenossen drängten sich jetzt um Montjourdain, der in dumpfem Hinbrüten auf den Tisch und in das mit blutrotem Burgunder gefüllte und zur Hälfte geleerte Glas starrte, indessen Aristide mit zitternder Stimme las.
Es war ein Abschiedsgedicht, das Montjourdain in den letzten Stunden seines verrinnenden Lebens, umgeben von den Wänden des »Rollenden Sarges« und den Schauern Saint Lazares, an seine junge Frau gerichtet hatte. Und je weiter Poignard dieses Gedicht las desto stiller wurde es in dem Kerker, desto stärker wurde das Vibrieren seiner Stimme, bis endlich die Tränen dessen, der diesen Raum wieder verlassen und in das blühende Leben des Vorsommers treten durfte, die Worte des dem Tode Geweihten erstickten.
Wie die Gedanken und Gesichte eines der Welt und ihren Schmerzen schon Entrückten klangen die Verse des zum Gang auf das Schafott bereiten einstigen Offiziers der Nationalgarde aus dem Munde Aristide Poignards durch den »Rollenden Sarg«. Der Maler war auf das tiefste erschüttert. Aber er las und las und die Ohren der hier versammelten Todesopfer lauschten und lauschten, als müsse die Dichtung des einen ihrer Schicksalsgenossen ihrer aller Sterben verklären.
Es naht des Sterbens schwere Stunde,
Die Uhr holt aus, es kommt der Tod,
Kein Seufzer tritt aus meinem Munde,
Nicht flieh' ich vor der letzten Not!
Mein Auge bricht, es öffnet nimmer
Sein Lid ob deiner Schönheit Pracht,
Und deiner braunen Blicke Schimmer
Ist jetzt voll Tränen aufgewacht!
Aristide schwieg. Er mußte sich sammeln. Die übrigen Insassen des »Rollenden Sarges« standen jetzt alle dichtgedrängt um den Maler, der das Blatt mit dem Gedicht des Verurteilten in zitternden Händen hielt. Aber dieser selbst sagt ruhig:
»Lest nur weiter, Bürger!«
Aristide Poignard kämpfte die Tränen wacker hinunter und fuhr fort:
Ich war nur kurze Zeit dein Eigen,
Drum tilg' mein Bild aus deiner Brust!
Ich wandle in dem ew'gen Schweigen,
Du wandelst in des Lebens Lust!
Ein Glücklicher an meiner Stelle
Beschirme unser trautes Nest,
Er mache deine Tage helle
Und deine Nacht zum Liebesfest!
Wenn morgen mich das Beil getroffen,
Gedenke einer alten Frau,
Ich war als Kind ihr ganzes Hoffen,
Denk' an den Greis, der schwach und grau!
Verlaß' sie nicht in ihren Schmerzen
Und teile treulich ihr Geschick,
Und strahlt mein Bild aus deinem Herzen
Wird dies ihr schönster Augenblick!
Aristide Poignard hatte geendet. Draußen in den Gängen von Saint Lazare wurden Stimmen laut. Die Gefangenen fuhren zusammen.
»Schon so früh,« vernahm da Poignard.
Und von draußen tönte es als Antwort aus dem Munde eines der Henkersknechte:
»Wir müssen rechtzeitig mit der Morgentoilette beginnen, sonst werden wir nicht fertig, es sind heute 87.«
Die Tür, durch die Poignard und Fleurette vorhin eingetreten, öffnete sich.
Der Greffier des Revolutionstribunals verlas die Namen:
Bürger Montjourdain ... so lautete der erste.
Da erhob sich Montjourdain.
Er nahm das Blatt mit dem Gedicht aus den Händen Aristide Poignards, reichte es dem jungen Menschen, mit dem er vorhin gesprochen hatte, und sagte einfach:
»Der Bürgerin Montjourdain, mein Freund!«
Dann setzte er sich, ein heiteres Lächeln um die Lippen, auf den in der Ecke des »Rollenden Sarges« stehenden Schemel und überließ seine jugendbraunen Locken der Schere der Henkersknechte.
Das war das letzte Bild, das Aristide Poignard und Fleurette aus dem Gefängnis Saint Lazare mitnahmen. Noch lange stand es in furchtbarer Klarheit vor ihrem geistigen Auge:
Der Dichter dieses Abschiedsliedes und der Geselle, der seinen Nacken für das Beil der Maschine bereitete.