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Das Polichinellentheater auf der Place Grève hielt sich nicht lange. Aristide Poignard hatte eben kein Glück. In den ersten Tagen des Nivose war das schönste Wetter gewesen, herrliche Winterstimmung, blauer Himmel und Sonnenschein, kein Wind, so daß der Aufenthalt im Freien schon erträglich war und man sich den »Untergang des Tyrannen« wohl einmal ansehen konnte, bei dem der Maler die Puppen tanzen ließ und Fleurette Bouchard die von Aristide gedichteten Verse sprach. Wenn dann die einstige Stammgästin der Kaffeehäuser des Palais Royal, den Teller in der Hand, während der großen Pause zwischen dem dritten und dem vierten Akt sammeln ging, dann hielten die patriotischen Bürger die Hände nicht auf die Taschen, sondern der »Untergang des Tyrannen« nährte seinen Mann. Dann aber ging es auch Aristide Poignard, wie es schon manchem Theaterdirektor vor ihm ergangen war und wie es noch gar manchem nach ihm ergehen sollte, die Ungunst der Witterung bereitete seinem Geschäft ein jähes Ende.
In dichten Flocken fiel der Schnee über Paris. Am folgenden Tage setzte Tauwetter ein. Der Schnee des Himmels wandelte sich in Regen, der auf der Erde liegende in Kot. Schmutzige Pfützen standen auf der Place Grève. Man konnte es keinem Menschen, auch nicht dem verbissensten Freunde der Freiheit und der Republik, auch nicht dem opferwilligsten Patrioten zumuten, in diesem Morast stehen zu bleiben und sich den »Untergang des Tyrannen« vorspielen zu lassen. Der Teller blieb leer. Nur noch ein paar Gassenjungen, die selbst keinen roten Sou in der Tasche hatten, schauten ein paar Minuten zu und lachten, wenn Fleurette Bouchard mit der Stimme einer Tragödin von der Comédie française deklamierte:
Wir fordern deinen Kopf, nicht mehr, nicht minder,
Wir sind der neuen Freiheit stolze Kinder!
Heute war Aristide Poignard über seinen Mißerfolg tiefunglücklich. Kein Mensch ließ sich bei diesem Hundewetter auf der Place Grève blicken. Nur die Chiffoniers, die wie immer in dem Morast des Platzes wühlten, waren am Werk, und einer dieser Gesellen hätte beinahe sein kostbares Polichinellentheater, das er sich so kunstvoll aus Kistendeckeln und bunter Leinwand zusammengebaut hatte, über den Haufen gerannt.
»Daß ich das Donnerwetter,« schrie er dem eifrigen zu, der gerade daran war, einen Kehrichthaufen, den man aus einem Haus der Place Grève einfach auf die Gasse geworfen hatte, auf ein paar noch brauchbare Lumpen und etwas Küchenabfall zu untersuchen.
»Unser Theater,« kreischte Fleurette Bouchard mit ihrer hohen Diskantstimme, die bei der Aufführung des »Untergangs des Tyrannen« in den ersten und guten Tagen so großes Furore gemacht hatte.
Die Chiffoniers lachten.
»Den Affenkasten aus alten Unterhosen nennt das Weibsbild ein Theater,« rief da ein junger Bursche. »He, Frau Direktor, hat man dich nicht in besseren Zeiten in den Cafés des Palais Royal gesehen?«
Fleurette Bouchard gab dem Unverschämten keine Antwort. Das Weinen war ihr nahe, die Tränen stiegen ihr unaufhaltsam in die Augen, wenn sie daran dachte, daß sie heute auch keinen einzigen Sou mehr mit nach Hause bringen würden und daß Aristide und sie noch nicht einmal gefrühstückt hatten, obgleich die Uhren schon auf Mittag zeigten.
Aristide Poignard schmetterte einen grausigen Fluch vor sich hin. Dann machte er sich daran, das Theater zusammenzupacken. Er legte die Polichinellen sorgsam in eine alte Zuckerkiste, die ihm ein Viktualienhändler in der Rue Saint Martin zu diesem Zwecke geschenkt hatte. Der Bürger Louis Capet, der eine goldne Krone aus Pappe auf seinem Holzkopf trug, und Gobel, der Erzbischof von Paris, den das Talar aus Fleurettes Trauerschleier zierte, kamen zu oberst. Dann nahm er das Theater auf den Rücken und schickte sich voll Trauer an, mit Fleurette den Heimweg anzutreten in die kalte Bude der Rue Saint Roch, aus der man sie beide auch bald an die Luft setzen würde, weil sie die Miete schon seit drei Wochen schuldig geblieben waren.
»Am Ende bleibt mir doch nichts anderes übrig, Fleurette, als die 40 Sous für meine politischen Geschäfte wieder zu holen,« sagte er traurig.
Gerade als sie sich auf den Weg machen wollten, bot sich ihnen ein seltsamer Anblick dar.
Vom Pöbel gefolgt, von lautem Lachen und frenetischen Bravorufen begleitet, bewegte sich da ein Trupp Weiber über die Place Grève. Es waren wohl zwischen dreißig und vierzig junge und alte, hübsche und häßliche, wie sie der Zufall gerade zusammengewürfelt hatte. Sie trugen rote Männerhosen, hatten die Trikolorenschärpe um ihre Brüste geschlungen und auf ihren unfrisierten Haaren wippten die roten phrygischen Mützen.
»Das sind die Strickerinnen Robespierres,« sagte da Aristide Poignard zu Fleurette.
»Das glaube ich nicht,« erwiderte das Mädchen. »Die Strickerinnen Robespierres tragen keine Hosen. Zudem, sie haben alle Hände voll zu tun. Sie sitzen im Konvent. Sie sitzen in der Kommune. Sie sitzen auf der Estrade des Revolutionstribunals. Sie sitzen vor der Guillotine auf der Place. Die machen keinen solchen Umzug, Aristide! Ich weiß in der Tat nicht, was das bedeuten soll.«
Der Trupp der Weiber kam näher. Der Pöbel folgte ihm auf Schritt und Tritt.
»Es lebe Chaumette! Es lebe Hébert!« scholl es dem Maler und Fleurette schon von weitem entgegen.
»Daß euch das Gewitter ...,« knurrte Aristide Poignard.
Aber noch ehe er seinen Fluch vollenden konnte, rief Fleurette:
»Ist das nicht Rose Lacombe, Aristide, dort die erste, die den Trupp anführt und die Fahne der Republik in den Händen schwingt?«
»Wer ist das, Rose Lacombe?«
»Die kennst du wirklich nicht? Sie war auch einst mit von den Damen des Palais Royal! Sie ist eine Kollegin. Sie war Schauspielerin an einem Provinztheater, ehe sie nach Paris kam, hat sie erzählt.«
»Und jetzt?«
»Was sie jetzt tut, weiß ich nicht. Ich sagte dir doch, Aristide, sie war auch mit von den Damen des Palais Royal ...«
»Damen ...« wiederholte der Maler verächtlich und spie vor sich hin.
Der Trupp der Weiber und der ihn begleitende Pöbelhaufe schienen sich aus dem prasselnden Regen, der eben wieder in Strömen niederging, nichts weiter zu machen. Es klatschte nur so auf die Fahne, die Rose Lacombe in ihren Händen hielt, aber das focht sie weiter nichts an. Jetzt hatte der Trupp unter ihrer Führung die Mitte des Platzes erreicht. Drüben vor dem Eingang zu einer Taverne lag zufällig ein geleertes Weinfaß. Ein paar der Weiber in den roten Männerhosen rollten dieses heran, stellten es aufrecht und Rose Lacombe bestieg die so improvisierte Rednertribüne.
»Freundinnen! Mitglieder des Revolutionsklubs,« schrie sie jetzt über den Platz. Ihre Stimme hatte etwas Durchdringendes. In der Art, wie sie ihre Worte vorbrachte, lag etwas Deklamatorisch-theatralisches. Man merkte ihr sofort an, daß sie aus der Schule der Kulissen hervorgegangen sein und in einem Theater dritten oder vierten Ranges die Andromache gegeben haben mußte.
»Bravo, bravo, hoch Rose Lacombe,« brüllte der Pöbel, noch ehe die einstmalige Schauspielerin und jetzige Vorsitzende des Revolutionsklubs etwas gesagt hatte.
Dann wurde es plötzlich mäuschenstill. Die Menge besann sich. Es kam jedem einzelnen zum Bewußtsein, daß er ja nicht auf seine Kosten kam, wenn er so brüllte, daß man dann die große Rose Lacombe ja nicht verstehen könnte!
Auch Aristide Poignard und Fleurette Bouchard blieben stehen. Auch sie waren jetzt neugierig zu erfahren, was denn das Frauenzimmer in den roten Männerhosen vorzubringen hatte.
»Mein großer Kollege Collot d'Herbois,« begann jetzt die Rednerin, »ist mein Vorbild. Auch er ist wie ich von der Bühne ausgegangen. Auch ihn hat das Schicksal aus der Welt der Kulissen in die der großen Politik gestellt.«
»Hoch Rose Lacombe,« schrie da schon wieder einer.
Aber die anderen verwiesen ihn zur Ruhe. Sie wollten doch wissen, was die Vorsitzende des Revolutionsklubs eigentlich vorzubringen hatte.
»Wir ziehen in den Konvent, Mitschwestern, wir ziehen in die Tuilerien,« schrie jetzt Rose Lacombe mit hocherhobener Stimme. »Sie müssen uns endlich hören, wie sie uns in der Kommune gehört haben. Chaumette und Robespierre, Hébert und Saint Just sind auf unserer Seite. Sie müssen uns hören. Gleiches Recht für alle, ob Mann oder Weib. Es gibt keinen Unterschied der Geschlechter in den Tagen der einen und unteilbaren Republik. Mitschwestern, der Tag des neuen Kalenders hat auch den Unterschied der Geschlechter aufgehoben.«
»Das Weibsbild ist irrsinnig,« knurrte Aristide Poignard.
Fleurette sah ihn voll Entsetzen an.
Das war nicht ungefährlich, wenn einer dieser Fanatiker eine solche Bemerkung gehört hätte! Im Angesicht der früheren Kollegin Rose Lacombe fiel es Fleurette plötzlich ein. In diesen Tagen hatte sie so mancherlei von der gehört und gelesen, seitdem die den Revolutionsklub ins Leben gerufen hatte, der in der einstigen Kirche Saint Eustache in der Ecke der Rue Montmartre seine Sitzungen abhielt. Sie hatte Einfluß. Vor allem in der Kommune hörte man auf sie. Sie rühmte sich der Protektion Chaumettes und Héberts und zwar nicht mit Unrecht. Sie flunkerte sogar, daß sie auf ihn selber, den Unbestechlichen, einzuwirken imstande sei, obwohl Robespierre ihr, wie man wußte, die Tür gewiesen hatte.
»Aber hübsch ist die Person,« bemerkte jetzt Aristide Poignard.
»Sie hat uns allen im Palais Royal die Augen ausgestochen und hat dort immer die beste Kundschaft gehabt,« sagte da Fleurette in unvergleichlicher Naivität.
Und Aristide Poignard fühlte nicht mehr die Kraft in sich, ihr etwas zu erwidern. Seine Energie war zu Ende. Es war ihm klar, daß er ohne Fleurette verloren war, daß am Ende nur noch von ihr die Erhaltungsmöglichkeit und Rettung kommen konnten.
Wieder hallte die schrille Stimme Rose Lacombes über den Platz und traf des Malers Ohr wie ein schneidendes Schwert. Und sie sagte:
»Wir haben unsere Kinder mit Blut getauft, Mitschwestern, und wir nennen unsere Kinder mit Stolz ... die roten Kinder.«
Dieses Wort pflanzte sich jetzt fort von Mund zu Mund. Helle Frauenstimmen krähten die furchtbare Offenbarung, Männer, denen Hunger und Alkohol den letzten Rest der Vernunft genommen zu haben schienen, schrien in heiserem Ton: »Die roten Kinder!«
»Man hat uns manches bewilligt, aber nicht alles, Mitbürger,« fuhr Rose Lacombe weiter fort. »Chaumette ist auf unserer Seite, und die Cordeliers sollen uns weiter führen!«
»Es leben die Cordeliers!«
Es war wie das Brausen eines Sturmes, der jetzt über die Place Grève ging. Selbst der Wind, der sich erhoben hatte und den Regen vor sich hin trieb, konnte gegen die entfesselte Leidenschaft des Pöbels, die von einem Weib in Männerhosen aufgerüttelt wurde, nicht an.
»Die Kommune hat uns Ehrenplätze bewilligt, Mitschwestern. Sie hat uns unser Banner der Freiheit zugesprochen.«
Rose Lacombe schwang die Fahne, die drei geheiligten Farben der einen und unteilbaren Republik, als wehendes Banner über ihrem Haupt.
»Lest die Inschrift unserer Fahne, Mitschwestern, wie lautet die Inschrift unserer Fahne?« schrie sie.
Und wie aus einem Munde brüllte ihr jetzt die Menge entgegen und wie ein orkanartiger Windstoß flog dieses Wort über den Platz:
»Sie haben die Tyrannen vor sich hin gekehrt!«
»Sie haben die Tyrannen vor sich hin gekehrt!«
So klang es ein zweites und ein drittes und ein viertes Mal.
»Bin ich denn in einem Narrenhause? Ist das Frankreich, ist das Paris?« stammelte Aristide Poignard.
»Aber ich flehe dich an, Aristide, wenn dir dein Leben lieb ist! Sie haben doch die Macht. Chaumette, Hébert, Saint Just, am Ende gar Robespierre selbst, stehen hinter ihnen.«
Am liebsten hätte sich Aristide Poignard trotz allem der Rednerin entgegengeworfen. Aber wer war er denn? Ein Maler, nach dessen Bildern in diesen Tagen des Blutes kein Mensch fragte, ein Hungerleider, der sich eben noch mit einem Polichinellentheater, in dem er gegen sein Gewissen das Gewesene verhöhnte, ein paar Sous hatte verdienen wollen ... und diese da ... Schauspielerin aus einem kleinen Provinztheater, die ihren Vater nicht und ihre Mutter kaum kannte ... dann Dirne im Palais Royal ... die war jetzt allmächtig ... die zog die Massen der entfesselten Weiber und verwahrlosten Männer hinter sich her, weil die Despoten der Kommune und des Konvents für ein paar Wochen auf ihrer Seite standen, weil die diese Megären nötig hatten, damit die Bewegung des Blutes und der Tränen und des Hungers, das Regiment des Schreckens, nicht im Sande verliefen, wenn die bis zur Siedehitze getriebene Tollheit dieser Weiber nicht mehr hinter ihnen stand.
Wer war er heute im Vergleiche mit dieser da? Er, der doch drauf und dran war, der doch drauf und dran sein mußte, sich von einer solchen aushalten zu lassen, die gleich dieser Stammgästin der Cafés des Palais Royal gewesen war!
In solch bitteren Gedanken verharrte Aristide Poignard reglos auf dem Platze, wo er gerade stand, und sah traurigen Blickes auf seine kleine Freundin Fleurette, die er einst als sein Modell hatte retten wollen und mit der er nun um so tiefer in den Morast dieser aus Blut und Wahnwitz zusammengesetzten Tage versank.
Immer dichter drängte die Menge an Rose Lacombe heran. Die stand noch immer auf dem leeren Weinfaß und schwang die Trikolore. Rascher und lauter ging ihr Atem, stärker schwoll ihre Stimme an, heiserer kamen die Worte aus ihrem Munde, flammendere und flammendere Röte legte sich auf ihre heißen Wangen. Und der Sturm der Nivose fuhr über den Platz. Aber Rose Lacombe lachte dieses Sturmes, und die Regenschauer, die über sie und ihre Mitschwestern herniedergingen, die sie unbarmherzig bis auf das Hemd durchnäßten und vor Kälte erschauern ließen, kümmerten sie nicht.
»Mitschwestern,« begann sie aufs neue. »Was die Kommune uns zugebilligt hat, genügt nicht. Wir wollen Männer sein, Männer, Mitschwestern, und wenn wir uns die Brüste, über die man sich lustig zu machen wagte, mit eigenen Händen von den Knochen herunterreißen müßten. Männer wollen wir sein, Männer wie die, die uns unseren Platz streitig machen. Wir wollen Männer sein! Wir wollen die Rechte des Mannes haben im Konvent, in der Kommune, im Wohlfahrtsausschuß, im Überwachungskomitee, in der Armee, auf den Schlachtfeldern und im Frieden,« riefen da die Mitglieder des Revolutionsklubs wie aus einem Munde ... »Es lebe Rose Lacombe! ... Es lebe die Gleichheit! ... Auf in die Tuilerien ... in den Konvent! ... Voran! ...«
Mit diesen Worten setzte sich der Trupp in Bewegung. Das Polichinellentheater auf dem Rücken, folgte Aristide Poignard diesem Zug, dem in Rose Lacombes Händen die Trikolore voranwehte. Fleurette ging dicht an seiner Seite. Sie trug die Zuckerkiste mit den Mannequins auf der Schulter. Der Weg von der Place Grève nach den Tuilerien war weit genug, daß sich Pöbelhaufe auf Pöbelhaufe trotz des Sturmes und Regens zu dem Weibertrupp gesellte. Es gab in diesen Tagen Obdachlose und Lungerer genug in Paris, denen eine Sensation die einzige Abwechslung ihres endlosen Tages bedeutete. Wenn der Zug der Karren, die nach dem Revolutionsplatz fuhren, einmal abbrach, weil Fouquier Tinville in der Conciergerie mit seiner Arbeit nicht zu Ende gekommen war, dann bot solch ein Weiberauflauf oder auch eine kleine Revolte des Revolutionsklubs schon eine willkommene Anregung.
Weit über sechstausend Gefangene schmachteten jetzt in den Pariser Kerkern und harrten des Henkers. Aber die Zahl derer, die kein Brot und keinen Unterschlupf hatten, die an jedem neuen Abend auf einen Zufall warteten, um in einen Schuppen oder einen leeren Laden unterkriechen zu können, war Legion. Die Armee fraß dieses Volk auf.
So schwoll denn der Trupp der etwa vierzig Weiber zu einem Strom von Menschen an, bis man den Revolutionsplatz und den Eingang des einstmaligen Königsschlosses erreicht hatte, in dessen Theatersaal jetzt der Konvent der einen und unteilbaren Republik seine täglichen Sitzungen abhielt, nachdem er die Reitbahn, in der er so lange getagt, verlassen hatte.
Und unaufhaltsam ergoß sich dieser Strom in den Tuileriengarten. Er drang in das Schloß. Er betrat die Treppen, auf denen einst der Fuß des Bürgers Capet und der verhaßten Österreicherin gewandelt, und flutete in den Saal des Konvents.
Ein Murren ging durch die Bänke der Volksvertreter, als die Weiber hier eindrangen.
Aristide Poignard und Fleurette waren fast wider ihren Willen mit hineingerissen worden, denn wen der Strom einmal gefaßt hatte, den ließ er nicht mehr.
Voll Staunen und Schauder musterte der Maler die Versammlung der Allmächtigen, an deren Worten das Schicksal Frankreichs und der Welt in diesen Tagen hing, auf deren Zungen Vermögen und Leben jedes Einzelnen als Freibeute lagen. Der Strom der Weiber hatte ihn und Fleurette bis an die Ballustrade der Galerie gedrängt, von der aus man den freien Überblick über den ganzen Saal und über die Bänke der Volksvertreter hatte.
Der herrliche Raum der Tuilerien hatte seinen alten Glanz gewahrt. Unter den goldenen Kronleuchtern der Bourbonen, auf den Sitzen, die einst die Lilien Frankreichs geziert, beratschlagten jetzt die Gesetzgeber und Alleinherrscher des dritten Standes, die den Adel und die Geistlichkeit wie eine Herde Schlachtvieh vor sich her getrieben hatten. Und an dem Zucken ihrer Wimpern hing Leben oder Tod.
Aristide Poignard starrte vor sich hin. Den Hunger, der seit dem frühen Morgen in seinen Gedärmen wühlte, denn schon seit einer Woche hatte er sich wieder mit Kastanienbrei begnügen müssen, hatte er bei diesem Anblick plötzlich vergessen. Auch dachte er gar nicht daran, welchen Eindruck er hier machen mußte, er in seinen abgetragenen Kleidern, mit dem auffallenden, rabenschwarzen Künstlerkopfe, den Polichinellenkasten auf dem Rücken, in dem er noch heute den »Untergang des Tyrannen« auf der Place Grève zum besten gegeben hatte. Er hier an der Seite eines Mädchens, das einst eine stadtbekannte Erscheinung in den Cafés des Palais Royal gewesen war, er, der Freund des Dichters Auguste Rodeur, der den König verteidigt hatte, er, der sich für einen Schüler der Bouchers und Watteaus hielt. Er in diesem Prunksaale, den dieses Volksgericht zum Tribunal der Willkür und Zügellosigkeit erniedrigt hatte, genau so gut, wie er einst der Tummelplatz absolutistischer Willkür und Laune gewesen war.
War das am Ende doch der Hunger, der solches zustande brachte? In diesem Augenblick hatte Aristide Poignard mitten in dem Saale des Konvents, wo die Vertreter des Volkes tagten und der dermaleinst einer der Prunksäle des Königs und der Königin gewesen war ... eine Vision. Er sah die Österreicherin samt ihren Hofdamen ... und die Witwe Capet und alle ihre Begleiterinnen hielten ihre abgeschlagenen und blutenden Köpfe in den Händen.
Aber der Spuk schwand. Nur der Hunger war daran schuld gewesen. Jetzt sah Aristide Poignard wieder alles klar und in scharfen Umrissen, und sein Ohr vernahm in nüchternen und verständlichen Worten, was man sprach.
Angesichts des Konvents war das laute Johlen und Schreien der einstürmenden Volksmenge, die den Weibertrupp in ihrer Mitte führte, die jetzt die ganze Galerie bis auf das letzte Plätzchen füllte, verstummt.
Drunten im Saale auf der Rednertribüne stand ... ein Mann.
Und Aristide Poignard, der Schüler Watteaus und Bouchers, der einstige Royalist und individuelle Künstler, dem jede Art des Kommunismus ein Greuel bedeuten mußte, vermochte sich von dessen Anblick nicht loszureißen.
Das war kein anderer, das konnte gar kein anderer sein! Das war der eine, der große »Unbestechliche« ... Das war Maximilien Robespierre!
Wie ein Felsen stand dieser Mann, in der Versammlung. Wie die starre Klippe, die das brandende Meer vergebens umtost. Wie Sinn und Ende, Zweck und Zielpunkt der ganzen, großen Revolution. So mußte Aristide Poignard denken, als er diesem Manne zum ersten und einzigen Male in seinem Leben in die kalten Augen sah. Sie waren blau und ohne Leidenschaft. Aber wenn der Mund zu sprechen begann, dann funkelten diese Augen wie in der Sonne gezückter Stahl.
Der Mann war nicht groß, er war vielmehr von kleiner Statur, aber wenn er sprach, dann wuchs er plötzlich, dann schien er sich wie ein Wunder ins Gigantische zu recken.
Seine Stimme klang leise und unbedeutend. Es hatte den Anschein, als könnte sie so leicht und sicher von anderen Stimmen übertönt werden, als wäre sie rasch zum Schweigen gebracht. Aber wenn er seine Worte formte zu Schwertern, die schneidend eindrangen in den Busen des fühlenden Menschen, wenn er sie spitzte zu Pfeilen, die klirrend abschwirrten von der Sehne des Bogens seiner unbeugsamen Gedanken und Ideale, so daß sie ihr Ziel niemals verfehlen konnten, dann vergaß man den leisen Ton und die mangelnde Bedeutung dieser Stimme, die mit dem vor Monden und Jahren gehörten Pathos eines Mirabeau, die mit dem Brustton der Überzeugung eines Vergniaud nicht im entferntesten zu vergleichen war ... denn dieser Mann war Ziel und Ende dieser Revolution!
Er hatte sie alle hinter sich gelassen. Wie ein Somnambuler war er über ihre in den Kot des Revolutionsplatzes gerollten Köpfe dahingeschritten, unbekümmert, nicht nach rechts und nicht nach links schauend, in keinem Sinne nachgebend, über Blut und Leichen, über Leichen und Blut, seinen unverrückbaren Idealen entgegen, die in der Philosophie des großen Bürgers von Genf gipfelten.
Dieser Mann, der zusammen mit einem Schreiner die Wohnung in einer alten Gasse von Paris teilte, obwohl er sich in diesen Tagen den Louvre oder die Tuilerien ganz nach seinem Gutdünken hätte einrichten können, dieser Mann, der die Tochter eines bettelarmen Arbeiters als Geliebte in sein Haus genommen und ihr treu blieb, obwohl er alle Damen Frankreichs zu seinen Bettgenossinnen hätte machen können, der war Ziel und Ende, Gedanke und Seele, Nerv, Hirn und Herz dieser Revolution. Wenn er nicht mehr mitmachte, dann brach die Bewegung in sich zusammen, die er von ihrem ersten Anbeginn an unverrückbar wie des Nordens heller Stern bestimmt hatte. Denn alle anderen hatten nachgegeben, alle anderen hatten Kompromisse geschlossen und waren gefallen ... Er gab nicht nach! Er stand! ... Denn er war der Unbestechliche!
Dem starrte Aristide Poignard jetzt ins Gesicht, wie der drunten auf der Rednertribüne stand und die Hand erhob. Der Maler sah, wie der die schmalen, festaufeinandergekniffenen Lippen, um die immer ein zwischen Verachtung und Wohlwollen wechselndes Lächeln spielte, öffnete, und er hörte, wie zauberhafte Ruhe im Saale des Konvents entstand.
Denn er, der Unbestechliche, Felsen und Anker seiner Zeit, sprach.
Aristide Poignard erwartete eine jener Reden, die in diesen Tagen so oft wie das Weltgericht über Paris niedergegangen waren. Aber Maximilien Robespierre begnügte sich diesmal mit einem einzigen Satz. Denn Rose Lacombe und der Revolutionsklub schienen es nicht wert, daß der Unbestechliche ihnen in eigener Person Rede und Antwort stand. Er sagte nur:
»Ich gebe Chaumette das Wort.«
Aristide Poignard stand in nächster Nähe von Rose Lacombe. Er sah, wie diese erblaßte. Chaumette hatte sie verraten. Er hatte die Sache des Revolutionsklubs aufgegeben, wenn er hier im Konvent an Stelle Robespierres und in seinem Sinne die Antwort erteilte, denn der Unbestechliche hatte von den Weibern in den Männerhosen nichts hören wollen, und so mußte Chaumette selber nach des Allgewaltigen Willen das Gefäß wieder zerschmettern, das er einst geformt hatte.
Der Vorsitzende des Klubs der Cordeliers, der den Bürgersoldaten Silvain Parmentier in das ehemalige Franziskanerkloster geführt hatte, stand nun an Robespierres Seite auf der Tribüne.
»Was haben schwangere und halbnackte Weiber im Konvent zu suchen?« donnerte er.
Ein unwilliges Murren von den Ränken der Abgeordneten bildete die Antwort auf diese Frage Chaumettes.
»Bürger,« ergriff der aufs neue das Wort. »Euer Murren gefällt mir. Es ist nur vernünftig, daß Ihr Euch gegen solches auflehnt.«
»Das Gesetz erlaubt uns, den Saal des Konvents zu betreten.«
»Man lese dieses Gesetz!« schrie da Chaumette. »Benehmt ihr euch wie Weiber? ... Das Gesetz befiehlt euch, der guten Sitte zu folgen, der Sitte Achtung zu zollen. Tut ihr das? Seit wann ist es den Frauen erlaubt, ihr Geschlecht zu verleugnen und in Männerkleidern einherzugehen, seit wann? Sagt mir, bitte, seit wann? ... Wer gab euch das Recht, euer Haus, die Wiege eurer Kinder im Stiche zu lassen und so in den Saal des Konvents einzudringen? Wer, wer, wer?«
Droben auf der Galerie um Rose Lacombe herum war es bei diesen Worten Chaumettes ganz still geworden.
Aristide Poignard lauschte der Rede des Führers der Cordeliers voll flammender Begeisterung. Wie recht hatte der, daß er so sprach, und daß er so sprach, war Wille und Werk des Unbestechlichen.
»Wem,« so fuhr Chaumette jetzt fort, »hat die Natur die Sorge für Haus und Kinder anvertraut? Wem hat sie Brüste gegeben, um die Kinder ernähren zu können? Dem Manne oder dem Weibe? Antwortet mir! Wem? ...«
Kein Laut drang mehr von der Galerie an das Ohr Chaumettes.
Aber der erhob seine Stimme noch einmal und sprach noch lauter:
»Die Natur, die wir alle verehren, zu der wir alle beten, Bürger, sagte dem Mann: Sei Mann! ... sagte dem Weib: Sei Weib! ... Wenn Ihr herrschen wollt, dann herrscht durch die Liebe, und herrscht Ihr durch sie ... dann herrscht Ihr nach dem Willen der Natur!«
Hier machte Chaumette eine Pause. Er wußte wohl warum.
Die Weiber droben auf der Galerie hatten nämlich ihren Wunsch und das Anliegen Rose Lacombes bereits vergessen. Sie fühlten sich geschmeichelt. Sie nahmen die roten Mützen von ihren Köpfen und riefen:
»Es lebe Chaumette!«
Die Sache des Unbestechlichen hatte gesiegt.
»Ich warne euch, Bürgerinnen,« sagte jetzt Chaumette nach dieser Pause. »Erinnert euch der Weiber, die mehr sein wollten als ihr Geschlecht, die sich anmaßen wollten, zu herrschen. Sie alle sind noch den Weg des Verderbens gegangen. Denkt der Roland, deren Haupt nach Recht und Gesetz auf dem Blutgerüst fiel. Sie war die erste, die einen Weiberklub gründete, und die Strafe ist ihrem Verbrechen auf dem Fuße gefolgt. Denket daran! Nur in den Zeiten, in denen es keine Männer gibt, haben die Frauen die Macht an sich gerissen. Aber heute gibt es Männer in Frankreich. Jeanne d'Arc konnte nur geboren werden, weil der siebente Karl ein Weib gewesen ist.«
So schloß Chaumette.
Aristide Poignard war von seiner Rede hingerissen.
Auf den Bänken der Volksvertreter brach ein Sturm des Beifalls los.
Nur er, der Unbestechliche, stand wie der Felsen im Meere und regte sich nicht.
Dieser Chaumette, seine Kreatur, das Werkzeug seiner Hände, von dem er schon heute wußte, daß er auch ihn, wenn die Stunde gekommen war, auf das Blutgerüst schicken würde, hatte die ihm übertragene Rolle nach Wunsch gespielt.
Rose Lacombe an der Spitze, trat der Revolutionsklub den Rückzug aus dem Saal des Konvents an.
Auf der Treppe erkannte Rose Lacombe ihre einstige Kollegin aus dem Palais Royal, Fleurette Bouchard.
»Wie geht es, Fleurette?« fragte sie.
»Schlecht,« erwiderte Fleurette einfach.
»Ja, das Gewerbe zieht nicht mehr,« sagte Lacombe melancholisch, »seit nach dem Sturze des Tyrannen alles in freier Liebe macht, seit die Bürger ihre Frauen und Töchter auf den Altären in den Tempeln der Vernunft öffentlich zur Schau stellen. Und dann, wir werden alt, Fleurette!«
Fleurette hatte es gar nicht bemerkt, daß sie Aristide im Gedränge verloren hatte, während sie mit Rose Lacombe auf der Treppe der Tuilerien sprach.
»Komm zu uns nach Saint Eustache,« sagte jetzt Rose Lacombe voll Mitleid.
»Was sollte ich in der Kirche?«
Rose lachte.
»Saint Eustache ist keine Kirche mehr. Sie ist jetzt Klublokal der Société révolutionnaire.«
»Und ich soll rote Hosen tragen und die Fahne schwingen?« lachte Fleurette.
»Was bleibt wohl unsereiner anders übrig, Fleurette, wenn man älter wird und wenn die Jugend Frankreichs umsonst und für einen jeden zu haben ist? Seitdem Hébert und Chaumette, dieser Verräter, das Symbol der Natur auf den Altar der Jungfrau erhoben haben! Wenn es mit der Liebe nicht mehr geht, versuchen wir es mit der Politik. Die Kommune und der Konvent bezahlen die, die am lautesten schreien ... und das ist ehrlich verdientes Geld!«
»Man bezahlt euch?«
»Was dachtest du?«
»Dann komme auch ich nach Saint Eustache.«