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Man war fest entschlossen, mit allem vergangenen aufzuräumen. Zeit und Geschichte sollten auf den Kopf gestellt werden oder besser gesagt, sie waren überhaupt nicht mehr vorhanden. Daß man die Leichen der Könige aus der Kathedrale in Saint Denis gezerrt und der Kalkgrube des Friedhof Valois überantwortet hatte, genügte den Machthabern vom Schlage der Hébert und Chaumette, Saint Just und Robespierre nicht. Die Menschheit sollte von vorn anfangen. Aus diesem Grunde und zu diesem Zwecke hatte der Konvent nun schon vor Monden einen neuen Kalender eingeführt. Dieser datierte vom 22. September 1792, dem Tage der Gründung der einen und unteilbaren Republik. Man schrieb also jetzt das Jahr II und war am Anfang des Monats Nivose, duz heißt zu Ende des Dezember 1793.
Seinem Namen Ehre zu machen, hatte der Nivose den Park von Versailles in eine dichte Schneedecke gehüllt.
Der Dichter Auguste Rodeur saß in seinem Stübchen bei Frau Labiche vor dem Bouletisch. Schon seit Wochen war er kaum mehr vor die Tür gekommen. Seinen Freund, den Maler Poignard, hatte er seit jenem Herbsttag im Park von Versailles nicht wiedergesehen. Er mied Paris. Er verkroch sich in Versailles vor dem Allgewaltigen, seitdem das Gesetz gegen die »Verdächtigen« Leben und Vermögen eines jeden Bürgers willkürlich in die Hände des Wohlfahrtsausschusses, des Überwachungskomitees und des Revolutionstribunals gelegt hatte.
Und dann ... er hatte zu tun. Die Blätter seiner Manuskripte häuften sich auf dem Bouletisch vor Auguste Rodeur. Denn er arbeitete an einem großen Lehrgedichte in Stil und Form seiner griechischen Vorbilder, sein »Hermes«, wie er das gewaltige Werk nennen wollte, sollte dereinst den Stolz Frankreichs bilden. Es sollte den Ruhm Boileaus und Lafontaines in den Schatten stellen. Das war in jenen trüben Wintertagen der Verbannung in Versailles der Traum Auguste Rodeurs.
Denn dieser Dichter war ganz und gar das Kind seiner Zeit, der Epigone jener großen, klassischen Periode, die unter der Regierung des Sonnenkönigs Frankreichs hervorragende Stellung innerhalb der Weltliteratur begründet hat. Horaz und Vergil, Ovid und Catull, Homer und Anakreon, Pindar und die Sappho hatte Auguste Rodeur zu den Paten seiner Dichtkunst erhoben. Ein Grieche des Geschmackes, ein Römer der Gesinnung, wandelte er durch diese furchtbaren Tage des Schreckens, und als solcher anerkannt zu werden, das war Auguste Rodeurs heißer und unbeirrbarer Wunsch.
Aber es war nicht nur die Mode der Zeit, der Auguste Rodeur in seinen Schriften folgte. Bei ihm lag das tiefer, bei ihm steckte das im Blut. Zwar war sein Vater Franzose. Der war Kaufmann und Konsul im Orient gewesen. Aber dort in Stambul angesichts des Goldenen Hornes hatte Auguste Rodeurs Vater die Mutter des Dichters gefreit. Und von dieser Mutter kam es her. Sie war Griechin. Sie hatte den unlöschbaren Durst nach Größe und Schönheit auf den Sohn vererbt, auf den Sohn, der eine einst ach so glänzend erscheinende Karriere erst als Offizier und dann als Diplomat kurzerhand an den Nagel gehängt hatte, um das Spiel der friedlichen Leier anzustimmen inmitten eines Volkes und einer Zeit, die wie keine zweite das Blut ihrer Bürger in Strömen vergoß, die des Gesetzes heilige Tafeln und den Griffel der Geschichte gegen Schafott und Fallbeil eingetauscht hatte. Dieser Zwiespalt zwischen seinen eigensten Bestrebungen und dem Wollen seiner Tage war Auguste Rodeurs grausiges Schicksal.
Er hatte den König verteidigt, heimlich zwar, und doch war es kund geworden, daß kein anderer als der Dichter damals vor fast einem Jahre der Verfasser der Schrift gewesen, die man im Namen der Menschlichkeit zur Rettung des Bürgers Louis Capet dem Konvent und dem Revolutionstribunal der Geschworenen überreicht. Und das verziehen die Machthaber des Augenblicks, die das verblendete Volk an ihrem Gängelband führten, nicht. Und noch mehr! Auguste Rodeur war Zeuge jener schmachvollen Sitzung gewesen, die von Rechts wegen das gesalbte Haupt Louis Capets dem Pöbel zum Opfer gebracht hatte. Seit dem 21. Januar 1793 hatte man den Dichter kaum mehr in den Straßen von Paris gesehen. Nur ganz selten und dann des Nachts kam er in die Hauptstadt, ein paar Freunde zu sprechen, an den Sitzungen seiner gemäßigten Sektion teilzunehmen, der er noch immer angehörte, und nun kam er schon seit Wochen überhaupt nicht mehr. Der »Hermes« hielt ihn in Versailles am Bouletisch, die Liebe hielt ihn in Louveciennes an der Villa fest, um deren Eingang sich im Mai die blühenden Glyzinen rankten.
Es war in der Dämmerstunde. Schon brannte die Lampe auf dem Bouletisch und warf ihren matten Schimmer auf die Blätter, die Auguste Rodeur mit seiner zierlichen und aristokratischen Handschrift bedeckt hatte, da trat die alte Frau Labiche zu ihm in das Zimmer.
»Soll ich das Essen besorgen, Herr Rodeur,« fragte sie auf der Schwelle, »oder haben Sie vor, ins Restaurant zu gehen?«
Wie abwesend blickte Auguste Rodeur von seiner Arbeit auf, die ihn eben auf den Olymp und in das Tal Tempe geführt hatte, als wisse er gar nicht, daß er bei Frau Labiche in Versailles sei und daß die Stunde der Abendmahlzeit näher und näher kam.
»Ach so,« erwiderte er zerstreut. »Ach nein, Frau Labiche, ich werde diesen Abend nicht zu Hause essen.«
Es hatte den Anschein, als wolle Frau Labiche sich entfernen. Aber sie zauderte. Sie hielt ein Zeitungsblatt in den Händen, das ihr offenbar der freundliche Nachbar Brun wieder einmal übermittelt hatte.
»Haben Sie denn die Zeitung gelesen, Herr Rodeur?« fragte sie endlich.
»Sie wissen doch, daß ich die Zeitungen schon lange nicht mehr lese, Frau Labiche,« sagte er mürrisch.
Aber Frau Labiche ließ sich nicht irre machen.
»Es ist entsetzlich!« stieß sie nun hervor. »Heute sind wieder fünfzehn Köpfe auf dem Revolutionsplatz gefallen, Herr Rodeur, und das Tribunal hat heute abend siebenundzwanzig neue Todesurteile ausgesprochen.«
»Das ist bei der schon sprichwörtlich gewordenen Fixigkeit Fouquier Tinvilles doch noch keine allzu große Leistung, meine beste Frau Labiche!«
»Aber Sie sollten die Zeitung trotzdem lesen, Herr Rodeur!«
»Wieso? Warum trotzdem, Frau Labiche?«
»Es ist darin vom Herrn Poignard die Rede ...«
Auguste Rodeur erbleichte.
»Von dem Maler? Von meinem Freund, Madame Labiche? Ist er etwa unter den fünfzehn oder unter den siebenundzwanzig?«
»Ach nein, Herr Rodeur!«
Wie eine Zentnerlast fiel es bei diesen Worten der alten Frau Labiche von Auguste Rodeurs Herzen.
Und Frau Labiche fuhr fort:
»Ich bin eine ganz altmodische Frau, Herr Rodeur, das wissen Sie ja. Mein Mann und ich sind beide immer gut katholisch gewesen. Du lieber Himmel, das darf man ja heutzutage nicht mehr laut sagen, und wenn ich nicht in meinen vier Wänden wäre und nicht Sie mir zuhörten, Herr Rodeur, dann sagte ich es ja auch nicht. Was Herr Poignard da tut, das scheint mir noch schrecklicher, als wenn er unter den fünfzehn oder unter den siebenundzwanzig gewesen wäre.«
»Was tut er denn? So zeigen Sie her!«
Auguste Rodeur ergriff das Zeitungsblatt, dessen eine Spalte ihm Frau Labiche direkt unter die Augen hielt, und er las:
» Polichinellentheater auf der Place Grève.
Auf eine artige Idee ist ein Freund des Vaterlandes und der Freiheit gekommen. Er hat ein Hanswursttheater auf der Place Grève errichtet, das sich des lebhaftesten Zuspruchs aller Gutgesinnter erfreut. Man spielt dort mit Puppen den »Untergang des Tyrannen«. Die Mannequins sind von sprechender Ähnlichkeit und zum Totlachen. Man trifft dort den Bürger Louis Capet, man trifft die Bürgerin Capet und Gobel, den ehemaligen Erzbischof von Paris. Man trifft Vergniaud, den Verräter, man trifft Mirabeau, den Volksverführer, man trifft aber auch Marat, das Opfer der Freiheit, man trifft die verwünschte Corday und ... den Henker! ... Niemand sollte es versäumen, sich das erhebende Schauspiel auf der Place Grève zu betrachten, zu dem der Erfinder der Puppen die Verse selber gedichtet und die er selbst zusammen mit einer Bürgerin vorträgt. Der geniale Erfinder ist der frühere Maler Aristide Poignard, und die Bürgerin nennt sich Fleurette Bouchard. Sie war in den Tagen des Tyrannen Tänzerin an der Oper und dann eine der gefeiertsten und gesuchtesten Damen des Palais Royal ... Bürger, auf nach der Place Grève! ...«
Auguste Rodeur ließ das Zeitungsblatt sinken und starrte vor sich hin.
»Nun, was sagen Sie dazu, Herr Rodeur?« fragte Frau Labiche.
Der Dichter gab keine Antwort. Er lächelte nur trübe.
»Das Brot in Paris ist teuer, meine liebe Frau Labiche,« brachte er endlich hervor ... und seine Worte klangen wie eine Entschuldigung für den armen Aristide Poignard. »Auch die Assignate der Republik wollen sauer verdient sein ... so oder so ... und einem Schüler der Watteaus und Bouchers kauft der Konvent keine Bilder ab ... Das ist alles, was ich dazu sagen kann.«
Aber in seinem Innersten machte er sich doch Vorwürfe, daß er, völlig in Anspruch genommen von seinen dichterischen Plänen und seiner Liebe zu Adrienne Sourieux, den Freund in Paris sich so ganz selbst überlassen hatte und so wohl mit daran Schuld trug, daß der auf diese Bahn geraten war.
Er erhob sich und griff nach Mantel und Hut.
Frau Labiche entging es nicht, daß er das Album von dem Bouletisch nahm und es in die Tasche seines tabakfarbenen Rockes steckte. Sie irrte also nicht, wenn sie annahm, daß er seine Schritte auch heute wieder wie fast täglich nach Louveciennes lenken werde.
»Und wie steht es mit dem Befinden der Frau Sourieux, Herr Rodeur?«
»Ich danke Ihnen, Frau Labiche, leider nicht zum besten. Sie haben recht mit Ihrer Annahme, daß ich den Abend bei den Damen in Louveciennes verbringen werde.«
Mit diesen Worten ging er.
Als Auguste Rodeur den Salon im Landhaus der Frau Tourlan in Louveciennes betrat, waren die Damen dort schon versammelt.
Sie warteten auf ihn mit dem Abendessen. Auch die kleine Flora war noch auf. Das Kind saß auf dem Teppich, der den Boden des Salons fast ganz bedeckte, und spielte mit einer Puppe, die ihr Auguste Rodeur zu ihrem Namensfest geschenkt hatte.
Flora hatte Zutrauen zu ihm, ja, sie liebte ihn wie einen Vater, da sie doch keinen leiblichen Vater mehr hatte. Das wußte Auguste Rodeur.
So sprang das Kind denn auch heute auf ihn zu, noch ehe er Zeit gefunden hatte, die Damen zu begrüßen.
»Du sollst mir das Bilderbuch zeigen, Onkel Auguste,« rief Flora.
»Ja, mein Herz!«
Der Dichter nahm das Kind auf die Arme und küßte dessen goldblonden Scheitel.
Es wollte gar nicht von ihm lassen. Mit sanfter Gewalt gelang es ihm, seinen Hals schließlich aus Floras kleinen Armen zu befreien.
Als das Kind in das Nebenzimmer lief, das Bilderbuch zu holen, das ihm Onkel Rodeur zeigen sollte, begrüßte er die Damen. Er führte die Hand der Madame Tourlan an seine Lippen, bewillkommnete Jacqueline, Adriennes Schwester, und ließ sich dann wie selbstverständlich an der Seite seiner »Fanny« nieder.
»Wie befinden Sie sich heute, Adrienne?« fragte er in zärtlichem Tone.
»Die Schmerzen haben gegen Abend etwas nachgelassen.«
Das Kind war mit dem Bilderbuch zurückgekommen.
Es fing an zu quälen und zu betteln, es wollte sich auf Augustes Schoß setzen, wollte die Bilder betrachten.
Madame Tourlan hielt aber solches für zudringlich. Sie wehrte der Enkelin, sie nahm das Kind an der Hand und wollte es aus dem Salon führen.
»Aber so lassen Sie es doch gewähren, Madame Tourlan,« bat Auguste Rodeur. »In diesem Alter soll man sie alle gewähren lassen. Die Jahre, in denen ein Bilderbuch noch unser ganzes Glück bedeuten kann, kommen nicht wieder. Den Schatz der Kindheit, Madame Tourlan, vermögen wir nie und nimmer zu heben, und wenn wir das Jahrhundert erreichen sollten.«
»Das sagen Sie, der Dichter, Herr Rodeur ... und ich dachte ...«
»Was dachten Sie, Madame Tourlan?«
»Ich dachte,« erwiderte Adriennes Mutter, »daß sich der Dichter und zwar er allein« ... sie deutete auf Flora ... »davon etwas bewahrt haben könnte, ja, daß er sich davon etwas bewahrt haben müsse, um wirklich ein Dichter zu sein, Herr Rodeur.«
»Und hatten mit diesem Gedanken nicht unrecht, Madame Tourlan. Wissen Sie, wenn ich an meinem Arbeitstisch in Versailles sitze, dann kommt es mir manchmal vor, als ob ich diese ganze Gegenwart in dem Schwelgen in Tönen, Farben und Worten vergessen könnte, dann spiele ich mit Gedanken und Worten und Reimen und Bildern und Vergleichen, Madame Tourlan. Dann bin ich in der Tat wie dieses Kind, dem ein Bilderbuch noch das Leben und die Welt bedeuten kann.«
Die Kleine hatte sich natürlich wieder an Onkel Auguste herangemacht. Sie hatte es durchgesetzt, sie saß auf seinem Knie, und Adrienne Sourieux lächelte beglückt vor sich hin.
Die Blicke der beiden Schwestern trafen sich.
Auguste Rodeur sah Jacqueline fragend an und sagte:
»Was denken Sie, Jacqueline? Warum betrachten Sie mich und das Kind, und warum wechseln Sie diesen verständnisinnigen Blick mit Adrienne?«
»O, das ist nicht schön von Ihnen, daß Sie mich das fragen, Herr Rodeur,« erwiderte Jacqueline und geriet sichtlich in Verlegenheit.
»Soll ich Ihnen sagen, was Sie gedacht haben, Jacqueline?« forschte er.
»Bitte!«
Adrienne erhob sich.
Infolgedessen brachen Auguste Rodeur und Jacqueline ihr Gespräch ab.
Der Dichter wandte sich wieder an Adrienne.
»Kehren die Schmerzen wieder?« fragte er besorgt.
»O nein! Aber ich muß nach der Bonne in der Küche sehen. Nicht wahr, Mama?«
»Ich will dich lieber begleiten,« sagte jetzt Frau Tourlan zu Adrienne.
Es hatte geradezu den Anschein, als ob Mutter und Tochter die Absicht hätten, Jacqueline mit Auguste allein zu lassen. Und wirklich, als die beiden draußen waren, wandte sich Auguste Rodeur an Jacqueline und sagte:
»Sie hatten mir etwas zu sagen, Jacqueline, etwas, was Sie vor den andern nicht sagen wollten, etwas, was Ihnen auf der Zunge lag, als ich vorhin Ihren Gedanken erriet.«
»Sie errieten meinen Gedanken?«
»Freilich.«
»Was habe ich also gedacht?«
»Als ich die kleine Flora so auf dem Schoße hielt, Jacqueline, da dachten Sie ... und das denken Sie immer ... daß sie einst ein anderer mit väterlichen Gefühlen und in väterlichem Stolze auf seinen Knien geschaukelt hat und daß dieser andere für immer dahingegangen ist.«
»Ja, das denke ich, und das dachte ich auch vorhin, Herr Rodeur.«
»Sehen Sie!«
»Und gerade darum ...«
Jacqueline machte eine lange Pause.
»Sie nehmen mir meine Freiheit nicht übel, Herr Rodeur, Mutter und ich wissen, daß Sie jeden Tag nur um Adriennes willen unser bescheidenes Haus in Louveciennes aufsuchen. Wir wissen, wie Sie an der kleinen Flora hängen ... Wir wissen auch, daß Adrienne in Ihren Oden die hervorragendste Rolle spielt ...«
»Nun, und ...«
»Und weil wir das wissen, Herr Rodeur, und weil wir Sie alle von Herzen lieb haben, dürfen wir Ihnen nicht verschweigen, wie es um Adrienne steht. Damit Sie sich keine trügerischen Hoffnungen machen!«
Einen Moment sah Auguste Rodeur Jacqueline erschrocken an.
»Was soll das heißen, wie es mit ihr steht,« fragte er dann in dumpfem Ton.
»Sie wissen, daß sie krank ist.«
»Das weiß ich.«
»Daß sie immer Schmerzen hat.«
»Ich leide mit ihr.«
»Sie wird das fünfundzwanzigste Lebensjahr nicht vollenden, Herr Rodeur, das glaubte der Arzt mir und der Mutter nicht vorenthalten zu dürfen.«
Auguste Rodeur bedeckte beide Augen mit den Händen.
Einen Moment herrschte tieft Stille. Das Kind glitt von seinem Knie herunter. Es schien, als ob es sich fürchte, fast sah es so aus, als habe es den Sinn von Jacquelines Worten begriffen.
»Ihr hättet es vor Flora nicht sagen sollen, Jacqueline.« ergriff setzt Auguste Rodeur zuerst wieder das Wort ... Ich ... ich ... ich ... mußte es!«
»Ich habe selbst schon vor Wochen mit Doktor Richard gesprochen. Er hat auch mir alles anvertraut, aber ich wollte Ihnen den Kummer ersparen.«
»Sie wußten es, und dennoch lieben Sie sie?«
»Gerade darum, Jacqueline! Wissen wir denn in diesen Tagen, wie lange wir leben werden? Wissen wir denn, ob wir das begonnene Jahr vollenden?«
»Das wissen wir freilich nicht.«
»Sehen Sie ... Und wenn ich Ihnen nun anvertraue, Jacqueline, was mir Arienne ist. Daß sie mir mehr ist, als mir Freundin oder Geliebte oder Braut oder Frau jemals auf dieser Erde sein könnten ... Daß sie mir gerade darum so viel ist, weil ich solches weiß.«
»Armer Freund!«
Jacqueline reichte Auguste Rodeur die Hand.
»Nennen Sie mich nicht arm, teuerste Schwester. Es ist ein unendlicher Reichtum, ein unfaßbarer, ein glorreicher, der sich in diesen Tagen des Blutes und der Tränen über mein unwürdiges Haupt ausgegossen hat. Mir ist es, als trüge ich eine unsichtbare Krone auf dem Kopf, unter deren Last ich zusammenbrechen würde, wenn ihr strahlender Glanz mich nicht aufrecht erhalten müßte. Paris und Frankreich und die Welt schwimmen in Blut. Und ich, ich sitze hier in Versailles, und Versailles ist so nahe bei Louveciennes. Ich wandele durch Griechenland und Italien an Adriennes Hand. Sie führt mich den Weg durch die Dichtung der Alten, Jacqueline, und sie und diese Dichter lehren mich, daß das Leben an sich jeden Wertes entbehrt. Und nicht nur sie und meine Dichter lehren mich das, sondern das lehrt mich vor allem ... diese Zeit!«
»Diese Zeit? Diese blutige Zeit?«
»Gerade sie, Jacqueline. Sie lehrt uns den wahren Wert des Lebens erkennen, indem sie das Leben wertlos macht. Sie spielt mit dem Stand, mit der Geburt, mit der Jugend, mit dem Besitz, mit der Schönheit, mit dem Talente Fangball, wie sie mit den Köpfen ihrer Bürger Fangball spielt. Aber, Jacqueline ... sie macht den Tod zum Gedicht.«
»Sie sind außer sich, Auguste Rodeur!«
»Bin ich das, bin ich das wirklich, Jacqueline? Oder scheint das Ihnen nur so? Wie über einen sammetweichen Teppich lautlos schreite ich in diesen Tagen beflügelten Fußes dahin. Goldene Äpfel scheinen mir trotz des Winters und des Todes an allen Ästen zu hängen, scheinen zu sprechen, Jacqueline: Brich uns und iß!«
»Sie sind ein Schwärmer!«
»Der bin ich, Jacqueline. Und wenn ich mein ganzes Leben betrachte, wenn ich die hoffnungslose Liebe betrachte, Jacqueline, die mir am Ende doch am Rande meines eigenen Grabes wie eine seltene Wunderblume blüht, dann ist es doch nur zu natürlich, daß ich ein Schwärmer sein muß, daß ich einer bin. Aus dem fernen Orient, wo meine Wiege an des Bosporus' blauen Fluten gestanden, führte mich mein Weg in dieses Frankreich, Jacqueline, in das Paris dieser einzigartigen und niemals wiederkehrenden Tage! Und mein Auge sah noch einmal all den unfaßlichen Glanz, ehe er für immer zusammenbrechen mußte und nur noch eine Volke Staubes und einen dunstigen Schleier aus Blut und Tränen hinter sich ließ. Und ich, ich lebe noch! Ich fühle, ich atme, ich dichte trotz allem noch, Jacqueline, obwohl Adriennes Tage nach den Worten des Arztes gezählt sein sollen, obwohl die meinen sicher gezählt sind!«
»Aber mein Freund!«
»Zweifeln Sie am Ende daran? Ich wollte, ich könnte manchmal zweifeln ... und dann wieder auch nicht. Manchmal kommt es mir aber vor, als ob ich wirklich zweifeln könnte, aber dann ...«
Er schwieg.
»Über dann?« fragte Jacqueline.
»Dann, Jacqueline ... dann faßt mich in seltsam schicksalsschweren Stunden ... eine unheimliche Lust ...«
»Was haben Sie vor?«
»Zittern Sie nicht. Ich habe gar nichts vor ... Es ist nur ein Wunsch, ein Gedanke, ein Gebet, das aufsteigt aus den tiefsten Tiefen meiner Seele und das mich zieht und zieht und zieht ... das dann aber schweigt, wenn ich mich in meine Schreibereien in meinem stillen Zimmer in Versailles versenke ...«
»Sie enthüllen mir da Fürchterliches, mein Freund!«
»Ahnen Sie denn, was ich meine?«
»Freilich, freilich ahne ich Entsetzliches, Herr Rodeur ... Auch Sie sehen nämlich so etwas wie einen Abglanz antiker Größe und römischer Erhabenheit in dem, was in diesen Tagen in Paris geschieht!«
»Freilich, Jacqueline, freilich sehe so etwas darin. Und darum ... aus Angst, aus feiger Furcht vor mir selbst und vor meiner Größe ... ja, lachen Sie nur, Jacqueline ... halte ich mich hier in Versailles verborgen ... denn wenn ich jetzt nach Paris ginge ... wenn es der Zufall wollte ... wenn mich ein Wink des Schicksals dorthin riefe, Jacqueline ... dann ...«
»Dann?«
»Dann würde ich die Straße nach Versailles und den Weg nach Louveciennes, den Pfad zum Frieden, den Pfad zur Dichtung schwerlich zurückfinden können, Jacqueline, dann würde sich das ereignen, was sich schon einmal in meinem Leben ereignet hat ...«
»Dann würden also auch Sie Partei ergreifen entweder Für oder Wider ... und auf wessen Seite Sie auch stünden ... das Ziel Ihrer Wallfahrt würde das gleiche sein!«
»Ja, das würde ich ... Und in jedem Falle, Jaqueline, würde das Ziel meiner Wallfahrt das gleiche sein ... der Revolutionsplatz!«
Entsetzt starrte Jacqueline den Dichter an.
»Und Sie ... Sie nennen das ... erhaben ... Auguste Rodeur?«
»Ja, ich nenne das erhaben, Jacqueline ... Wenn mein Blut siedet, wenn sie mich faßt, diese wilde, diese unbezwingliche Sehnsucht nach Paris, in solchen Momenten nenne ich das erhaben. Aber diese Momente verfliegen wieder, und wenn kein äußerer Umstand hinzukommt, dann schweigt diese Stimme in meinem Inneren. Dann scheint es mir vor meinem Arbeitstische in dem stillen Zimmer in Versailles, als hätte ich so viel zu tun und so viel zu schaffen, als hätte ich so viel Ewiges und Unsterbliches vor mir, daß ich mich und meine Zeit vergesse, und dann ... dann plötzlich wieder ... packt mich die Zeit und ruft in meinem Herzen: Auch du mußt nach Paris!«
»Und haben Sie auch mit Adrienne darüber gesprochen, Herr Rodeur?«
»Mit Adrienne ... nein, niemals, Jacqueline ... ihr könnte ich solches gar nicht sagen!«
»Und warum nicht? Weil Sie für ihr Leben fürchten, Herr Rodeur?«
»Ach nein, Jacqueline ... Daran hätte ich am Ende gar nicht gedacht. Ihr könnte ich es gar nicht sagen, weil Adrienne für mich das Ewige, weil sie für mich die Dichtung ... und weil das in Paris für mich das Zeitliche und nur das Wirkliche ist!« Ich habe Ihnen vorhin ruhig zugehört, als Sie von Adriennes Krankheit und von dem Urteil des Arztes sprachen. Ich habe auch schon vor Wochen dem Arzt selbst ruhig zuhören können, weil Adrienne für mich gar nichts Zeitliches, gar nichts Vergängliches bedeutet. Sie ist ewig, wie die Verse der Griechen, um die ich mich in heißem Kampfe mühe. Tod und Vergehen reichen nicht an Adrienne heran. Und aus diesem Grunde schweigt auch mein Wunsch in ihrer Gegenwart, der mich sonst lockt und lockt, wenn ich allein bin in meinem Zimmer in Versailles und wenn ich aufschauend von meinen Versen zur Besinnung, zur Erkenntnis des Gegenwärtigen komme, der Wunsch, der mich dann packt wie mit der Gewalt des Dämons und der mir in beide Ohren schreit: Mach' dich auf nach Paris! Sie bedürfen deiner! Dein Opfer fehlt! Dein Blut muß noch fließen, wie das der Besten deines Vaterlandes schon geflossen ist!«
Auguste Rodeur schwieg. Und Jacqueline wußte nicht, was sie ihm darauf erwidern sollte. Sie verstand ihn nicht. Sie hatte nur das dumpfe Gefühl, daß da in des Dichters Innerem sich ein Vorgang abspielen mußte, für den es keinerlei natürliche Erklärung gab. Daß das etwas war, was sich in Hunderten und Tausenden ihrer Zeitgenossen in diesen Tagen in Paris vollzog.
Aber was war es? Was konnte es sein? Die Wollust der Grausamkeit, der Triumph des Schmerzes, die Freude am Leiden, die Apotheose des Todes ... wie sollte sie das Unfaßbare nennen ... für das selbst der Dichter Auguste Rodeur keine Worte hatte!
So etwas mußte es doch am Ende sein!
Während der Dichter tief versenkt in seine Ideen und in diese Vorstellung des Leidens für die große Sache vor sich hinbrütete, rief sich Jacqueline so manches von dem, was sie in diesen letzten Monaten seit dem gewaltsamen Tode des Königs gehört hatte, ins Gedächtnis zurück. Vor ihrem geistigen Auge dehnte sich da plötzlich der furchtbare, jetzt mit dem Blut von Tausenden gedüngte Platz vor den Tuilerien, den sie einst in seiner königlichen Schönheit und Größe bewundert hatte, ehe dort die Säule der Freiheit und die Maschine auf dem Gerüste standen.
Sie hörte die Lieder der Verurteilten, die in der Conciergerie, im Luxembourg, in Saint Lazare aus den Kerkern erklangen. Sie sah sie selbst, diese Verurteilten beim Wein, beim Kartenspiel, in den Armen von Frauen und Mädchen, die gleich ihnen zum Tode verdammt waren. Sie sah, wie der Knecht des Henkers eintrat in den Saal der Verdammten, wie er sie beim Namen rief, vernahm ihr Ohr ... und voll schaudernder Bewunderung erblickte sie, wie sie sich jetzt erhoben von dem Kartenspiel, vom Glase Wein, von den Küssen junger Lippen, den Karren zu besteigen und den Nacken dem fallenden Beil der Maschine zu beugen, die ihr Lebensblut verspritzen sollte, als müsse das so, als könne das gar nicht anders sein ... wie sie gestern das Blut der Freunde und Leidensgenossen verspritzt hatte. Und wie erhoben die sich! ... Als ob es zu einem Spaziergang ginge, als ob sie das begonnene Spiel weiter und zu Ende führen, als ob sie die angebrochene Kanne Wein noch zu leeren hätten, als ob die Lippen, die sie soeben geküßt hatten, sich bei ihrer Rückkehr aufs neue für sie wölben würden.
So gingen die!
Und doch gab es keine Rückkehr, doch gab es kein Morgen, doch gab es kein Zuendespielen, kein Austrinken ...
Und dennoch gingen die so!
Es war unfaßbar!!
Der Zug der Karren, der nur das eine Ziel des großen Platzes vor den Tuilerien kannte, führte vor den Blicken Jacquelines einen wüsten Reigen auf. Auf den holprichten Wegen stießen die Karren mit ihren gefesselten Fahrgästen auf und nieder und sie zogen daher ein nicht endenwollender Strom und verschwanden endlich in einem blutroten Schleier, den diese Tage aus Sonne und Nebel über Paris gewoben hatten.
Sie starrte auf den noch immer vor sich hinbrütenden Dichter. Sie zweifelte in diesem Augenblicke nicht mehr daran: Auch für ihn würde diese Stunde des Taumels und der Begeisterung kommen, wenn das Schicksal, wenn der Zufall mit dem Rufe: »Auf nach Paris!« tückisch an ihn herantrat ... Und so war es am Ende gut, was der Arzt ihr und der Mutter über Adrienne und deren Krankheit gesagt hatte.
Das Kind saß schweigend auf dem Teppich des Zimmers. Es blätterte in seinem Buche, das ihm Onkel Auguste nicht zeigen wollte.
Da öffnete Madame Tourlan die Tür.
»Darf ich jetzt zum Essen bitten,« sagte sie ... und das klang wie eine Rückberufung in die Welt der Wirklichkeit.