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In dem Winkel, wo die Rue de Vaugirard mit dem Jardin de Luxembourg zusammenstößt, lag das kleine Café du Glaive. Dieses hatte Aristide Poignard schon seit einigen Wochen zu seiner Stammkneipe erhoben. Wenn er seinen »Dienst« im Torweg der Maison Duplay beendet und Chaumette Bericht erstattet hatte, traf er sich regelmäßig mit Fleurette an der Ecke der Rue Saint Roch und Saint Honoré. Arm in Arm traten dann die beiden die nächtliche Wanderung bis an die Grenze des fernen Faubourg Saint Michel an. In dieser Gegend kannte sie kein Mensch und dann ... der Blutgeruch, der aus dem nahegelegenen, nun zum Gefängnis der Republik umgewandelten Luxembourg aufstieg, wo die Hunderte den Morgen der Exekution erwarteten, war so recht etwas für Aristide Poignards überreizte Nerven.
Das Assignat über 20 Francs, das er an jedem Tage aus den Händen Chaumettes für seine Tätigkeit als italienischer Orangenhändler im Torweg der Maison Duplay erhielt, wanderte dann in die Tasche Lerouges. So nannten Aristide Poignard und die Bohémiens sowie die Damen des Palais Royal, mit denen er sich allnächtlich hier traf, kurzerhand den kugelrunden Pierre Puligne, der das immer flott gehende Geschäft in der Rue de Vaugirard betrieb. Denn der war eines Tages von dem Revolutionsplatz zurückgekommen und hatte eine mit dem Blut der Enthaupteten getränkte Serviette als Reklame in das Schaufenster des Café du Glaive gelegt ... und seitdem hieß er in aller Welt Mund: Lerouge.
Es war eine warme Nacht. Draußen im Jardin de Luxembourg prangten die Roßkastanien und der Flieder in vollem Flor. Lerouge hatte ein paar Tischchen aus dem Restaurant heraustragen lassen. Die standen nun auf der Gasse. Der Wind trieb den süßen Duft der blühenden Bäume und Sträucher herbei und der Atem des Frühlings schien sogar für Stunden den aus dem Luxembourg emporsteigenden Blutgeruch in der Fantasie der vor dem Café versammelten Gäste zu überbieten. Es war gegen 10 Uhr abends und man schrieb den 16. Germinal des Jahres II.
In dieser schönen und warmen Nacht hatte Lerouge für Unterhaltung seiner Gäste gesorgt. Eine Musikerbande gab ihre Weisen zum besten und infolgedessen drängte es sich bald um die wenigen Tische, so daß man kaum ein Plätzchen zu finden vermochte.
Das Künstlertrio, das Lerouge sich zu verschaffen gewußt hatte, bestand aus einem jugendlichen Violinspieler, einem Alten, der das Cello strich und einer Frau, deren weiche Sopranstimme eben durch die Milde des Frühlings hallte und sich an den zu Gefängnismauern gewordenen Wänden des Luxembourg brach.
Es war ein sentimentales Lied, das die junge Frau da unter den lebhaften Beifallsbezeugungen ihres Publikums zum besten gab. Auch Aristide Poignard, an den sich Fleurette schmiegte, gefiel dieses Lied. Entsprach es doch so ganz dem Geist jener Tage in seiner fürchterlichen Mischung von Gefühlsüberschwang und brutaler Grausamkeit. Die Sängerin wußte sogar so etwas wie Seele in ihr Lied zu legen, zu dem der schwarzgelockte Junge und der kahlköpfige Alte ... nach der Ähnlichkeit zu schließen ... offenbar ihr Bruder und ihr Vater ... unentwegt die Geige und das Cello strichen.
»Das Lied könnte Auguste Rodeur zum Verfasser haben,« sagte da Aristide Poignard zu Fleurette und schlang zärtlich seinen Arm um die Hüften des Mädchens.
»Wer ist das, Auguste Rodeur,« fragte Fleurette.
Die jungen Leute und die Dirnen, die mit ihnen am Tisch saßen, lachten. Sie erzählten sich Zoten und hatten auf die Worte des Malers und die Frage des Mädchens überhaupt nicht geachtet.
»Ach so, du hast ihn ja nicht gekannt, Fleurette,« entschuldigte sich Aristide Poignard. »Es war ein Jugendfreund aus meinen besseren Tagen, als ich noch den Pinsel im Park von Versailles führte und noch nicht in den Diensten dieser einen und unteilbaren Republik stand.«
Er brach in ein krampfhaftes Lachen aus und spie dann verächtlich vor sich hin.
»Noch eine Flasche Beaujolais, Lerouge!«
»Zu dienen, das ist die dritte, Bürger Poignard!« Damit es bei der Rechnung nicht zu Differenzen kommt!«
»Schön, die dritte.«
Aristide Poignard wandte sich wieder an Fleurette.
»Ich habe von dem Dichter Rodeur lange nichts mehr gehört. Wer weiß, ob er überhaupt noch unter den Lebenden weilt. Das kann man doch heutzutage von keinem Menschen so ohne weiteres annehmen, wenn man ihn ein paar Wochen nicht gesehen hat.«
»Freilich nicht, Aristide,« antwortete Fleurette.
Während die Geige seufzte und das Cello klagte, sang die junge Frau jetzt die zweite Strophe ihres Liedes:
»Was bindet mich an meine Kleine,
An ihrer Wangen frische Glut,
Was glänzt in ihrer Äuglein Scheine?
Das Blut, das Blut!«
Aristide Poignard war plötzlich ganz ernst und nachdenklich geworden. Der blutfarbene Beaujolais stand schon eine ganze Weile unberührt vor ihm im Glase und Fleurette sah ihn besorgt an.
»Weißt du, wo ich hinmöchte, Fleurette,« sagte er da ganz unvermittelt.
»Wohin, Aristide?«
»Hinüber in den Luxembourg. Würdest du mich begleiten?«
»Aber jetzt in der Nacht, Aristide ... und dann ...«
»Was hast du für Bedenken, Fleurette?«
»Ich bin abergläubig, Aristide, wie wir Mädels aus dem Palais Royal schließlich doch alle abergläubig sind. Ich halte es für besser, die Berührung mit dem Luxembourg und dem Saint Lazare in diesen Tagen zu meiden!«
»Du fürchtest dich also, Fleurette?«
»Ich fürchte mich nicht. Ich habe mich vor nichts mehr zu fürchten, Aristide, nur für dich, mein Freund, denn du mußt der Kunst und der Zukunft Frankreichs erhalten bleiben!«
Aristide Poignard lachte bitter auf.
»Kunst und Zukunft Frankreichs? Glaubst du im Ernst, Fleurette, daß es für Frankreich noch eine Kunst und eine Zukunft geben kann?«
Dann leerte er sein Glas in hastigem Zug.
Die junge Frau begann eben, von den beiden Musikern begleitet, die dritte Strophe ihres Liedes zu singen. Melancholisch wie das Seufzen der lauen und milden Frühlingsluft, die den Duft aus dem blühenden Jardin de Luxembourg herüberwehte, zogen die Töne und Worte durch die nächtlich stille Rue de Vaugirard:
»Was schreibt die Freiheit auf die Fahnen,
Was bleibt der Menschheit letztes Gut,
Was führt das Volk in neue Bahnen?
Das Blut, das Blut!«
»Komm, Fleurette,« sagte da Aristide Poignard.
Er warf das Assignat über 20 Francs auf den Tisch und schrie:
»Ich will zahlen, Bürger Lerouge, hört Ihr, drei Flaschen Beaujolais. Ich halte es im Café du Glaive nicht mehr aus, der Name Eures Cafés gefällt mir nicht mehr, Lerouge!«
»Wie Ihr meint, Bürger,« erwiderte Pierre Puligny trocken und zog sich den Preis der drei Flaschen Beaujolais von dem Assignat ab, indem er Aristide den Rest in lauter Sousstücken herausgab, so daß der mit einem Schlag die ganze Tasche voll Kupfer hatte.
»Das Geld der Republik wiegt schwer,« meinte er lachend, »nachdem Gold und Silber längst zum Teufel gegangen sind, nicht wahr, Bürger Lerouge?«
»Mir sind die Assignate schon recht, Bürger, so lange die von denen da droben in Zahlung genommen werden. Euch nicht auch? Gehabt Euch wohl.«
Aristide Poignard und Fleurette schritten wieder Arm in Arm ... hinein in die blühende und duftende Nacht des Germinal dem schlafenden Luxembourggarten zu, in dessen Tiefe der zum Gefängnis gewandelte Palast stand.
Eine ganz weiche Stimmung war plötzlich über den Maler gekommen. Er dachte an seinen Freund und Jugendgenossen Auguste Rodeur und an den Brief, den er dem vor Wochen nach Versailles geschrieben und auf den er niemals eine Antwort erhalten hatte. Dann tröstete er sich wieder. Wohin hätte ihm Auguste Rodeur auch schreiben sollen? Der wußte ja gar nicht, ob er überhaupt noch in der Rue Saint Roch wohnte, zumal, da er ihm in diesem Brief Andeutungen über seinen neuen Beruf gemacht hatte.
Auch Fleurette fühlte sich plötzlich von der Stimmung des Malers angesteckt.
»Wollen wir uns nicht ein wenig hier auf die Bank setzen, Aristide,« fragte sie. »Die Nacht ist so schön. Es duftet hier so süß nach Flieder. Ich fürchte mich doch vor dem Luxembourg.«
»Wie du willst, Fleurette! Aber dann ... Ich muß mich nach ihm erkundigen!«
Fleurette sah Aristide voll Angst in die Augen.
»Das ist ganz ungefährlich, Fleurette, alle erkundigen sich unbehelligt nach den Namen derer, die in die Gefängnisse eingeliefert worden sind. Robespierre und der Wohlfahrtsausschuß machen durchaus kein Geheimnis daraus und die Verhandlungen des Revolutionstribunals sind öffentlich.«
»Wer ist denn dieser Auguste Rodeur?«
»Mein Freund, FIeurette, ein großer Dichter, wie ich ein großer Maler geworden wäre, wenn diese Revolution mir nicht einen Strich durch die Rechnung gemacht hätte. Jetzt bin ich nur der Agent eines Machthabers, wie hundert andere heutzutage Agenten sind. Und mit Chaumette dürfte es nicht mehr lange dauern, nachdem Hébert und sein Anhang dem großen ›Unbestechlichen‹ zum Opfer gefallen sind.«
Er lachte bitter und laut:
»Ein netter Name, der große Unbestechliche!«
Auf dem Kiese des Luxembourg wurden Schritte laut. Aristide Poignard und Fleurette horchten auf.
»Siehst du, man kann nicht vorsichtig genug sein,« mahnte Fleurette.
Es war eine Gruppe Bürger, die noch so spät des Weges daherkam. Sie alle trugen die rote Mütze mit der Trikolorenkokarde der Republik. Sie waren in eifrigem und lautem Gespräch begriffen, so daß Aristide und Fleurette jedes Wort zu verstehen vermochten.
Vor der Bank, auf der die beiden saßen, im Schatten einer blühenden Roßkastanie, die ihre roten Kerzen aufgesteckt hatte, machten sie halt.
»Ihr seid auf dem Revolutionsplatz gewesen, Bürger Riard,« vernahm da Aristide und Fleurette eine Stimme.
Es waren im ganzen vier Männer, die sich jetzt unter der Kastanie zu einer aufgeregt diskutierenden Gruppe vereint hatten. Riard stand in der Mitte, die drei andern umdrängten ihn im Halbkreis und suchten jedes Wort von seinen Lippen zu reißen.
»Freilich bin ich dagewesen. Die Sache hat erst um vier Uhr nachmittags im Luxembourg ihren Anfang genommen. Und sie hat lange gedauert, Bürger Fossé, das könnt Ihr mir glauben. Aber wie Männer sind sie gestorben, verlaßt euch darauf!«
»Erzählt, erzählt, Bürger Riard,« riefen die drei Zuhörer und auch Aristide Poignard und Fleurette spitzten die Ohren, damit ihnen kein Wort von Riards Erzählung entgehen sollte.
»Ich habe also der Exekution von Anfang an beigewohnt, Bürger Fossé, ich war pünktlich um vier Uhr im Luxembourg, als es losging. Die Sache hat mir höllischen Durst gemacht. Ich habe danach bei Vater Lerouge im Café du Glaive einen Schoppen gehoben!«
»Also wie war's im Luxembourg?«
»Das Hauptinteresse richtete sich natürlich auf Danton!«
»Selbstverständlich, er war ja der Held des Tages!«
»Wißt Ihr, was Danton zu dem Friseur sagte, als der ihm ratsch, ratsch die Locken von seinem geweihten Haupte schnitt?«
»Was?«
»Als der Friseur mit seiner Arbeit fertig war, trat Danton vor den Spiegel und meinte: Für die Kaffern, die in den Straßen gaffen, bin ich so immer noch gut. Vor der Nachwelt werden wir in einem anderen Aufzug erscheinen, Freunde!«
»Das hat er gesagt?«
»So erzählte der Friseur selbst, als er aus dem Zimmer trat, in dem die Toilette stattgefunden hatte. Ich habe es mit meinen eigenen Ohren gehört, Fossé!«
»Und weiter?«
»Mit Camille Desmoulins soll es furchtbar gewesen sein!«
»Der arme Kerl!«
»Das sage ich auch ... Er konnte noch immer nicht daran glauben, daß ihn der große ›Unbestechliche‹ wirklich hatte fallen lassen. Man mußte ihn niederschlagen, ehe man ihn fesseln und frisieren konnte.«
»Pfui Teufel,« rief da Fossé mit erregter Stimme und Aristide Poignard, der reglos an Fleurettes Seite auf der Bank gesessen hatte, wandte sich jetzt plötzlich in tiefstem Ekel ab.
Aber die drei Zuhörer ließen dem Bürger Riard keine Ruhe. Sie wollten von diesem Augenzeugen, der dem Tod des gewaltigen Danton beigewohnt hatte, alles wissen. Dieser Mann, dieser Danton war so lange der Abgott von Paris und von ganz Frankreich gewesen. Der Mann mit dem hohen Wuchse und der gewaltigen Statur, der wunderbaren Rednergabe, dem beißenden Witze und dem scharfen Verstande, lauter Eigenschaften, die ihn zum Herren dieser Revolution geschaffen zu haben schienen, die die Bewunderung der Massen immer wieder aufs neue erzwungen hatten ... und nun auch er?
Riard fuhr fort:
»Als sie Camille Desmoulins endlich gefesselt hatten, bettelte er um die Locke, die ihm seine Lucile von ihrem Haar abgeschnitten und in das Gefängnis geschickt hatte. Danton erwies ihm diesen Liebesdienst. Er hob die Locke auf, die zwischen seine eigenen abgeschnittenen Haare auf die Erde geglitten war, und da beruhigte er sich.«
»Die Bestien!« knirschte Fossé.
Und auch die anderen beiden Bürger, ein Sattler namens Jaunâtre und der Bäckermeister Poirier aus der Rue Saint Denis ballten im Grimm gegen die Bluthunde die Hände zur Faust.
»Als er die Locke seiner Lucile zwischen den Fingern seiner gefesselten Hände hielt, ward er still.« So fuhr Riard fort. »Und denkt euch. Sie hatten nur einen einzigen Karren für die 14 Verurteilten. Das war eine saubere Fahrt!«
»Waren viel Leute auf dem Platz, Bürger Riard, als der Karren den Hof des Luxembourg verließ,« forschte jetzt der Bäckermeister aus der Rue Saint Denis.
»Ein Haufe! Ein gewaltiger Haufe, sage ich euch! Und dieser Haufe schwieg, als er Dantons ansichtig wurde. Niemand wagte zu rufen. Es herrschte Totenstille unter dem Haufen. Nur ein paar Lumpenhunde und eine Handvoll versoffener Weiber waren noch zusammengetrommelt worden, die brüllten auch einem Danton ins Gesicht. Camille Desmoulins hielt auf der Fahrt eine Rede.«
»Eine Rede, was sagte er, Bürger Riard?«
Er schrie dieses Volk an:
»Edles Volk! Unglückliches Volk! Irregeleitetes Volk!« ... so rief er, »du wirst getäuscht! Du wirst zugrunde gerichtet. Man schleppt deine besten Freunde auf das Blutgerüst. Erkennt ihr mich nicht? Rettet ihr mich nicht? Ich bin Camille Desmoulins! Mir verdankt ihr den 14. Juli! Ich habe euch zum Kampf gegen den Tyrannen nach der Bastille geführt. Wißt ihr das wirklich nicht mehr? Ihr tragt die Kokarde der Republik! Ich habe sie Euch geschenkt!« ... So stand er auf dem Karren, so schrie er auf dem ganzen Wege, Freunde! ... Von dem Luxembourg bis zu dem Revolutionsplatz! Er wollte seine Fesseln zerreißen, aber er zerriß nur seinen Rock und sein Hemd, so daß er fast nackt mit seiner knochigen und sehnigen Büste vor den Augen des Pöbels stand.«
»Und man machte keinen Versuch, ihn zu befreien?«
»Keine Hand regte sich, das Volk ist ganz apathisch geworden, Bürger Fossé, es kümmert sich eben um nichts mehr, es läßt den großen ›Unbestechlichen‹ schalten und walten ... Nur die Lumpenhunde, die man gemietet und bezahlt hatte, nur der Haufe versoffener Weiber antwortete auch Camille Desmoulins mit Schimpfworten und wütendem Hohngelächter. Endlich beruhigte ihn Danton, der an seiner Seite auf dem Karren saß. »Schweig, rief der mit seiner gewaltigen Stimme, laß die Hundsfotte laufen!«
So kam man vor das Haus Duplays, vor die Wohnung des großen »Unbestechlichen«!
»Ich bin gespannt, was sich in unserem Torweg ereignet hat,« sagte Aristide Poignard zu Fleurette, die sich, an allen Gliedern über die Erzählung Riards zitternd, fest an ihn schmiegte. »Es war doch heute nach vier Uhr nicht möglich, dort mit Orangen zu handeln, so voll gedrängt mit Neugierigen war die Straße.«
»Und gab es einen Zwischenfall vor der Maison Duplay,« fragte jetzt Fossé.
»Als der Karren herangerattert kam, schloß man droben die Läden. Es wurden Stimmen laut: ›Es lebe Robespierre!‹ ... aber der ›Unbestechliche‹ zeigte sich nicht. Ein Weib, das in dem Torweg des Hauses stand, soll erzählt haben, daß er in die Hinterzimmer geflüchtet sei, wo man die Schreie der Menge nicht hätte hören können!«
»Der Feigling,« rief da der Bäckermeister Poirier.
»Das unterschreibe ich,« sagte da Aristide Poignard zu Fleurette.
»Sei doch vorsichtig, Aristide, ich bitte dich, sei doch vorsichtig!«
Aristide Poignard lachte und spie dann wieder einmal kräftig vor sich hin.
Die Gruppe der Bürger ließ sich durch das Pärchen auf der Bank, das sie schon lange bemerkt hatte, durchaus nicht irre machen. Es kamen so viele Liebesleute auf den Bänken im Jardin de Luxembourg zusammen und nun gar in einer warmen und schönen Nacht im Monat Germinal.
»So kam man denn endlich vor die Maschine,« fuhr Riard jetzt fort.
Die Augen der Bürger waren weit aufgerissen, wie immer in diesen Tagen die Augen aller, auch die der Friedfertigsten, wenn von der Blutmaschine die Rede war.
Durch den Kopf Aristide Poignards zog da das Lied, das die junge Frau vorhin vor dem Café du Glaive gesungen hatte. Unwillkürlich summte er leise vor sich hin:
Wer schreibt die Freiheit auf die Fahnen?
Wer bleibt der Menschheit letztes Gut?
Wer lenkt die Welt in neue Bahnen? ...
Das Blut, das Blut!
Je dramatischer sich seine Erzählung gestaltete, desto lauter erhob der Bürger Riard seine Stimme.
»Hérault de Séchelles betrat als erster das Schafott! Ich sage Euch, Bürger, er näherte sein Gesicht dem Gesicht des großen Danton, als ob er ihn küssen wolle. Aber seine gefesselten Hände hinderten ihn daran, den Freund zu umarmen. Der Knecht des Henkers gab ihm einen Stoß. Da vernahm man Danton: »Rindvieh, unsere Lippen werden sich trotz allem finden, wenn du erst unsere Köpfe in deinen Korb mit den Sägespänen schmeißest!«
»Dem hat er es aber gegeben,« jubelte da der Bäckermeister Poirier aus der Rue Saint Denis und die andern beiden rieben sich vergnügt die Hände.
»Ich kann das nicht mehr mit anhören, Aristide,« jammerte Fleurette. »Seit wann bist du denn weichherzig geworden, mein Täubchen, das war doch sonst nicht Sitte bei den Damen im Palais Royal. Hast du denn die Rolle, die du selbst bei Rose Lacombe gespielt hast, schon wieder vergessen?«
Beschämt senkte Fleurette den Kopf. Sie errötete vor Aristide Poignard, wenn sie daran dachte, daß auch sie die Stunde höchster materieller Not dazu vermocht hatte, unter die Fahne einer Rose Lacombe zu treten, die der Sturm der Revolution jetzt längst vom Erdboden weggefegt hatte, die jetzt Gott wußte, in welcher Gosse von Paris ihren besudelten Leib um ein paar Sous einem jeden preisgab.
»Aber auch Camille Desmoulins fand sich wieder,« berichtete Riard weiter. »Er hielt die Locke seiner Lucile zwischen den Fingern, betrachtete die Maschine, von der gerade das Blut seines Freundes Hérault de Séchelles troff, und sagte: Das ist also das Ende des ersten Apostels der Freiheit! Aber die Bluthunde, die zu meinen Mördern geworden sind, werden mich nicht lange überleben! Da fiel sein Haupt und nachdem sie so dreizehn geköpft hatten, kam als letzter Danton selbst an die Reihe.«
»Was tat er?«
»Was sagte er?«
»Wie benahm er sich?«
Die Fragen aus dem Munde der Riard Zuhörenden überstürzten sich. Auch Aristide Poignard ließ jetzt alle Vorsicht beiseite. Fleurette an der Hand, erhob er sich von der Bank und trat an die Gruppe der Bürger heran.
Die erstaunten auch nicht weiter.
»Nicht wahr, das wollt Ihr auch wissen, Bürger,« sagte Riard ganz einfach. »Wer wollte das nicht von einem Augenzeugen wissen, wie Danton gestorben ist!«
»Freilich will ich das wissen, Bürger!«
Riard warf sich in die Brust, als ob er selbst ein Teil an Dantons Heldentode hätte, und sagte:
»Er sah aus, sage ich euch, so stolz und so groß, wie er niemals auf der Tribüne des Konvents ausgesehen hat! Verächtlich betrachtete er, sich nach rechts und nach links wendend, das zu Füßen des Blutgerüstes versammelte Volk. Nur einmal wurde er schwach. Es schien, als denke er an seine junge Frau, die ihm doch eben erst angetraut war! Doch dann raffte er sich wieder zusammen. Er faßte den Henker scharf in das Auge und befahl dem: ›Du wirst meinen Kopf dem Volke zeigen, es ist der Mühe wert, mein Freund! ...‹«
»Und was tat der Henker?«
»Selbst er vermochte sich einem Befehl Dantons nicht zu entziehen. Er folgte ihm. Er suchte seinen Kopf unter den vierzehn Köpfen, die seinen Korb mit den Sägespänen bis zum Rand füllten, hervor, hob ihn in die Höhe und machte den Rundgang um das Schafott. Er zeigte ihn allem Volke, wie man ihm einst den Kopf Louis Capets und den der Österreicherin gezeigt hat.«
»Die Hyänen des Konvents an der Spitze, jubelte alles ... und alles klatschte in die Hände ...!«
»Komm, Fleurette!«
Aristide Poignard zog das Mädchen in das Dunkel des Jardin de Luxembourg.
Riard rief hinter den beiden her:
»Ist es Euch übel geworden, Bürger, Ihr könnt wohl das Blut nicht gut vertragen. Ihr habt wohl keine Konstitution für die Tage Maximilien Robespierres, mein Freund?«
Aristide erwiderte nichts.
Er war mit Fleurette bereits im tiefen Schatten eines der Seitenwege des Gartens verschwunden und ging jetzt geraden Schrittes auf das Palais zu, in dessen Vorhof man die Wache der Nationalgarde untergebracht hatte.
Er trat an den Posten heran.
»Kann ich den Wachhabenden sprechen, Bürgersoldat,« fragte er den Nationalgardisten.
»Gewiß könnt Ihr das, Bürger, tretet nur ein!«
Zusammen mit Fleurette betrat jetzt Aristide Poignard das Wachzimmer des Luxembourg.
Auf den Bänken an der Wand schliefen langausgestreckt die Soldaten und schnarchten in gesundem Schlummer. Eine einzige Öllampe erhellte den düsteren Raum, in dessen Mitte ein grob zusammengezimmerter Tisch mit glattgehobelter Eichenholzplatte stand.
Vor diesem saß der Wachhabende und las in einem Buch.
Voll Neugier trat Aristide an ihn heran und sah ihm über die Schulter. Es war der Emile des Rousseau, den der Unteroffizier der Nationalgarde da las.
»Womit kann ich Euch dienen, Bürger,« fragte der höflich.
»Ist es erlaubt, die Listen der Eingelieferten durchzusehen, Bürgersergeant,« forschte Aristide Poignard.
»Gewiß ist das erlaubt, Bürger! Sucht Ihr eine bestimmte Person?«
»Ja!«
»Wie heißt diese Person, Bürger?«
»Darf ich die Listen nicht selbst durchsehen?«
»O ja ... aber die Listen sind umfangreich.«
»Ich bitte um den Buchstaben R.«
»Es handelt sich um die letzten vier Wochen?«
»Um die letzten vier Wochen, Bürgersergeant!«
Der Wachhabende trat vor ein Regal, das an der einen Wand der Stube angebracht war und dessen Gefächer bis oben hinauf von Papieren strotzten. Einem dieser entnahm er ein in blaue Pappe gebundenes Aktenbündel und sagte: »Der Buchstabe R, Bürger ... vom 15. des Monats Ventose des Jahres II bis zum 15. des Germinal.«
Aristide Poignard suchte den Namen des Freundes in dieser Liste, während Fleurette ihm über die Schulter sah.
Das Mädchen entdeckte den Namen zuerst.
»Da steht es in der Tat, Aristide,« sagte sie mit zitternder Stimme.
Und Aristide Poignard las:
Auguste Rodeur, angeblich Publizist aus Versailles, eingeliefert am 17. des Ventose wegen Verdachts der Begünstigung des Girondisten Marie Josephe Théophile Tourlan auf Veranlassung des Agenten Duchèsne und des Schreibers Silvain Parmentier.
Dieser Vermerk in der Liste trug die Nummer 8963.
Aristide wandte sich an den Sergeanten, der sich schon wieder in die Lektüre des Rousseau versenkt hatte.
»Und wißt Ihr, Bürgersergeant, ob sich die Nummer 8963 noch im Luxembourg befindet oder ob über diese Nummer schon verhandelt worden ist?«
»Steht nichts darüber in der Liste?«
»Nein, Bürgersergeant.«
»Welche Nummer sagtet Ihr, Bürger?«
»8963.«
Der Wachhabende erhob sich. Er nahm einen dicken Folianten aus dem untersten Gefach seines Regals, schlug diesen auf und las:
»Befindet sich nicht mehr im Luxembourg.«
»Und wo sonst, Bürgersergeant?« fragte Aristide Poignard.
Es war ihm nicht möglich, den Ton des Schreckens, den seine Stimme da plötzlich annahm, völlig zu verbergen.
»Wo denn sonst?« wiederholte er noch einmal.
»Man hat ihn abgeführt.«
»In die Conciergerie?« stammelte Aristide.
»So rasch arbeitet Fouquier Tinville nicht, Bürger! Nach Saint Lazare, der Luxembourg ist überfüllt, wir haben hier keinen Platz mehr!«
»Ich danke Euch, Bürgersergeant!«
»Bitte sehr. Wir haben strengste Weisung von Fouquier Tinville, keinem Bürger die Auskunft zu weigern, die Republik kennt keinen Hinterhalt, sie dient der Sache der Freiheit und der Gerechtigkeit ohn' Ansehn der Person und ihre Wege liegen vor jedem offen.«
Der Bürgersergeant grüßte und Aristide entfernte sich zusammen mit Fleurette.
Für heute war es zu spät, um noch den weiten Weg hinaus nach Saint Lazare anzutreten, wo sich also der Freund befand. Morgen in aller Frühe würde er dort sein und sich mit größter Vorsicht nach ihm und seinem Schicksal erkundigen. Wie war das wohl alles gekommen? Standen sein Brief und Augustes Verhaftung in einem inneren Zusammenhang? Hatte nicht der Wachhabende etwas von dem Girondisten Tourlan gesagt und davon, daß Rodeur der Begünstigung dieses Mannes verdächtig erklärt worden war?
Sinnend schritt Aristide Poignard durch den dunklen und jetzt totenstillen Jardin de Luxembourg an der Seite Fleurettes dahin. Der morgige Tag würde ihm Aufklärung bringen. Voll Ungeduld erwartete er diesen.
Sie hatten das Café du Glaive wieder erreicht. Bei Lerouge brannte noch immer Licht, obwohl die Tische draußen in der Rue de Vaugirard verschwunden waren. Es war schon kühler geworden und auch die Musikerbande hatte sich aus dem Staube gemacht. Die Stimme der jungen Frau klang nicht mehr an Aristides Ohr, aber im Geist hörte er noch immer diese Stimme und das seltsame Lied mit dem stets wiederkehrenden Refrain: Das Blut, das Blut!
Als ob das ganz selbstverständlich sei, gingen sie wieder in das Café. Wie manche Nacht hatten sie in den letzten Wochen, bis der Morgen graute, bei Lerouge gesessen! Das Café war beinahe leer, nur in der einen Ecke auf dem schmierigen Kattunsofa, das einmal bessere Tage gesehen haben mochte, unter dem erblindeten Wandspiegel, dessen vergoldeter Rahmen seinen Glanz aus den Tagen des Tyrannen längst verloren hatte, saßen noch drei grell geschminkte Dirnen des Palais Royal, drei alte, die keine Kunden gefunden hatten.
»Das ist ja Amélie ... Die war auch einmal Sängerin in einem Variété,« sagte jetzt Fleurette.
Aristide hörte nicht weiter auf sie.
In der entgegengesetzten Ecke des Cafés nahm er Platz und bestellte für sich und Fleurette noch eine Kanne Tee.
Dann träumte er vor sich hin. Über Auguste Rodeur, über die Oden des Freundes und über die eigene Malerei. Über die Vergangenheit und die Zukunft Frankreichs! Das alles wirbelte samt der blutigen Erzählung des Bürgers Riard im Jardin de Luxembourg durch seinen müden Kopf.
Fleurette lehnte sich an seine Schulter und schlief bald ein.
Da ging die buntgemalte Alte, die Fleurette vorhin als Amélie vom Variété bezeichnet hatte, an das Spinett, das neben dem Kamin in Lerouges Café du Glaive stand. Sie schlug ein paar Takte an, probierte das Lied, das die junge Frau an diesem Abend draußen in der Rue de Vaugirard gesungen hatte und sang die Strophe, die letzte, die Aristide Poignard entgangen war:
»Was senkt die Liebe in die Herzen,
Was leiht den höchsten Opfermut,
Was setzt ein Ende allen Schmerzen?
Das Blut, das Blut!«
Amélie sang schlecht. Sie kannte das Lied noch nicht und ihre Stimme war ausgeschrien.
Der Kopf Aristide Poignards sank schwer herab. Da trat Lerouge aus der Küche kommend in das Café und trieb die Dirnen auf die Gasse.
»Fertig, Schluß,« sagte er, »hier findet Ihr doch keinen mehr, geht in den Luxembourg, dort hat's Bänke.«
Die Dirnen gingen ohne ein Wort des Widerspruchs. Lerouge löschte die Lampe.
Der Bürger mit dem Mädchen, der die Assignate in der Tasche hatte, mochte ruhig hier weiter schlafen. Es war nicht das erstemal. Und durch den Traum Aristide Poignards ging der Refrain des heute gehörten Liedes wie das geheime Weben und Wehen seiner Tage: Das Blut, das Blut!