Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Buchschmuck

Zweites Kapitel.

Ein von den milden Strahlen der scheidenden Sonne verklärter Oktobertag folgte dem sechzehnten. Als erglänze er in den Augen der Liebe, so freundlich erschien er. Er spiegelte sich wieder in den künstlichen Wasserwerken und Seen des Wunderbaus von Versailles, tauchte die weißen Marmorgruppen des Parkes in goldene Tinten und ließ die sterbenden Blätter der hohen Ulmen aufflammen in lohendem Gelb.

Es war gegen Abend. Die Schatten der Bäume und Götter streckten sich länger und länger.

Da erhob sich der Dichter Auguste Rodeur, der die Stunden dieses wundersamen Nachmittags auf einer Bank unter der Marmorgruppe der jagenden Artemis verträumt hatte, und ging langsamen Schrittes durch die große Allee. In der weiten Runde des von den Königen Frankreichs verlassenen Schlosses war in dieser Abendstunde des der Hinrichtung der Österreicherin folgenden Tages kein Laut zu vernehmen.

Nur das bange Heulen eines Hundes, der im Hofe eines der Gärtnerhäuser von Trianon an der Kette lag, klang aus der Ferne klagend an Auguste Rodeurs Ohr.

Sonst war nichts zu vernehmen. Das Laub, das in dichten Massen von den herbstlichen Bäumen gefallen war, dämpfte Auguste Rodeurs Schritt. Ihm kam es vor, als ginge er hin über einen goldenen Teppich direkt in den Strahlenglanz des abendlichen Himmels hinein.

Er war ein junger Mann Mitte der zwanzig. Sein bartloses Gesicht eher häßlich als hübsch. Schon lichtete sich das kastanienbraune Haar auf seinem Scheitel. Die wulstigen Lippen, die starke Nase, das scharf nach vorn gebogene Kinn verliehen ihm den Ausdruck der Sinnlichkeit, die sich indes in ihm mit eisenharter Energie vermählt zu haben schien. Aber die außergewöhnlich hohe Stirn und die blitzenden, lebhaften Augen bildeten eine Krönung, redeten eine nur allzu deutliche Sprache und verrieten, daß Auguste Rodeur auch ganz anderen Dingen als dem Kitzel des Gaumens und dem Geplänkel der Liebe zugänglich war.

Im Gehen träumte er vor sich hin. Seine Lippen bewegten sich. Es hatte den Anschein, als spräche er mit sich selber. Und in der Tat. Es waren Verse, die von den Lippen Auguste Rodeurs kamen, Verse, die er in dieser Stunde mit seinem Elfenbeincrayon in das Album eingetragen hatte, das er eben bei seinem Spaziergang in der Rechten trug.

Nach ein paar Schritten schwenkte Auguste Rodeur von der großen Allee ab und bog in einen Seitengang des Parkes ein.

»Seid Ihr es, Poignard?« rief er plötzlich.

Der Maler, der hier unter einem flammend roten Ahorn vor seiner Staffelei stand und an einem Bild arbeitete, schaute ärgerlich auf.

»Ach, Ihr seid es, Rodeur!«

»Ja, ich bin es.«

Auguste Rodeur war vor die Staffelei getreten. Mit den Blicken des Liebhabers musterte er das Bild des Freundes. Dann schüttelte er den Kopf.

»Wieder eine Nymphe, die Ihr in den grünen Dämmer des Parkes von Versailles stellt, Poignard! Die Tage von Versailles sind dahin, mein Bester! Wie oft habe ich Euch nicht gesagt, daß Ihr solches nicht mehr malen sollt! Das blutige Morgenrot einer neuen Zeit ist in Paris längst aufgegangen.«

»Und wenn ich es dennoch male?«

»Dann malt Ihr es zu Eurem eigenen Schaden. Ihr werdet auch nicht einen Kunsthändler in ganz Paris ausfindig machen, der Euch solch ein lausiges Assignat dieser famosen Republik für Eure Leinwand gibt.«

»Dann male ich es eben für die Katz',« lachte Poignard.

»Wenn du Lust zum Verhungern hast, Bursche, dann nur zu, dann nur en avant im Stile des Passé. Mir soll es recht sein. Um deinetwillen habe ich mir mehr als einmal die Kehle wund geredet, mein bester Poignard! Aber ich tue es noch einmal. Nehmt Euch ein Beispiel an David. Der versteht sein Handwerk.«

»Der Schmierfink! Dieser Cato in der Toga, dieser Bramarbas mit seinen faulen Helden von Chateauvieux,« schimpfte nun Poignard wacker drauf los. »Das nennt sich Kunst, mein Bester ... Watteau und Boucher ...«

Auguste Rodeur lachte aus vollem Halse.

»Watteau und Boucher ... ha, ha ... Man wird ihr Geschmiersel aus den Rahmen schneiden und es den Chiffoniers um ein paar Sous verkaufen, du ahnungsloser Engel du ... indessen der Konvent die Gemälde eines David für die Galerie der Republik erstehen wird. Hast du Lust zu verhungern, hm? Hast du etwa heute schon ein Filet gegessen, hm? ... Und dabei werden die Fleischpreise immer höher trotz des Maximums und trotz der strengsten Vorschriften des Konvents. Kaum ist mehr ein Laib Brot in Paris für Geld und gute Worte zu haben. Die Armee frißt uns noch auf, und da soll für die Kunst noch was übrig bleiben. Nee, mein Bester! Nymphen, wer kauft Nymphen? Leben wir etwa noch in den Tagen des Tyrannen ... oder haben wir das alles nur geträumt? Hm? ... Male die Ermordung Julius Cäsars, male die Mutter der Gracchen, male Harmodios und Aristogiton, die Tyrannentöter, und du wirst Erfolge haben ... aber bitte, bitte, keine Nymphen, keine gepuderten Marquisen und Duchessen, wenn dir Leib und Leben lieb sind, wenn du nicht Lust hast, deinen Magen in einen Rauchfang zu hängen ... oder gar ... du, man spricht im Ernst davon, eine zweite Maschine aufzustellen, Freund, weil die eine auf dem Revolutionsplatz zu viel Arbeit hat. Die Herren Henker müssen die Zahl ihrer Gehilfen verdoppeln. Hast du nicht auch schon solch ein seltsame Jucken am Halse verspürt? Und dabei malst du Nymphen! Bist du denn total von Sinnen, Freund? Manchmal wache ich des Nachts plötzlich mit diesem unheimlichen Jucken auf, und dann fällt es mir ein, daß ich ja noch in meinem Bett liege und daß alles nur eitel Traum gewesen ist!«

»Du bist eben Dichter, Rodeur, das kommt alles von deiner ausschweifenden Phantasie. Ich gehe jede Wette ein, daß du den ganzen Nachmittag wieder das heute unbezahlbare Papier mit deinen Versen entwertet hast. Das gilt jetzt so viel wie die Assignate, die man von England in Marseille eingeschmuggelt hat. Auch nicht einen roten Pfifferling gelten deine Verse, Rodeur!«

»Ich danke!«

»Bitte, bitte, das war nur die Quittung für deine gute Meinung von dem Schüler des Watteau und Boucher. Übrigens, Fouquier Tinville ...«

»Was ist mit Fouquier Tinville, dem Henkersknecht?« rief jetzt Rodeur in aufgeregtem Ton.

»Man erzählt, daß er die Anklageschrift gegen die Gefangenen jetzt ausgearbeitet hat, daß der Prozeß in diesen Tagen zur Verhandlung kommt. Er wurde doch aufgeschoben, weil man zunächst mit der Österreicherin aufräumen wollte ... und das ist doch gestern gründlich geschehen!«

Auguste Rodeur erblaßte. Unter den Gefangenen, von denen Poignard da sprach, befand sich mehr als einer, mit dem er auf das innigste befreundet gewesen. Die man jetzt in der Conciergerie auf ihren Prozeß und ihren letzten Gang zum Revolutionsplatz warten ließ, das waren die ersten Anhänger der großen Freiheitssache gewesen, die Gemäßigten, die nun der Sturm der Bergpartei und die Vasallen des Schreckensregiments hinwegfegen sollten. Und Auguste Rodeur, der trotz aller Trauer um das vergangene doch auch ein Mitgänger der großen Bewegung war, zitterte für sie.

Die Sonne neigte sich jetzt zum Untergang. Poignard packte sein Malzeug zusammen, nahm die Staffelei auf den Rücken und fragte kurz:

»Wo gedenkt Ihr den Abend zu verbringen, Rodeur?«

Auguste Rodeur wich aus.

»Ihr, Poignard?«

»Ich fahre nach Paris zurück.«

»Ich habe, offen gestanden, wenig Lust, den Blutgeruch zu schnuppern, teuerster Poignard,« sagte jetzt Auguste Rodeur in melancholischem Ton. »So lange das Wetter noch einigermaßen ist, bleibe ich in Versailles.«

»Und tut gut daran! Heute kann man nie wissen, wer nicht alles plötzlich zu den Feinden des Vaterlandes gezählt wird. Am allerwenigsten aber bei einem, der schreibt und dichtet, wie Ihr, Rodeur. Der Überwachungsausschuß und seine Kreaturen sind unberechenbar. Es soll jetzt schon mehr als einmal vorgekommen sein, daß einer einfach infolge einer Namensverwechslung geköpft worden ist.«

»Wieso infolge einer Namensverwechslung?«

»Weil man sich in den Proskriptionslisten um eine Zeile verlesen hat, das ist doch klar ... Übrigens häufen sich die Akten in den Händen des wackeren Fouquier Tinville. Man spricht von Bergen von Anklageschriften, durch die er und seine braven Helfershelfer sich durchzufressen haben, mein bester Rodeur. Die Sitzungen der Geschworenen im Revolutionstribunal brechen nicht mehr ab. Tag und Nacht arbeitet man mit Hochdruck in den Tuilerien. Ich sehe die Stunde kommen, da die Gefängnisse in Paris nicht mehr ausreichen werden ... Dann bleibt eben nichts anderes übrig ...«

»Was meint Ihr, Poignard?«

Poignard pfiff vor sich hin ... »Nichts anderes als ... sss ... sss ... sss ... sss ... als Massenhinrichtungen ... Ich bin gespannt, bis zu welchem Tagesrekord man es in Paris in diesen Zeitläuften noch bringen wird. Doch, au revoir, teuerster Freund ... ich fahre nach Paris ... und bonne nuit

Poignard schüttelte Auguste Rodeur die Hand. Dann verschwand er durch die große Allee in der Richtung des Schloßhofes im Abenddämmer.

Es war schon dunkel geworden, als der Dichter sein bescheidenes Zimmer in einem kleinen Landhaus Versailles' aufgesucht hatte. Seit Monaten wohnte er hier. Fast niemand in Paris, ausgenommen seine nächsten Anverwandten, hatte eine Ahnung davon, daß er sich hierhin zurückgezogen hatte. Bei Robespierre und dessen Anhängern war Auguste Rodeur übel angeschrieben, seitdem es bekannt geworden war, daß er schon vor Monaten eine Verteidigungsschrift für den angeklagten König ausgearbeitet hatte. Zwar hatte er die aufständischen Schweizer von Chateauvieux, die der Konvent im Triumphe zurückgerufen hatte, in einer Ode verherrlicht, zwar schmeichelte er aus Klugheit dem berühmten Maler David und anderen Aposteln der Freiheit, aber so gescheit war er doch, um einzusehen, daß er den Führenden an jedem Tage als genügend verdächtig erscheinen konnte, um den Häschern des Wohlfahrtsausschusses in die Hände geliefert zu werden. Und darum war es schon besser in dem jetzt weltverlassenen und herbstlichen Versailles, als in dem von der blutigen Sonne dieser neuen Tage überstrahlten Paris.

Als Auguste Rodeur Licht gemacht hatte, gewahrte er auf dem zierlichen Bouletisch, den seine Schreibereien bedeckten, einen Brief. Offenbar war der während seiner Abwesenheit eingetroffen und von Madame Labiche, bei der er zwei Zimmer gemietet hatte, hierher gelegt worden.

Man sah es Auguste Rodeur an, daß ihm die Handschrift der Adresse nicht unbekannt war, daß er vielmehr mit der unverkennbaren Erregung des Liebenden den kleinen, von Damenhand geschriebenen Brief öffnete. Und im Schein der flackernden Kerze las Auguste Rodeur:

»Mein teurer Freund!

Warum lassen Sie so lange auf sich warten? Von mir will ich ja gar nicht reden, das wissen Sie ja. Aber meine Mutter und meine Schwester erwarten Sie voll Ungeduld. Wir sind immer in solcher Sorge, es könnte Ihnen trotz allem doch etwas zugestoßen sein. Und ich selbst! Offengestanden, ich fühle mich wirklich nicht so ganz wohl. Mir ist es immer, als läge ein Gewitter, ein Sturm, irgend etwas Schreckliches und Unfaßbares in diesen Tagen in der Luft. Also kommen Sie diesen Abend, mein Freund, und nehmen Sie uns allen die bange Sorge, die uns bei Ihrem Fernbleiben immer und immer wieder aufs neue beschleicht. Es erwartet Ihrer Ihre
Adrienne Sourieux.«

Die Uhr auf dem Kamin zeigte ein Viertel nach sechs. Auguste Rodeur überlegte. In einer knappen halben Stunde konnte er drüben bei den Damen, bei der aus der Ferne Angebeteten und Angedichteten sein, der er in seinen Oden den Namen Fanny gegeben hatte. Er hatte den Mantel noch gar nicht abgelegt. Er nahm den Hut, den er nachlässig wie immer einfach vor sich hin auf den Bouletisch geworfen hatte, und rief auf der Treppe Madame Labiche zu, daß sie ihn vor Nacht nicht erwarten solle.

Besorgt fragte die alte Frau:

»Sie fahren doch nicht etwa nach Paris, Herr Rodeur?«

»Nein, nach Louveciennes,« lachte er und verschwand.

Lange sah ihm Frau Labiche nach. Sie schüttelte den weißen Kopf. Diese Zeiten ... Und ein Dichter ... und Monsieur Auguste Rodeur, der den ganzen Bouletisch mit seinen Schreibereien bedeckt hatte ... mit Versen ... das wußte Madame Labiche ... so viel verstand sie auch ... mit Versen in diesen Tagen, da man neue Gesetze und Gesellschaftseinrichtungen mit Blut und Eisen schrieb ... in diesen Tagen, da eine Armee von vierzigtausend Mann wenige Meilen von Paris entfernt stand, eine Armee, von der man nicht wußte, wie man sich ihrer erwehren sollte. In diesen Tagen, da die Köpfe der Menschen fielen, als seien es die Ähren, die einen Sommer lang dem Schnitter entgegengereift ... Verse ... in diesen Tagen ... Verse, in denen von der Liebe und dem versunkenen Glanze einer herrlichen Vergangenheit die Rede war! O, Madame Labiche hatte manchen dieser Verse gelesen. Sie war nicht die erste beste. Ihr seliger Mann, der noch vor diesen Zeitläuften friedlich und wie ein anständiger Mensch in seinem Bett gestorben war und nicht nach dieser neuen Methode auf einem Holzgerüst im Angesicht des gaffenden Volkes, der war Kammerdiener im Schloß von Versailles gewesen. Madame Labiche war alt, und alte Leute hatten in diesen Tagen viel erlebt. Sie war noch Zeugin des pomphaften Einzugs gewesen, den die Österreicherin, die jetzt alle die Witwe Capet nannten, an des Dauphins Seite gehalten. Sie hatte noch die Tage gesehen, da der »Vielgeliebte« auf dem goldenen Thron Frankreichs gesessen ... Und nun diese Zeit ... und Verse ... Verse, die von der Liebe und dem Glanz versunkener Herrlichkeit handelten ... Und der Herr, der in ihrem Hause wohnte, verfaßte diese Verse, und das Haus selbst ... es war noch ein Geschenk des Königs ... o, nein, nicht des Königs ... einfach des Bürgers Capet, an seinen alten Kammerdiener gewesen.

Auch jetzt suchten die Augen der alten Frau Labiche nach dem Album. Wenn Monsieur Rodeur den ganzen Nachmittag nicht zu Hause gewesen, wenn er durch den Park von Versailles geschlendert, dann war sicher etwas Neues auf diesen Blättern zu finden. Aber heute lag das Album nicht am gewohnten Platze. Monsieur Rodeur hatte es offenbar mitgenommen. Frau Labiche setzte sich auf den Sessel vor dem Bouletisch. Sie träumte vor sich hin. Seit sie denken konnte, wohnte sie in Versailles. Schon ihr Großvater war in dem Schloß bei dem König bedienstet gewesen, bei ihm, der sich einst mit der Sonne selber verglichen hatte, und jetzt, und jetzt ...

Sie war seit langen Jahren nicht mehr in Paris gewesen. Aber die Blätter mit den unfaßbaren Nachrichten drangen auch bis in ihr stilles Heim in Versailles. Sie fielen auch in ihre alten und nun schon zitternden Hände und erzählten in nackten, dürren, nicht mißzuverstehenden Worten alles ... was gar nicht auszudenken war.

Der alte Brun, der im gegenüberliegenden Hause wohnte, der war ein wütender Republikaner, ein Jakobiner, ein Schandkerl von einem Menschen ... und das hier mitten in Versailles, das doch einst das Zentrum der königlichen Gnadensonne gewesen war! Der las den Moniteur. Und der berichtete alles, haarklein, brühwarm aus Paris. Das machte dem Vergnügen, sie und andere damit zu foltern.

Man erzählte sich in Versailles, daß der alte Brun in früheren Jahrzehnten Lieferungen für die Königliche Hofküche besorgt habe, daß er infolge der wachsenden und wachsenden Schulden des Königlichen Haushaltes um einen Teil seines Vermögens gebracht worden sei. Und nun rächte der sich, indem er die Lügenberichte des Moniteur las und sie den andern zum besten gab, so daß sich ihnen beim Anhören all dieser schauerlichen Schändlichkeiten die Haare zu Berge stellten.

Aus dem Munde Bruns hatte auch Frau Labiche erfahren, was die Schand- und Henkersknechte des Konvents mit dem jungen Dauphin angestellt hatten, wie man das Kind aus den Armen der Mutter gerissen, wie man es einem betrunkenen Schuster im Temple überantwortet, wie man es gezwungen, selbst die schmählichsten Verleumdungen gegen seine Tante, die sanfte Madame Elisabeth, und gegen seine eigene Mutter auszusprechen ... O, über diese Schurken!

In Gedanken an diese Vorkommnisse ballte Frau Labiche die welken Hände. Madame Elisabeth! ... Das waren noch Tage gewesen, ehe das Entsetzliche zur Wahrheit geworden, ehe der schwache König sich zwingen ließ, diese Nationalversammlung unglückseligen Angedenkens nach Versailles zu berufen, aus deren Schoße sich dieser Konvent und dieses Blutgericht in den Tuilerien losgewunden hatten.

Und während die Bilder dieser letzten Jahre und Monde wie ein schauerlicher Spuk vor den müden Augen der alten Frau Labiche vorüberzogen, schritt der Dichter seines Weges durch das Dunkel der Nacht nach Louveciennes.

Auguste Rodeur kannte diesen Weg. Ohne Sternen- und Mondenschein hätte er ihn jederzeit gefunden, so oft war er ihn gewandelt in all den Wochen und Monaten, die er sich nun aus Furcht vor den Wachsamen in Paris im Hause der alten Madame Labiche in Versailles verborgen hielt. Den Weg zu seiner Fanny, der lieblichen Adrienne Sourieux!

In Gedanken an sie schritt Auguste Rodeur wie ein Träumer dahin. Sie war lieblich wie ihr Name, der für ihn das holde Lächeln eines ewigen Frühlingstages, eines griechischen Tages ... so sagte Auguste Rodeur ... in sich schloß. Sie war eine Rose, auf die der Reif einer Maiennacht gefallen, so dichtete Rodeur. Adrienne war Witwe, Witwe von dreiundzwanzig Jahren, ihr Mann, Offizier und Royalist, war im Dienste des Königs für das Vaterland auf dem Schlachtfelde zu Frankreichs Ruhm und Ehre gefallen. Er hatte die Schande dieser Zeiten, wie er das wohl genannt hätte, zu seinem Glücke nicht miterlebt. Und nun wohnte Adrienne zusammen mit ihrer Mutter und der um zwei Jahre älteren Schwester in dem Landhäuschen in Louveciennes, das sich der Kriegsschüler von Saint Cyr vor Jahren erbaut hatte in der Hoffnung, hier nach einer Laufbahn des Ruhmes ein gesegnetes Alter zu finden.

Und durch die Zimmer dieses Landhauses in Louveciennes erscholl vom frühen Morgen bis zum späten Abend das silberhelle Lachen eines Kindes. Das war das Lachen der siebenjährigen Flora, des einzigen Töchterchens Adriennes, denn Adrienne war der Sitte ihrer Zeit gemäß bei ihrer Verheiratung mit dem Kriegsschüler von Saint Cyr erst sechzehn gewesen.

Während Auguste Rodeur vorwärts und vorwärts schritt durch das Dunkel des frühen Oktoberabends, während die von den Kronen der Bäume herabfallenden Blätter wie der leise Kuß eines frühen Todes seine Stirn streiften, ertönte in seinen Ohren das silberhelle Lachen dieses Kindes, das Adriennes einziges Glück und ihre einzige Freude war.

Leibhaftig im Dunkel der Nacht stand die kleine Flora vor den Augen seiner Dichterphantasie, das Kind mit den goldblonden Locken, die wie Strahlenbündel der Sonne über seine weiße, schöne Stirn fielen, das Kind mit den großen, veilchenblauen Augen, in denen ihm alles Glück und alle Zukunft Frankreichs zu schlummern schienen, jene Zukunft, die kommen mußte, um deretwillen dies Blut täglich und stündlich in heißen, roten Strömen floß.

In Adriennes Kind, in Flora, sah der Dichter Auguste Rodeur das Bild, das lebendig gewordene, dieser Zukunft!

Als er endlich das Haus der Frau Tourlan, Adriennes Mutter, betrat, kam ihm die Fanny seiner Oden schon auf der Schwelle entgegen.

»Gottlob, gottlob,« stieß sie hervor, »wir haben uns alle schon solche Angst um Sie gemacht.«

Auguste Rodeur lachte. Dann führte er die schmale Hand der Rose, die der Reif einer Maiennacht gestreift hatte, andächtig, feierlich an seine Lippen und sagte:

»Ich fühle mich so sicher, so sicher in Versailles, Fanny, und Versailles ist ja so nah, so nah bei Louveciennes!«

Adrienne lächelte beglückt. Aber sofort kam es wieder in ernster Sorge von ihren Lippen:

»Man liest von nichts anderem mehr, als von Verhaftungen. Ich zittere vor jedem Zeitungsblatt, ich zittere, Ihren Namen zu finden, Auguste Rodeur!«

»Keine Sorge! Man hat keine Ahnung in Paris, wo ich eigentlich bin. Und die wenigen Freunde, die es wissen, sind treu, Fanny ... und dann ...«

»Und dann?«

Wieder lächelte er.

»Wir stehen zu tief, Fanny? Wir gleichen dem Halm, über den der Sturm dahinfährt, ohne ihn knicken zu können, indessen die Eiche und die Pappel in seines Wahnwitzes gigantischer Umarmung zerbrechen ... Aber ist die kleine Flora noch auf?«

»Sie ist schon zu Bett, Auguste!«

»Dann führe mich zu ihr, ja, willst du?«

»Aber gern, wenn du es wünschest.«

»Ich habe so etwas wie brennenden Durst nach ihr, Fanny!«

Erstaunt blickte Adrienne Auguste Rodeur an.

»Was soll das heißen?«

»Das soll heißen, daß man in diesen Tagen des Blutes Durst nach der Unschuld, nach der Kindheit der Menschheit hat. Führe mich an das Bett, Fanny!«

Adrienne ging voraus. Sie hielt den Leuchter mit der flackernden Kerze in der Rechten. Das unstete Licht der Flamme fiel auf ihre schlanke Gestalt in dem einfachen, glatten, weißen Gewande und verriet dem schwärmenden Freunde jede Bewegung ihres graziösen Körpers. Es fiel auf das wundersam geformte, bleiche Gesicht, auf die kastanienbraunen Locken, die sich nur widerspenstig um das Oval dieses herrlich, wie von Künstlerhand gemeißelten Kopfes fügten. Sie war das Bild ihrer Tage, dachte da Auguste Rodeur, oder nein ... der vergangenen Tage, der für immer dahingegangenen, da die gottbegnadeten Bildhauer und Maler des Sonnenkönigs die Säle Versailles' und Trianons mit den Fabelwesen griechischer Schönheit bevölkert hatten.

Und die flackernde Flamme des Lichtes fiel in die großen, graublauen Augen, fiel auf die Lippen, die Auguste Rodeur in seinen Oden so gern mit den aufbrechenden Knospen der dunkelroten Rosen von Fontainebleau verglich.

So stieg Adrienne die Treppe zum ersten Stockwerk des Landhauses empor, in dessen Schlafzimmer die kleine Flora ruhte ... und trunken von Liebe und Dichtung und Schönheit folgte Auguste Rodeur.

Es war Adriennes großes und breites Himmelbett, in dem die Kleine schlief. Das Bett, das die Angebetete einst als eine der glücklichsten ihres Geschlechtes mit dem Kriegsschüler von Saint Cyr in seligen Nächten geteilt hatte. Ein reich mit Gold und Elfenbein verziertes, über dem sich ein Himmel aus hellblauem Seidendamast wölbte. Ein Bett, wie es die schrankenlosen Tage des fünfzehnten Ludwig hervorgebracht und ersonnen hatten, die Tage von Versailles und Fontainebleau und Trianon, denen Frankreich jetzt zum Opfer gefallen war.

Daran dachte Auguste Rodeur, als er jetzt an der Seite Adriennes an dieses Bett trat, in dessen tiefen und weichen Daunen die kleine Flora wie ein Cupido auf einem Bild Watteaus oder Bouchers ruhte.

Aber auch an Poignard, den Maler, der morgen in Paris vergeblich von Kunsthändler zu Kunsthändler laufen würde, mußte Auguste Rodeur in diesem Augenblicke denken. Und nicht nur an ihn, an all das Schöne, an all das Große, an all das Erhabene, an all die Kunst und all die Dichtung, die nun mit den Häuptern des Bürgers Capet und seiner Witwe in den Kot der Gasse gerollt waren. Es war das Weinen um eine Welt des Glanzes und der Erhabenheit, das nun unaufhaltsam im Inneren des Dichters Auguste Rodeur emporstieg und ihm an der Kehle würgte, als er jetzt, versunken in den Anblick der kleinen Flora, vor dem Himmelbett Adriennes stand.

Das Kind schlug die großen, graublauen Augen, das Erbteil seiner schönen Mutter, nicht auf. Es schlief ruhig und sicher weiter in den Daunen des prunkvollen Himmelbettes und die goldenen Locken wallten wie ein Strahlendiadem über seine weiße und hohe Stirn. Der Dichter Auguste Rodeur faltete bei diesem Anblick die Hände.

»Was ist Ihnen, Auguste?«

Er war keines Wortes mächtig. Seine Augen starrten auf das Kind.

»Wissen Sie, was ich hier sehe, Fanny,« stammelte Auguste Rodeur unter Tränen.

»Was denn, mein Freund?«

Er suchte die schlanken, die aristokratischen, die reinrassigen Hände Adriennes, führte sie beide an seine Lippen, bedeckte sie mit heißen Küssen, und die brennenden Tränen seiner Augen fielen auf diese Hände, so daß Adrienne leise erbebte. Endlich hatte er sich gefaßt.

»Ich sehe hier die Zukunft, Adrienne Sourieux! Lassen Sie mich bei diesem Anblick Sie so nennen, ach ja, lassen Sie mich Sie so nennen! Ich sehe hier die Zukunft, für die all das Blut geflossen ist und noch fließt!«

»Daß Sie auch immer nur an dieses eine denken!«

»Ach ja, Adrienne Sourieux, der ein Gott diesen Namen gab, nur an diese eine! Ich sehe hier das Gute, das Erhabene, das höchste Wesen, die Vernunft, für die wir alle bluten und leiden müssen. Ich sehe hier die Welt, die Menschheit, ich sehe Frankreich, das Frankreich, Adrienne, das einst die Frucht, die süße Frucht, aus diesem blutgedüngten Acker ernten wird! Oh, meine Freundin, wenn Flora ernten soll ... dann bin auch ich dazu bereit ...«

»Wozu,« rief da Adrienne voll Entsetzen, »wozu ... woran denken Sie denn, Auguste Rodeur?«

»An das, woran wir heute alle denken müssen, woran wir alle denken sollen, Adrienne Sourieux! Was sagte der Unbestechliche, als man ihm vorhielt, daß eines Tages die Sonne auch seinem Blutgerichte leuchten könne, was sagte er?«

»Was sagte er?«

»Er sagte nur: Eh bien ... Eh bien, Adrienne Sourieux ... Wenn solche Zukunft ahnungslos schlummert ... Für sie ... für sie ...«

Mit diesen Worten beugte sich der Dichter Auguste Rodeur über das Kind, und leise hauchten seine Lippen einen Kuß auf die unschuldsvolle Stirn des schlafenden, in dem er die sonnige Zukunft Frankreichs sah.

»Für dich ... für dich ... für dich ... für dich und deine Altersgenossen,« stammelte er, »für dich, wenn die Sonne einer neuen Zeit des Friedens und der Freiheit sich siegreich hebt.«

Dann wandte er sich an Adrienne.

»Und wollen Sie jetzt hören, teuerste Freundin?«

»Was, Auguste?«

»Sie allein sollen es hören. Es würde mir ja doch die Kehle zuschnüren, wenn ich es drüben bei den andern lesen sollte, so lieb ich die andern auch habe, aber es wäre Sakrileg.«

Er zog das Album, nach dem die alte Frau Labiche vorhin vergeblich auf dem Bouletisch Ausschau gehalten hatte, aus der Tasche seines tabakbraunen Rockes und sagte:

»Ich war diesen Nachmittag wieder im Parke von Versailles, teuerste Freundin, und dort habe ich am Tage nach dem Fall des verhaßten Opfers das Schwanenlied der gesunkenen Größe gesungen. Wollen Sie es hören?«

»Aber ich brenne doch darauf.«

Auguste Rodeur trat an das Fenster, dort war ein kleiner Erker, dort störten seine Stimme und das flackernde Licht der Kerze die schlummernde Zukunft Frankreichs nicht.

Adrienne stand dicht an seiner Seite. Und wie der ersterbende Windhauch des scheidenden Sommers ging die sanfte und weiche Stimme des Dichters durch das stille Schlafgemach in Louveciennes, in dessen Daunenbette das Kind gesund und froh und kräftig, tief und regelmäßig atmete, als sei sein Leben eine Bürgschaft. Und diese Stimme sprach von dem Versunkenen. Adrienne lauschte. Sie war der Gegenwart entrückt, und es schien, als wandele Auguste Rodeur wieder unter den Ulmen Versailles'.

Es war eine Ode in antikem Versmaß, die er ihr las, eine Ode, die den Glanz und die Pracht des verwunschenen und in diesen Tagen verfluchten Königsschlosses noch einmal erstehen ließ in Adriennes Herzen, eine Ode, die Ruhe und Frieden dieses Parks atmete, die aber auch die Bilder des Blutes und des Jammers in dem nahen Paris wie einen scharlachroten Schleier aus Dunst und Nebel über den Seen und Wasserwerken des aus dem Schweiß und der Not eines ganzen Volkes herausgepreßten Prunkschlosses aufsteigen ließ.

Und trotz allem schluchzte Adrienne Sourieuz, als ihr Dichter Auguste Rodeur nun schloß:

»Aber deines Tales Frieden,
Deiner Hügel Grün
Deckt der Trauer schwarzer Schleier,
wo die Blumen blühn.
Auf dem Hügel steht ein Schatten,
Drauf mein Auge ruht,
Steht der Schatten meines Volkes,
Das ertrank in Blut!«


 << zurück weiter >>