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In einem alten Hause der Rue Saint Roch bewohnte der Maler Aristide Poignard zwei dürftig ausgestattete Zimmer, hier hauste der Künstler zusammen mit seiner »Nymphe«, der bildschönen Fleurette Bouchard, die einst in den Tagen ihres Glanzes Tänzerin an der Oper gewesen. Dann war es in den Stürmen der Revolution mit Fleurette Bouchard rasch bergab gegangen. Die Zeit, da Camille Demoulins das Volk durch seine feurigen Reden vor dem Palais Royal zum Sturm gegen die Bastille ermuntert, hatte sie schon unter den Damen der den altberühmten Palast umgebenden Cafés gesehen. Dort hatte sie auch Aristide Poignard in einer lustigen Nacht entdeckt, von dort hatte er sie mit in seine Wohnung nach der Rue Saint Roch genommen, und so war sie zuerst seine Geliebte und dann sein Modell geworden.
Der Dichter Auguste Rodeur hatte nur zu recht. Das sah Aristide Poignard von Tag zu Tag deutlicher ein. Mit der Kunst war in diesen Zeitläufen beim besten Willen nichts zu verdienen, und nun gar mit seiner Kunst, die sich dem Geschmack des Tages zum Trotz an die Zierlichkeit der Watteaus und Bouchers hielt. Die Nymphe, an der er in jenen Herbsttagen im Park von Versailles gemalt hatte, lehnte noch immer unverkauft und unverkäuflich in einer Ecke neben dem Kamin. Nicht einmal für einen Rahmen hatte es in diesen Wochen gelangt.
Ein armseliges Feuer, das Fleurette Bouchard an diesem Morgen mit Hilfe ein paar alter Kistendeckel angezündet hatte, glimmte dort neben dem Bild und vermochte den kalten Raum, der Aristide und seiner »Nymphe« als Atelier und Wohnzimmer diente, nur mäßig zu erwärmen.
Aristide war allein. Er saß vor der Staffelei, auf der wieder eine eben angefangene Studie stand, aber er malte nicht. Das Licht dieses grauen Dezembermorgens war zu ungünstig, die Farben waren teuer, und wenn er sie ohne Erfolg auf die Leinwand brachte und dann mit dem Spachtel wieder abkratzen mußte, waren sie auch hin.
Den schönen, von schwarzen Locken umrahmten Künstlerkopf in beide Hände gestützt, saß Aristide Poignard sorgenvoll da. Fleurette Bouchard war in die Stadt gegangen. Du lieber Himmel, sie hatten beide diesen Morgen nichts zum Frühstück gehabt. Kastanien und immer wieder Kastanien waren nun seit Wochen ihre einzige Nahrung gewesen. Und endlich hatte sich Aristide Poignard, und zwar gegen seine innerste Überzeugung, entschlossen, seinen Namen in die Liste derer einzutragen, die wegen Bedürftigkeit außerstande waren, an den politischen Geschäften teilzunehmen und so ihre Pflicht als Bürger der Republik zu erfüllen. So erhielt er denn jetzt von Staats wegen 40 Sous täglich, und mit denen konnte man wenigstens das Verhungern verhüten.
Diese in der Tasche, war Fleurette Bouchard in die Stadt gelaufen. Hunger in den Därmen und Ungeduld im Herzen, erwartete Aristide Poignard die Rückkehr des Mädchens. Mit 40 Sous war schon etwas zu erreichen, denn die Damen der Halles waren längst nicht so grausam und unanständig, wie sie von vielen seit jenem Zug der Weiber nach Versailles hingestellt wurden. Sie hatten ein Herz im Leib, sie waren sogar dem Mitleid zugänglich, und einer Fleurette Bouchard, die einst Tänzerin an der Oper und dann eine Berühmtheit des Palais Royal gewesen, schlugen sie gewiß so leicht nichts ab.
Und Aristide Poignard hatte sich nicht getäuscht. Nachdem er reichlich fünfviertel Stunden vor sich hin gebrütet hatte, vernahm er Fleurettes glockenhelle Stimme und ihren leichten Schritt draußen auf der Treppe. Wenn sie sang und vergnügt war, dann hatte sie sicher ihr Ziel erreicht.
Aristide Poignard lauschte.
Es war ein Gassenhauer, den er da draußen vernahm. Ein Gassenhauer, wie er sie nicht leiden mochte. Aber was verschlug's? Fleurette war lustig, und er krümmte sich schon vor Hunger. Er hätte keinen Kastanienbrei mehr schlucken können, und wenn er an Unterernährung eingegangen wäre. So widerte ihn das süßliche Zeug an.
Es war ein Lied Gaston Dvoracs, das Fleurette draußen auf der Treppe sang. Aristide Poignard hatte dieses Lied schon immer gehaßt und mehr als dieses dessen Verfasser Gaston Dvorac, den leichtsinnigen Schlingel, der sich in den Tagen des Tyrannen auf seine Muse was zugute getan hatte und Stammgast in den Kaffeehäusern des Palais Royal gewesen war. Mehr als einmal hatte er dieses Lied aus seines Dichters eigenem Munde gehört, wenn Gaston Dvorac mit unnachahmlicher Gebärde die Laute zu seinen Versen schlug. Poignard haßte dieses Lied, weil es Gaston Dvorac eigens für Fleurette Bouchard gedichtet hatte, weil dieses Lied von ihr handelte und er wohl nicht mit Unrecht vermutete, daß die einstige Tänzerin an der Oper auch den Lyriker begeistert hatte und zwar auf denselben Wegen, auf denen sie des Malers Modell geworden war.
Aber trotzdem lauschte er, als Fleurette draußen auf der Treppe sang:
»Fleurette, Fleurette,
So lieb und so adrett,
Erst war sie an der Oper,
Da lachte wie Zinnober
Ihr kleiner roter Mund
Und küßte mich gesund.
Fleurette, Fleurette,
So lieb und so adrett,
Dann kam sie zu den Damen,
Die man nicht nennt mit Namen,
Sie zeigte im Café
Den Busen weiß wie Schnee.
Aristide Poignard sprang auf. Er ärgerte sich über dieses Lied. Doch da öffnete sich schon die Tür, und die liebliche Fleurette Bouchard stand leibhaftig vor ihm. Sie stellte den großen Handkorb, den sie am Arm getragen, auf den Boden des Zimmers und flog an seinen Hals.
»Aristide,« jauchzte sie, »ich habe deine vierzig Sous nutzbringend angelegt, jetzt soll es uns schmecken!«
Ohne seine Antwort abgewartet zu haben, lief sie hinein in das Schlafzimmer. Sie kam sofort wieder zurück und deckte den in der Mitte des Wohnraums stehenden Tisch mit einem groben Leinentuch, das sie dem gemeinsamen Bett entnommen hatte, holte Teller, Messer, Gabeln und Gläser aus dem Wandschrank und begann damit, die Schätze ihres Korbes vor den Blicken des hungrigen Künstlers auszubreiten.
Brot, Käse, Wurst und Schinken, ein gebratenes Huhn, eine Flasche Médoc kamen zum Vorschein.
»Und das alles für vierzig Sous?« stotterte der betretene Maler.
»Sei doch nicht so ... und iß, Aristide,« schmollte sie jetzt. »Ich dächte, wir hätten lange genug gefastet.«
Dann schwang sie sich mit einem graziösen Sprunge, der an ihre einstige Beschäftigung in den Musikdramen erinnerte, auf Aristides Schoß und goß beide Gläser voll mit dem dunkelroten Bordeaux.
»Iß und trink, Aristide, es gibt noch gute Menschen auf der Welt,« lachte sie. »Und wenn ich dir erst erzähle, was sie heute im Konvent aufgeführt haben, dann wirst du dich am Ende zu Tode lachen, Aristide.«
Der Maler hörte kaum auf ihre Worte. Er war damit beschäftigt, sich eine große Schnitte von dem köstlichen Weizenbrot abzuschneiden. Fast andächtig belegte er die mit einer dicken Scheibe gekochten Schinkens, und erst, nachdem er diese verzehrt und so seinen ersten Hunger gestillt hatte, ging er auf Fleurettes Worte ein und fragte:
»Nun, Fleurette, was haben sie denn wieder im Konvent angestellt?«
»Es ist zum Totlachen, Aristide.« erwiderte Fleurette, »alles hat doch seine Zeit. Wir Damen vom Theater kommen jetzt auch wieder an die Reihe. Was sagst du, wenn ich behaupte, daß heute der Tag angebrochen ist, da wir in der Republik die allererste Flöte spielen?«
»Aber du bist doch gar nicht mehr beim Theater, beste Fleurette!«
»Macht nichts, mein teuerster Aristide, auch die andern ...«
»Welche andern?«
»Na, du wolltest doch vorhin offenbar darauf anspielen, daß du mich nicht im Theater, sondern in einem Café des Palais Royal aufgelesen hast.«
»Das wollte ich allerdings.«
»So höre, also auch die andern ... Du, ich habe übrigens heute morgen ein neues und einträgliches Metier für dich ausfindig gemacht.«
»Auch das noch, Fleurette?«
Sie überhörte absichtlich den Ton des Vorwurfs, der schon wieder in Aristide Poignards Worten lag, und fuhr in aller Seelenruhe fort:
»Doch davon später, mein Bester, die Damen der Halles, bei denen ich diese Kostbarkeiten für vierzig Sous erstanden habe, wirklich für vierzig Sous, auf Ehre und Gewissen, mein lieber Aristide, die haben mir das erzählt, und das hat mich auch auf den Gedanken von deinem neuen Metier gebracht.«
»Was haben sie dir erzählt, und was ist das für ein neues Metier?«
»Eines nach dem andern. Also, denke dir, Aristide, Hébert und Chaumette haben es endlich durchgesetzt. Die Religion wird endgültig abgeschafft. Sie haben Danton und Robespierre für ihre Sache gewonnen. Heute ist es im Konvent zum Klappen gekommen. Die Religion wird also abgeschafft und der Kultus des Fleisches und der Schönheit, kurzum die freie Liebe, wird an deren Stelle gesetzt. Aussichtsreich, was? Zweifelst du etwa auch jetzt noch daran, daß unser Weizen wieder zu blühen beginnt?«
Aristide Poignard war eben dabei, die eine Hälfte des gebratenen Huhns mit größtem Appetit zu verspeisen, und so sagte er denn mit vollem Mund und kauend:
»Wenn du von der freien Liebe sprichst, dann magst du schon recht haben, mein Kind ... aber mit der Schönheit ...«
»Ich bitte es mir aus, Aristide, wenn du mir so kommst, dann behalte ich meine Erzählung und meinen Vorschlag mit deinem neuen Metier ganz einfach für mich ...«
»Aber so schlimm war das doch nicht gemeint, Fleurette, nur ein Scherz ...«
»Freilich, freilich ... nur ein Scherz ... Aber du irrst dich, Freund, du irrst dich ganz gewaltig ... du wirst noch was erleben ... oh, ich werde meine Rolle glänzend spielen, verlaß dich drauf ... Kennst du die rote Therese?«
»Das Scheusal aus der Rue Saint Dénis?«
»Ganz recht, das Scheusal aus der Rue Saint Dénis! Sie ist Chaumettes Geliebte, die rote Therese.«
»Einen besseren Geschmack hätte ich Chaumette, Hébert und deren Genossen auch kaum zugetraut. Nun ja, einer dieser Herren ist ja, wenn ich nicht irre, Logenschließer in einem Theater in den Tagen des Tyrannen gewesen. Wo sollte da der Geschmack herkommen? ... Also, erzähle, was ist mit der roten Therese?«
»Ich werde mich an sie wenden. Sie kennt mich noch vom Palais Royal her, dann kann es nicht fehlen.«
»Aber so erzähle doch!«
»Du weißt doch, daß die rote Therese was zu zeigen hat trotz der teuren Zeiten, und das will was besagen, Aristide, wo wir alle vor Hunger so mager werden wie die Féras nach der Laichzeit, so daß man gerade kein Gourmet zu sein braucht, um auf uns Verzicht zu leisten. Also höre! Chaumette hat heute die rote Therese dem Konvent vorgeführt.«
»Du hast dir einen Bären aufbinden lassen.«
»Du wirst es heute abend schwarz auf weiß im Moniteur lesen. Verlaß dich drauf. Um neun Uhr begann die Sitzung, in der der Gemeinderat von Paris den Kult der Vernunft proklamiert hat.«
»Und dazu bedurfte der Gemeinderat der roten Therese aus der Rue Saint Dénis?«
»Aber ich sagte dir es doch, Aristide, sie ist die Geliebte Chaumettes, und Chaumette und Hébert sind augenblicklich allmächtig. Sie verstehen es schon meisterlich, ihren Willen bei Danton und Robespierre durchzusetzen. Höre, so haben die Damen der Halles es mir brühwarm erzählt. Eine ungeheure Menschenmasse umlagerte schon um acht Uhr die Tuilerien. Kaum ein Zehntel der Leute konnte Einlaß in den Sitzungssaal erlangen. Um neun Uhr erschien Chaumette, gefolgt von einer Musikerbande, und führte die rote Therese aus der Rue Saint Dénis an der Hand. Und das tollste ...«
»Das tollste?«
»Die rote Therese war splitternackt ... Sie hatte trotz der Kälte nichts als einen hellblauen Seidenschal um ihren üppigen Corpus geschlungen. Sie sei das Symbol der neuen Religion, Aristide, sagten voll Begeisterung die Damen der Halles.«
»Und weiter?«
»So führte sie Chaumette in den Saal des Konvents ... Und sie war nicht allein. Daß ich davon nichts gewußt habe, Aristide, du hättest es mir gewiß erlaubt ...«
»Das ist denn doch noch sehr die Frage, mein Kind!«
»Dann wäre ich eben einfach ohne deine Erlaubnis gegangen.«
»So ...?«
»Ja, so ... All mein Lebtag wird es mich reuen, daß ich hier bei dir diese wunderbare Stunde der Rehabilitation verschlafen habe. Denn die rote Therese war nicht allein, alle Mädchen des Palais Royal haben sie begleitet ... Sie bildeten den Hofstaat, gewissermaßen das Gefolge des Symbols, sagten die Damen der Halles.«
»Und was geschah weiter?«
»Das Volk folgte ihnen auf dem Fuß und schrie:
Es lebe die Republik!«
»Wie gewöhnlich in diesen Tagen.«
»Ja ... und: Es lebe die Schönheit ...«
Aristide Poignard platzte los:
»Die dicke Therese aus der Rue Saint Dénis, ausgerechnet die, und ... die Schönheit ...«
»Ja, und die freie Liebe und das Weib ... Es lebe das Weib, rief Chaumette und führte die rote Therese auf die Tribüne des Konvents. Und dann spielte die Musik die Marseillaise und das Ça ira.«
»Und hat Chaumette dazu keine Rede gehalten?«
»Freilich hat er das, Aristide. Die Mädchen aus dem Palais Royal besetzten die Bänke der Abgeordneten. Laloi führte den Vorsitz im Konvent, Chaumette schritt auf ihn zu, nachdem er den blauen Schleier von dem splitternackten Körper der roten Therese mit einer feierlichen Bewegung weggenommen hatte.«
Aristide Poignard schüttelte sich vor Lachen.
»Du, wenn dich einer der Machthaber so sähe, Aristide,« drohte Fleurette. »Die rote Therese ist heute zum Symbol der Republik erhoben worden. Bedenke das!«
»Also scheint man in Frankreich den guten Geschmack heute endgültig zu Grabe getragen zu haben, meine Beste.«
Fleurette Bouchard ließ sich durch all seine spöttischen Bemerkungen durchaus nicht irre machen. Sie fuhr in heller Begeisterung fort:
»Wie Gott sie geschaffen, stand die rote Therese vor dem Konvent und der Menge. Da rief Chaumette: Sterbliche, kennt ihr in Wahrheit kein höheres Wesen als die Vernunft? Höher als die Vernunft ist die Natur, deren schönstes und reinstes Bild ich euch hier allen vor Augen stelle.«
Es war unheimlich mit dem Maler. Er wand sich in körperlichen Schmerzen, so lachte er, die Tränen liefen ihm in einemzu die Wangen hinunter.
»Ausgezeichnet, ausgezeichnet,« rief er ein über das anderemal. »Das schönste und reinste Bild der Natur aus der Rue Saint Dénis, ausgezeichnet. Und was tat der Konvent, was tat das Volk, Fleurette? Sie lachten ihm nicht in das Gesicht? Klatschten sie etwa Beifall?«
»Sie lachten nicht, aber sie klatschten auch nicht Beifall.«
»Also hat dieser Chaumette mitsamt seiner roten Therese aus der Rue Saint Dénis doch ein wohlverdientes Fiasko erlitten?«
»Aber mit nichten, Aristide. Chaumette und der ganze Konvent waren aufs tiefste ergriffen. Sie neigten sich voll Andacht vor der nackten Therese und beteten sie an.«
»In drei Teufels Namen.«
Ein furchtbarer Fluch kam dieses Wort aus dem Mund Aristide Poignards. Dann sprang er auf und faßte nach dem Bild, das ohne Rahmen neben dem flackernden Kaminfeuer stand.
»Was hast du vor, Aristide?« schrie Fleurette.
»Ich möchte den Plunder ins Feuer stecken,« wetterte er jetzt blaß vor Wut. »In einer Welt, in einer Stadt, bei Menschen, wo eine solche Geschmacksverirrung möglich ist, was soll ich da? Was soll mein Bild da?«
»Aber nein, nicht doch,« wehrte Fleurette. »Aber nein, Aristide, du hast doch acht Monate unter Hunger und Entbehrungen daran gemalt ... und ich ... ich habe dir doch Modell dazu gestanden ...« fügte sie noch hinzu und schmiegte sich zärtlich an ihn.
Aber er hatte jetzt kein Ohr für ihre freundlichen Worte.
»Acht Monate daran gemalt,« schrie er, »und was bringt es mir ein? Was habe ich davon, als daß wir alle beide vor Hunger krepieren müssen, als daß ich gezwungen werde, hinzugehen und diesem Saupack meine Dienste in politischen Geschäften anzubieten, um dich und mich mit den vierzig Sous dieser Schandregierung über Wasser zu halten, nein und abermals nein, es ist genug!«
Er hielt den schmalen Holzrahmen, auf den er vor Monden, erfüllt von Schaffenslust, die Leinwand gespannt hatte, in den Händen und versuchte, dessen Stäbe über seinem Knie zu knicken. Aber das Holz war zu stark. Es gab seiner Kraft nicht nach. Jetzt brachte er das Bild an die Zähne. Er machte den vergeblichen Versuch, die Nägel, die die Leinwand festhielten, mit seinen Bissen zu lösen und so sein Werk, die Frucht mondelangen Hungers und mondelanger Entbehrungen, in Fetzen zu reißen. Aber die Nägel gaben nicht nach.
»Nicht doch, nicht doch, Aristide,« jammerte Fleurette, »nicht doch, um meinetwillen nicht, es ist doch mein Körper, ich bin es doch, Aristide, in die du die Nägel deiner Finger bohren, die du mit harten Händen in Stücke reißen willst.«
Da kam er wieder zur Besinnung.
Die Worte dieses Mädchens, das er in all dem Elend und all dem Hunger liebte, weil sie wie ein treuer Hund die Kälte und die Not mit ihm teilte, taten es ihm an. Momentan war er völlig ruhig. Kopfschüttelnd stellte er das Bild wieder an seinen Platz.
»Mag es stehen bleiben, Fleurette, wo es schon so lange gestanden hat,« entschied er, »aber nach dem, was du soeben erzählt hast, rühre ich keinen Pinsel mehr an. Unter dieser Gesellschaft nicht, und bis der Sturm diese Gesellschaft hinweggefegt haben wird, sind auch wir verdorben und gestorben, Fleurette! Auch die vierzig Sous nehme ich von denen nicht mehr an.«
Sie hielt es für das beste, ihn jetzt ganz sich selbst zu überlasen. Sie schwieg, denn sie wußte, daß jedes Wort der Beruhigung und des Trostes ihn nur wieder außer sich gebracht hätte. Sie kannte ihn. Aristide Poignard war ein großer Künstler, und als solcher war er maßlos. Maßlos in allem! In der Freude und in der Hoffnung und in der Liebe, wie er maßlos in dem Schmerze und in der Verzweiflung und in der Verachtung war.
Eine ganze Weile war es daher totenstill in dem kleinen Zimmer. Nur das verlöschende Feuer des Kamins knisterte leise, nur die Schneeflocken, die draußen tanzten, schlugen fast lautlos wider die Scheiben.
Plötzlich fuhr Aristide Poignard aus seinem Sinnen empor. Ganz unvermittelt fragte er:
»Was hast du denn vorhin gemeint, Fleurette, als du von einem neuen Metier sprachst, das dir für mich eingefallen ist?«
»Ich habe mir das auf dem Heimweg so zurechtgelegt, Aristide,« erwiderte das Mädchen schüchtern. »Aber wenn du in solcher Stimmung bist, wenn du alles so aufnimmst, dann wage ich es gar nicht auszusprechen.«
»Heraus damit,« sagte er da schon wieder in befehlerischem Ton.
Fleurette Bouchard zitterte. Wenn er in diesem Ton sprach, dann bekam sie Angst vor ihm, dann wäre sie am liebsten auf und davon gelaufen und zu ihren Schicksalsgenossinnen in die Cafés des Palais Royal zurückgekehrt. Schon oft war sie drauf und dran gewesen, diesen Schritt zu tun. Aber halben Weges war sie immer und immer wieder umgekehrt und wieder zu ihm geeilt. Denn sie liebte Aristide Poignard. Sie liebte ihn mit jener seltsamen Liebe der Dirne, die für keinen der vielen Männer, denen sie sich um Geld hingibt, etwas empfindet, und die den einen anbetet, von dem sie sich prügeln läßt wie ein Hund, die diesem einen ihre Liebe und den Sündenlohn ihrer Liebe schenkt.
»Soll ich es sagen, Aristide?« bettelte sie nun aus diesem Gefühl heraus.
Und er befahl ihr noch einmal:
»Heraus damit!«
»Ich habe auf dem Heimweg von den Damen der Halles darüber nachgedacht, Aristide,« begann sie. »Ich dächte, die Verspottung der Religion dürfte in diesen Tagen ein Bombengeschäft werden.«
»Und ich meine, das könnten wir Chaumette und Hébert und den übrigen Artikelschreibern im Père Duchesne überlassen.«
»Wie du meinst, Aristide, aber ich dachte an die bildliche Verspottung. Alle Kirchen in Frankreich sollen doch jetzt in Tempel der Vernunft verwandelt werden. So hörte ich von den Damen der Halles. Ein großer Teil der Priester hat auch schon umgeschworen, sogar den Erzbischof von Paris, den alten Göbel, wird man dazu zwingen. Chaumette und Hébert planen nämlich ein großes Fest in Notre Dame. Auch davon war heute die Rede. Um die Weihnachtszeit soll da das Bild der Jungfrau gestürzt und das der heiligen Geneviève öffentlich verbrannt werden. Man muß doch mit seiner Zeit gehen, mein bester Aristide, wenn man ein Künstler ist und nicht verhungern will, sollte ich meinen.«
»Ja, das solltest du freilich meinen,« wiederholte Aristide Poignard und wühlte mit beiden Händen in seinen dichten, schwarzen Locken.
»Und was hast du also als mein neues Metier ins Auge gefaßt, Fleurette?«
»Ich habe nur so ganz im allgemeinen darüber nachgedacht, Aristide, Verspottung der Religion auf zeichnerischem und malerischem Gebiet, so was fiel mir wohl ein.«
Mit langen und unruhigen Schritten ging Aristide Poignard in dem kleinen Wohnraum auf und nieder.
Auf einmal blieb er stehen, faßte Fleurette mit beiden Armen um die Hüften und rief:
»Ich hab's, ich hab's, Fleurette ... du bist ein Teufelsweib, du hast den Satanas selber im Leib. Wenn sie es denn nicht anders haben wollen, meinetwegen. Verspottung der Religion! Du wirst Polischinellen anfertigen ... und ich ... ich werde sie mit meinen Farben anstreichen ...«
»Ich, Aristide?«
»Ja, du, Fleurette ... Und du selbst sollst sie vor dem Palais Royal verkaufen, jedes Stück zu zehn Sous. Das wird ein heiteres Metier werden, Fleurette! Priester und Könige und Herzöge und Grafen, die Jungfrau selber und den Heiland und den lieben Gott werden wir zu Hanswursten machen. Reißenden Absatz wird das Zeugs finden, und wir werden nicht mehr zu hungern brauchen, wir werden nicht mehr auf die vierzig Sous von denen da angewiesen sein, Fleurette ... Und ...«
»Und was noch?« fragte Fleurette.
Aristide Poignard schwieg und blickte finster vor sich hin.
Endlich sagte er:
»Und vielleicht, Fleurette, ist der Tag gar nicht mehr so fern, an dem wir andere Modelle für unsere Polischinellen finden werden.«
»Andere ... wen meinst du damit?«
»Nun, wen sollte ich meinen? ... Chaumette und Hébert und Danton und Robespierre und Saint Just, die meine ich. Der Tag wird kommen, wo sie auf der Place de la Révolution das gleiche Kasperletheater spielen werden, das sie mit den anderen aufgeführt haben ... Aber bis zu diesem Tage halten wir uns an den Erzbischof von Paris ... das war wirklich ein genialer Einfall, Fleurette!«
Er trat an die Kommode, die an der einen Seitenwand des Zimmers stand, und zog eine Schublade auf.
»Was suchst du, Aristide,« fragte Fleurette.
»Stoff für mein Kunstwerk, meine Teuerste,« antwortete er mit grausamem Lachen, »schwarzen Stoff, aus dem du dem Erzbischof von Paris das Gewand schneidern sollst, aber schwarz muß der Stoff sein, pechrabenschwarz!«
Er wühlte in den Kleidern und Wäschestücken Fleurettes, die hier in dieser Kommodeschublade lagen.
»Alles bunt, alles Flitter für das Palais Royal,« knurrte er, »kein einziges schwarzes Stück, nichts für meinen Erzbischof, doch halt ...«
Fleurette stieß einen Schrei aus.
»Da haben wir's,« triumphierte Aristide.
Er hielt einen Schleier aus schwarzem Krepp in den Händen. Er betrachtete den Stoff von allen Seiten.
»Das wird unseren Erzbischof nicht übel kleiden, wenigstens erkennt selbst ein Blinder von weitem, daß es sich um einen Pfaffen handelt, und das ist doch der Clou unseres Polischinellentheaters. Ich werde mit meinem Freund Auguste Rodeur reden, daß er mir die Stücke für meine Gründung schreibt.«
»Aber das ist doch der Schleier, den ich bei der Beerdigung meiner Mutter getragen und den ich mir immer aufgehoben habe,« stammelte jetzt endlich Fleurette.
»Mein liebes Kind,« begann jetzt Aristide Poignard, indem er den schwarzen Kreppschleier wie eine Fahne schwang. »Der neue Kult der Vernunft duldet solche Reliquien nicht mehr. Machen wir also unter alles Vergangene einen Strich, setzen wir ihn definitiv unter die Rechnung, Fleurette.«
Mit diesen Worten ergriff er eine Schere, die auf Fleurettes kleinem Nähtisch, der vor dem Fenster stand, lag, und schnitt ein Stück Krepp aus dem Schleier.
»Mach dich an die Arbeit, Fleurette, und nähe ein Gewand, in dem sich ein Pfaffe sehen lassen kann, meine Teuerste.«
Schweigend machte sich Fleurette an die Arbeit.
Sie kauerte sich auf dem Stuhl vor ihrem kleinen Nähtisch nieder und griff zur Nadel. Aber die Tränen fielen aus ihren großen, dunkelbraunen Augen, die der Maler so oft und so ehrlich bewundert hatte, auf das Kleid des Priesters, das sie jetzt nach ihrer eigensten Idee zu Hohn und Spott aus dem Kreppstoff nähte, der ihr einstmals am Beerdigungstag ihrer Mutter in tiefem Ernste gedient hatte.
Fleurette war weiß Gott nicht weich. Sie war nicht tief. Das Leben am Theater und dann das weitere in den Cafés des Palais Royal hatte auch sie zu der gemacht, die sie im Grunde genommen doch alle waren. Und dennoch!
Es war ihr in diesem Augenblick, als trüge sie an dem Tage, da Chaumette den Kult der höchsten Schönheit verkündet und das Bild der Jungfrau gestürzt hatte, auch noch den letzten Rest von dem zu Grabe, was noch Eigenes, noch Persönliches, noch Heiliges auch an ihr, der käuflichen Priesterin der Liebe, gewesen war.
Und sie tat es nach dem Willen des Einzigen, den sie selbstlos geliebt hatte, und gerade, weil er es verlangte, tat sie es.
Ohne ein Wort des Widerspruchs machte sie sich an die Arbeit, von der sie nicht mehr aufsah, auch nicht, als Aristide Poignard den Hut nahm und ging.
Die Augen auf das Stück Krepp geheftet, fragte sie ihn:
»Wo willst du hin, Aristide?«
Und er:
»Meine vierzig Sous von heute zum letzten Male holen. In der Rue Richelieu wohnt ein Drechsler, der Puppenköpfe aus Holz feil hält. Ich werde mit ihm handeln. Ich denke, er wird mir das Dutzend um zwei Franken lassen. Dann kann die Affenkomödie mit den Königen und den Priestern, mit der Jungfrau und mit dem Heiland und mit dem lieben Gott ihren Anfang nehmen.«