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Buchschmuck

Erstes Kapitel.

Das Haupt der Österreicherin, von der das Volk behauptete, sie habe all das namenlose Leid über Frankreich gebracht, war gefallen. Dreimal machte der Gehilfe des Henkers den Rundgang um das Schafott und hob den blutbesudelten Kopf in die Höhe, der einst das Entzücken von ganz Europa gewesen. »Es lebe die Republik, es lebe die Freiheit!« scholl es ihm in vielhundertstimmigem Rufe entgegen. Der Jubel des Volkes erfüllte den Revolutionsplatz, er drang bis in die Tuilerien und brach sich an den festen Mauern des Temple, hinter denen die Kinder der Gerichteten in Ungewißheit ihres ferneren Schicksals harrten. Ganz Paris war auf den Beinen. Auf den Dächern der Häuser, in den Kronen der Ulmen hatten sich die Menschen mühevoll ihr Plätzchen erklettert. Und nun war es geschehen, das seit Monden erstrebte Ziel war erreicht. Revolutionstribunal und Konvent hatten das immer und immer wieder Verlangte bewilligt. Das Haupt der bis in den Tod verhaßten Fremden war in den Kot der Straße gerollt. Robespierre, der Unbestechliche, hatte auch dieses letzte Opfer gebracht.

Es war in der Mittagsstunde. Man schrieb den 16. Oktober 1793, und die Uhr zeigte ein Viertel auf eins.

Die Menge im Zaum zu halten, einen unvorhergesehenen Versuch zur Befreiung der Verurteilten zu vereiteln, hatten dreißigtausend Soldaten der Republik von der Conciergerie bis zum Revolutionsplatz Spalier gebildet. Aber jetzt, nachdem es vollendet, flutete die Menge frei und unbeschränkt durch die Rue Saint Honoré. Burschen und Mädchen in Trupps, die roten Mützen auf den heißen Köpfen, die dreifarbige Kokarde an deren Rande, die Trikolorenschärpen um Hüften oder Brust. Unentwegt erklangen die Marseillaise und das Ça ira von den Lippen der sich in wildem Gedränge stauenden Menge, und die Kehlen waren heiser und trocken.

Die Hände in den Hosentaschen, eine blendend weiße Schürze vorgebunden, wie sie alle die Jakobinermütze auf den schon ergrauenden und gelichteten Haaren, stand der Bürger François Levoisin vor dem Eingang seines an der Ecke der Rue Saint Honoré und Saint Roch gelegenen Cafés. Trotz der Kühle des Oktobertages, trotzdem die weißen Nebel des Herbstes in der Frühe über der Seine gelegen hatten, sein Geschäft würde heute schon blühen, denn die Freunde des Vaterlandes hatten Durst nach seinen Weinen und Spirituosen. Vater Levoisin war ein guter Bürger, trotzdem man ihn einst in den Tagen des Tyrannen zu den Royalisten gewählt hatte, weil seine Wirtschaft das Schild zu den drei weißen Lilien geführt. Nun hieß es zu den Rutenbündeln, und die Assignate der Republik waren gut Geld wie einst die Ecus und die Louisdors.

Ein behagliches und zufriedenes Grinsen ging jetzt über sein breites und glattrasiertes Gesicht, als er ein Häuflein Nationalgardisten auf den Eingang seiner Wirtschaft zusteuern sah.

»Nun, seid Ihr nicht bei den Zuschauern gewesen, Vater Levoisin?« redete ihn da einer der Uniformierten an.

Es war ein blutjunger Bursche von kaum neunzehn Jahren, dem noch der zarte Flaum um Kinn und Lippe sproßte.

»Ich dachte mir, daß Ihr Durst hättet, Bürgersoldat,« lautete Levoisins Antwort, »während Ihr am Werke wart, habe ich Euch für einen erfrischenden Trunk gesorgt.«

»Das ist recht von Euch, Vater Levoisin, das Köpfen macht in der Tat Durst.«

Die übrigen Nationalgardisten, in deren Begleitung sich der junge Mensch befand, brachen infolge dieser Bemerkung in lautes Lachen aus.

»Hat sie sich tapfer benommen?« forschte Vater Levoisin voll Neugierde.

»Gebt mir einen Schoppen Bourgogne, Bürger, kommt herein, ich erzähle Euch dann der Ordnung nach.«

Die Nationalgardisten betraten in Begleitung des Bürgers Levoisin das Café.

»Bürgerin Louise Marteau,« rief der Wirt dem bedienenden Mädchen zu.

»Jawohl, Bürger Levoisin!«

Auch das hübsche Mädchen, das hier hinter dem Schanktisch des Bürgers Levoisin stand, trug die dreifarbige Kokarde auf der gewölbten Brust.

»Der Bürgersoldat Parmentier will einen Schoppen Bourgogne haben, Bürgerin Louise Marteau ... und die anderen Bürger?«

Die Nationalgardisten bestellten.

Als die Getränke aufgetragen waren, nahm Vater Levoisin am Tisch seiner Gäste Platz. Auch die Bürgerin Louise Marteau gesellte sich zu den Männern und hörte mit fieberheißen Wangen der Erzählung des jungen Bürgersoldaten Parmentier zu, der jetzt begann:

»Ich habe auf dem Revolutionsplatz gestanden, Vater Levoisin, als der Karren, der von der Conciergerie kam, aus der Rue Saint Honoré bog. Aber der Bürgersoldat Laurent soll Euch zuerst erzählen, er ist in der Conciergerie gewesen an diesem Vormittag, da man die Witwe Tapet zu dieser Spazierfahrt gebeten hat. Und auch der Bürgersoldat Fénot weiß zu berichten. Dann käme erst meine Wenigkeit an die Reihe, Vater Levoisin, Laurent soll den Anfang machen.«

Laurent, ein im blutigen Soldatenhandwerk der Zeit Ergrauter, der heute mit dem gleichen Eifer dem Konvent seine Dienste leistete, mit dem er sie einst dem Tyrannen geweiht hatte, strich sich mit dem Rücken der Hand über die Lippen, nachdem er sein Viertel »Vin blanc« geleert hatte, und sagte:

»Ja, wenn Ihr hören wollt, Bürger Levoisin, und Ihr, Bürgerin Louise Marteau ...«

Eine rasche Gebärde der Ungeduld von seiten Vater Levosins bildete die Antwort auf diese Frage. Dann begann der Bürgersoldat Laurent, und alles lauschte mit hochgeröteten Köpfen, Fieber auf den Wangen.

Die Bürgerin Louise Marteau stützte den schönen Kopf auf beide Ellenbogen. Sie vergaß ganz die übrigen Gäste zu bedienen, die nun in Haufen in das Café Vater Levoisins eindrangen und sich um den Tisch gruppierten, an dem die Soldaten der Nationalgarde Platz genommen hatten.

Wenn ihre Augen einen Moment von den Lippen Laurents, des Graukopfs, wegschweiften, suchten sie das schöne, schmale Gesicht des Bürgersoldaten Parmentier, dem die schmucke Uniform der Republik so seltsam ernst zu seinem fast noch knabenhaften Äußern stand.

Sogar Vater Levoisin schien in dieser Stunde das schöne Geschäft ganz zu vergessen. Er dachte gar nicht daran, daß all die Leute, die aus der Rue Saint Honoré unablässig in das Café zu den Rutenbündeln hereinströmten, die Assignate in den Taschen trugen, und daß sie die in Wein und Spirituosen verwandeln wollten, so sehr nahm auch ihn die Erzählung des Unfaßlichen, das sich heute ereignet hatte und dessen Schilderung nun von Laurents Lippen kam, gefangen.

Ein feiner Sprühregen des Herbstes ging draußen über der Rue Saint Honoré nieder. Er schlug wider die fast blinden Scheiben des Cafés, die man in der Aufregung der letzten Zeit seit Wochen nicht geputzt hatte. Er hüllte Paris samt den Tuilerien und dem Revolutionsplatz in einen eintönig grauen Schleier.

»Ich habe mit Madame Bault gesprochen,« begann der alte Laurent seine Erzählung.

»Wer ist das, Madame Bault?« fragte die Bürgerin Louise Marteau voll Neugierde.

»Madame Bault? Das wißt Ihr nicht, Bürgerin Louise Marteau?« kam es jetzt fast wie in einem Tone des Vorwurfs von den Lippen des alten Laurent. »Madame Bault ist die Frau des Kerkermeisters, dem der Konvent die Witwe Capet in der Conciergerie anvertraut hat. Sie und ihre Tochter sind sehr liebenswürdig zu der Österreicherin gewesen, viel zu liebenswürdig. Man erzählt, daß Madame Bault ihr jeden Morgen das Fenster mit Blumen geschmückt hat.«

»So sind das also Feinde des Vaterlandes und der Republik,« knurrte der junge Parmentier unwillig vor sich hin. »Man sollte diese Madame Bault samt ihrer Tochter dem Überwachungsausschuß anzeigen!«

Mit einem Blick des Schreckens maß die Bürgerin Louise Marteau den jungen Soldaten, an dessen Gesicht sie noch eben mit dem Ausdruck der Begeisterung gehangen hatte.

»Man soll doch nicht jede Regung der Menschlichkeit als Feindschaft gegen das Vaterland und die Republik auslegen, Bürgersoldat Parmentier,« erwiderte sie nun mit ein wenig zitternder Stimme.

Aber der Bürgersoldat verwies sie kurz:

»In dieser Zeit, Bürgerin Louise Marteau, gibt es keine Halbheiten, wißt Ihr nicht, daß Tausende gegen die Unteilbarkeit und Einheit der Republik konspirieren, daß der Süden im Aufstand begriffen ist und die Waffen für den Tyrannen ergreift, wißt Ihr nicht, daß man in Pitts Auftrag in England falsches Geld verfertigt und nach Frankreich sendet, um die Sache der Freiheit in Gefahr zu bringen? Wißt Ihr das alles nicht, Bürgerin Louise Marteau? Und Ihr habt noch ein Wort der Verteidigung übrig für eine Bürgerin, die der Witwe Capet das Fenster mit Blumen schmückt? Aber Robespierre ist unbestechlich. Er allein ist der wahre Republikaner. Er hat Catos Geist in sich aufgenommen und das ist unser aller Glück!«

Der Bürgersoldat Parmentier erhob das mit blutrotem Burgunder gefüllte Glas und rief:

»Es lebe Robespierre! Nieder mit allen Feinden des Vaterlands! Nieder mit den Tyrannen!«

Und das ganze jetzt von Menschen überfüllte Café in der Rue Saint Honoré stimmte begeistert in diesen Ruf ein.

Die Bürgerin Louise Marteau senkte den Blick, war sie doch zu weich für diese heroischen Zeiten, doch zu sehr Weib, zu sehr erfüllt von frauenhaftem Mitleiden und Empfinden, als daß sich der glühende Wunsch ihres Herzens erfüllen durfte, dermaleinst die Genossin, die Gefährtin, das Weib dieses jungen Parmentier zu werden, dessen helle, blaue Augen so freundlich in die Welt blicken konnten und die trotzdem kein Erbarmen zu kennen schienen, wenn der Karren des Henkers mit den Opfern des Revolutionstribunals durch die Gassen von Paris zu der Maschine neben der Freiheitsäule rollte. So mußte die Bürgerin Louise Marteau in diesem Stunde denken, als der alte Laurent seinen Bericht über den letzten Lebensmorgen der Witwe Capet, den die im Saale der Verurteilten in der Conciergerie verbracht hatte, begann.

»Also, wenn Ihr endlich hören wollt,« berichtete der alte Laurent. »Ich war von dem Detachement, das den Karren des Henkers von der Conciergerie nach dem Revolutionsplatz zu begleiten hatte. Madame war sehr elegant. Madame Bault hatte sie selbst mit aller Sorgfalt frisiert. Die Haars hochgesteckt ... selbstverständlich ...«

Alle lachten.

Purpurglut stieg bei diesen Worten des alten Laurent in das Gesicht der Bürgerin Louise Marteau.

»Madame Capet hatte sich ein weißes Kleid angelegt. Es stand ihr gut, viel besser als die Goldgewänder in den Tuilerien und in Versailles. Ma foi, viel besser! Ein weißes Kleid mit einem schwarzen Band. Ein zartes und schneeiges Spitzentuch bedeckte ihre Schultern, Bürgerin Louise Marteau, und eine Haube ihren Kopf. Aber vor der Conciergerie, da ging es Euch her ... kunterbunt ... sage ich Euch! Die Menschen drängten bis in den Hof. Da war kein Plätzchen mehr, keines an den Fenstern, keines auf den Dächern, keines auf den Bäumen. Den ganzen langen Weg nicht ein einziges Plätzchen!«

»Weiter, weiter, Bürgersoldat Laurent,« klang es dem Erzählenden nun entgegen.

»Es war Schlag elf, als wir den Saal der Verurteilten in der Conciergerie betraten, die Gendarmen, die Soldaten, der Henker und seine Gehilfen.

»Und was für ein Gesicht machte die Witwe Capet, als sie diesen Besuch bemerkte?« fragte da Vater Levoisin.

Sie schenkte uns keinen Blick, Bürger! Sie war hochnäsig wie immer, noch auf diesem letzten Gange, auf dem es wahrhaftig doch nichts mehr zum Spaßen gab! Sie schloß die Tochter der Madame Bault in ihre Arme und verlangte nach einer Schere ...«

»Nach einer Schere? ... Sie wollte sich umbringen? Wollte sich dem Spruch des höchsten Gerichtes entziehen?« fragte jetzt der Bürgersoldat Parmentier in eisiger Strenge.

»Aber nicht doch, Bürgersoldat Parmentier. Man gab ihr die Schere und sie selbst schnitt sich die langen Locken vom Haupt, die ein einziger Tag in Versailles weiß gefärbt hat. Ihr wißt es doch noch?«

»Freilich weiß ich es noch! Gesegnet jener Tag? Es sind jetzt gerade vier Jahre. Ich war damals noch ein Bengel von fünfzehn. Da brach der Morgen der Freiheit an. Er lebe, dieser Tag! ... Der sechste Oktober soll leben!«

Wieder klangen die Gläser nach dieser Aufforderung des jungen Bürgersoldaten Parmentier aneinander.

Möchte es allen Feinden der einen und unteilbaren Republik so ergehen, wie der Witwe Capet,« vollendete er, glühenden Haß in den hellen, blauen Augen.

Und die Bürgerin Louise Marteau war in diesem Moment außerstande ihn anzublicken.

»Ihr hättet sie sehen sollen.« fuhr Laurent fort, »wie eine Königin verließ sie den Saal der Verurteilten und die Conciergerie.«

»Ich bitte mir es aus, solche Worte sind zu vermeiden.« warf Parmentier haßerfüllt dazwischen.

»Die Tage der Tyrannen sind ein- für allemal vorbei, Bürgersoldat Laurent! Erhabenheit! Sie sei das Losungswort der einzigen und unteilbaren Republik, meine Freunde! Römische Erhabenheit, wie sie dem einen eignet, ihm, dem Unbestechlichen! Es lebe Robespierre!«

In der Nähe des Eingangs zum Café, wo man die Worte des Bürgersoldaten Parmentier und Laurents Erzählung nicht verstehen konnte, stimmte eine Gruppe von Leuten wieder das »Ça ira« zu Ehren des großen Volkstribunen an.

Nachdem das aus heiseren Kehlen gegröhlte Lied verklungen, kam Laurent wieder zu Wort.

»Im Hofe stutzte die Witwe Capet doch!«

»Wovor stutzte sie?« rief jetzt ein gutes Dutzend Stimmen wie aus einem Munde. »Verließ sie ihr Mut?« Hatte sie Furcht?«

»Sie stutzte vor dem Karren!«

»Vor dem Karren?«

»Sie hatte offenbar erwartet, der Konvent würde ihr eine Galakutsche für die Reise zu der Maschine bewilligen, wie einst dem Bürger Capet. Aber die Tage sind um. Der Berg ist jetzt am Ruder. Robespierre läßt seiner nicht spotten. Er ist unbestechlich. Er kennt keine Ausnahmen, und die Führer der Gemäßigten sitzen Gottlob hinter Schloß und Riegel, auch sie harren des Urteils ... Egalité ... einer wie der andere ... heiße er Roland oder Capet ... alle auf denselben Karren ... So verlangt es unsere Mutter, Kinder, die eine und unteilbare Republik ... Also, sie stutzte ... Dann bestieg sie mit Hilfe des Henkers und des Abbé Lothringer den Karren ...«

»Des Abbé? ... Hat sie den nicht zurückgewiesen? ... Lothringer ist doch ein Abbé der Republik!«

»Fénot wird Euch nachher davon erzählen, er weiß, was in der Rue Saint Honoré passiert ist. Sie ertrug den Abbé, aber seinen Segen nahm sie nicht an, denn Lothringer ist ein Abbé der Republik ... Das aber hättet ihr hören sollen, Kinder, als der Karren auf dem Hof der Conciergerie wandte und dann in die Straße fuhr. Tausend ... was sag ich ... zehntausend, nein, hunderttausend Stimmen, nein, ganz Paris, nein, die Welt schrie es ihr in das Gesicht. Es war wie ein Wirbelsturm, wie das Branden des Meeres ist er gewesen, Kinder, dieser Ruf: Es lebe die Republik! … Platz der Österreicherin, Platz der Witwe Capet! ... So macht ihr doch Platz! ... Es lebe die Republik! ... Es war ein Moment, Kinder, der jeden Freund der Freiheit in Entzücken und Taumel versetzen mußte.«

Laurent nahm einen langen Schluck aus seinem Glase, wischte sich wieder den bärtigen Mund mit dem breiten Rücken seiner Hand und sagte noch einmal:

»Ja, das war ein Moment, Kinder, ein unvergeßlicher!«

»Daß ich in diesem Moment schon zu Füßen des Blutgerüstes stand,« bedauerte der junge Parmentier.

»Kennt Ihr Grammont?« fragte da Laurent.

»Den früheren Schauspieler, Rossins rechte Hand, natürlich kennen wir den!«

»Der gab das Zeichen, Kinder, der zog seinen Säbel, der deutete auf die Österreicherin, als sie auf dem Karren den Hof der Conciergerie verlassen hatte. Auf seinen Wink erscholl jener vieltausendstimmige Ruf. Und dann ging es über das holprige Pflaster. Sie konnte nicht sitzen, ihre Hände waren gefesselt, unmöglich für sie, sich festzuhalten, und der Karren wackelte hin und her. Das war ein Anblick! ›Das sind nicht die Daunenkissen von Trianon!‹ schrien da die Weiber auf der Gasse, und alles brach in schallendes Gelächter aus. Das war ein Fest! Es lebe die Freiheit, Kinder! Allen ihren Feinden soll es ergehen wie der Witwe Capet!«

Voll Blutgier nahmen die Zuhörer das Unfaßliche in sich auf. Sie tranken die Worte, diese grausamen Worte, von den Lippen des Erzählenden, und der Brand des Fanatismus färbte ihre Wangen.

Nur die Bürgerin Louise Marteau war leichenblaß geworden und starrte wie abwesend vor sich hin.

»Weiter, weiter, Bürgersoldat Laurent,« drängten die Stimmen aller übrigen.

»Jetzt hättet ihr ihr Gesicht sehen sollen, Kinder, ihr Gesicht, das war bald blaß und bald rot ... Man sah das Blut unter ihrer Haut pulsieren. Der Karren schüttelte sie, so holpricht war das Pflaster. Ihre Kleider gerieten in Unordnung. Das schwarze Band, mit dem sie die Haare hochgebunden, löste sich, und die Stumpfe ihrer Locken fielen ihr da über den Hinterkopf. Ihre Augen starrten. Sie waren wie die eines gestochenen Kalbes. Noch nie hab' ich solche Augen gesehen, Kinder. Solches Entsetzen in den roten, geschwollenen, heißen, trockenen Augen! ... Ich versichere euch ... mutig ist die Witwe Capet gewesen, denn nicht eine einzige Träne hat sie geweint.«

»Schrecklich, schrecklich ...« Kam es ganz leise von den Lippen der Bürgerin Louise Marteau. »Man kann nicht mehr weinen. Es gibt Momente und Situationen, in denen man nicht einmal mehr weinen kann!«

»Ihr habt ja Mitleid mit den Tyrannen,« verwies da der junge Bürgersoldat Parmentier aufs neue, »Das gefällt mir nicht an Euch, an Euch am allerwenigsten, Bürgerin Louise Marteau!«

Keiner Antwort fähig, blickte das junge Mädchen vor sich hin. Aber sie war nicht dazu imstande, die heißen Tränen zu verbergen, die nun in großen und hellen Tropfen auf ihre blühend weiße Schürze niederfielen.

»Die Freunde der Freiheit und der Republik,« rief da der Bürgersoldat Parmentier und stieß aufs neue mit Fénot, Laurent und Vater Levoisin an.

»Sie nagte an ihrer Unterlippe, als sie meinen Blicken entschwand,« vollendete nun Laurent. »Wenn ihr weiteres wissen wollt, dann fragt Fénot. Er hat unter den Spalierbildenden hinter dem Pont au change in der Rue Saint Honoré gestanden. Fragt Parmentier, er war bei denen, die der Wille der Regierung an die Füße ihres Schafotts geführt hat.«

»Erzählt weiter, Fénot, erzählt weiter, Parmentier,« rief es jetzt von allen Seiten.

Fénot, der wohlbeleibte, der in diesen Tagen des neuen Brutus und des neuen Cato allein an das Bild Cäsars erinnerte, bestellte bei Vater Levoisin eine frische Kanne »Vin blanc«.

Langsam und behaglich, wie ein Mensch, der nichts zu versäumen hat, goß er sich ein.

»Eure Gesundheit, Bürgersoldat Laurent,« begann er, »Ihr versteht wacker zu erzählen!«

Dann trank er, nahm das feiste Kinn in die Hand, sah die Tafelrunde und die im Café zu den Rutenbündeln Umherstehenden wichtig an und meinte:

»Ja, in der Rue Saint Honoré, da gab es einen Zwischenfall, für den man noch keine Erklärung hat.«

»Einen Zwischenfall, wie meint Ihr das, Bürgersoldat Fénot? Haben etwa die Royalisten einen Versuch gemacht, die Österreicherin zu befreien?«

Fénot lachte.

»Dreißigtausend Soldaten der Republik, dreißigtausend Soldaten Robespierres, Bürger, und einen Versuch, sie zu befreien ... ha, ha, ha ... dreißigtausend, mein Freund, dreißigtausend ... versteht Ihr auch, was das heißt, dreißigtausend, und alle dreißigtausend treu wie Gold! Das glaubt Ihr doch selbst nicht. Bürgersoldat Parmentier, daß da jemand den Versuch wagen würde, sie zu befreien. Ihr seht Gespenster, Bürgersoldat Parmentier, vor lauter Sorge um die Republik seht Ihr am hellen Tage Gespenster!«

»Man kann heute nicht streng genug sein, Bürgersoldat Fénot, nicht streng genug gegen sich selbst und gegen die andern in diesen Tagen. Nehmt Euch ein Beispiel an Robespierre, dem Unbestechlichen, und nun erzählt von Eurem Zwischenfall!«

»Es ging also ganz langsam durch die endlose Rue Saint Honoré. Die Witwe Capet schien ihre Ruhe wiedergefunden zu haben, Abbé Lothringer redete in einem zu in sie hinein, aber sie hörte nicht auf ihn. Ihre Blicke hingen an den Fenstern der Häuser, als ob sie dort etwas suchten.«

»Was hatte sie dort zu suchen, Bürgersoldat Fénot,« fragte Parmentier schon wieder in argwöhnischem Tone.

»Das weiß ich doch nicht, Bürgersoldat Parmentier. Man war wohl der Meinung, die Inschriften, die Trikoloren, die roten Mützen der Freunde der Freiheit, die Rutenbündel und die Kokarden brächten sie in Verwirrung ... aber ...«

»Aber ...«

Es war wieder der junge Parmentier, dem dieses Wort entschlüpfte.

»Man erzählt ...«

»Was erzählt man, Bürgersoldat Fénot?«

»Ich weiß nicht, ob es wahr ist, aber man erzählt, daß sich in einem Haus der Rue Saint Honoré ein katholischer Priester versteckt gehalten habe und daß der der vorüberfahrenden Witwe Capet vom Fenster aus den Segen erteilt hätte.«

»Von welchem Fenster aus und in welchem Hause?« rief jetzt Parmentier in wilder Erregung.

»Das weiß ich nicht, Bürgersoldat, man erzählte es nur. Tatsache ist ...«

»Was ist Tatsache?«

»Daß die Witwe Capet im Vorüberfahren den Kopf unter dem Fenster eines Hauses senkte, als ob sie den Segen aus Priesterhand empfange, und daß sie mit dem Haupt dreimal nickend das Zeichen des Kreuzes machte, da ihre Hände doch gefesselt waren ... das ist alles, was ich weiß und was man mir gesagt hat.«

»Man soll es dem Ausschuß berichten. Man soll die Häuser der Rue Saint Honoré absuchen lassen,« rief da der junge Parmentier. »Kein Feind der Freiheit soll in diesen Tagen dem Beil der Gerechtigkeit entgehen. Wenn wir einen schonen, dann können wir auch den Tod der Tausende nicht verantworten. Wollt Ihr mir behilflich sein, Bürgersoldat Fénot, diesen Priester ausfindig zu machen, der sich in einem Hause der Rue Saint Honoré versteckt hält?«

Fénot lächelte.

»Aber das hat man doch nur erzählt, Bürgersoldat Parmentier, weiter weiß ich nichts. Ihr seid noch jung. Ihr könnt es in diesen Zeitläuften noch höllisch weit bringen. Laßt Euch ins Tribunal wählen, in den Ausschuß, in den Konvent ... Es lebe Silvain Parmentier gleich Robespierre, dem Unbestechlichen!«

Alle lachten über diesen Vergleich, der den jungen Bürgersoldaten, den kein Mensch kannte, einfach an die Seite des großen Volkstribunen stellte. Aber Silvain Parmentier blieb durchaus ernst.

»Ich nehme Euren Trinkspruch an, Bürgersoldat Fénot,« sagte er einfach. »Die Republik und das Vaterland brauchen Männer in diesen Tagen, unbestechliche Männer, wie der große Robespierre einer ist. Männer, wie Marat und Danton welche sind, die weder nach links, noch rechts blicken, Männer, die geradeaus schauen. Und in diesem Sinne nehme ich Euren Trinkspruch an, Vater Fénot! Ich werde meinen Mann stellen. Auch wenn sich die Leichen häufen, wenn dies nur des Blutbades Anfang war, verlaßt Euch drauf! So lange die Sache der Freiheit noch ein Opfer fordert!«

Der junge Bürgersoldat Parmentier hatte sich erhoben. Seine Wangen glühten, der Atem der Freiheit, von dem sie alle fabulierten und träumten, umspielte, wie er in dieser Stunde wähnte, auch seine jungen und blonden Locken. Der heilige Gedanke der einzigen und unteilbaren Republik, die zur Sache der gesamten Menschheit geworden, thronte auch auf seiner Stirn, und aus diesem Grunde wurde jetzt seine Erzählung zur hinreißenden Rede, die wie der Lavastrom des entfesselten Vulkans durch das Café zu den Rutenbündeln ging.

Louise Marteau war entsetzt. Aber sie war auch stolz und beglückt. Und wie der Bürgersoldat Parmentier so vor ihr stand, wie er so vor ihr redete, als sei er Marat, Danton und Robespierre in einer einzigen Person, da ward es ihr zum ersten Male klar, wie sie ihn liebte, da fühlte sie, daß sie bereit sein könne und bereit war, ihm alles zum Opfer zu bringen, da wußte sie, daß sie mit ihm Hand in Hand schreiten würde durch dieses Paris der Leichen und des Blutes, über Haufen und Haufen von der Freiheit zum Opfer Gefallenen bis an die Stufen des Schafotts und weiter und weiter, diese Stufen hinan, wenn es galt, das Haupt dem Fallbeil zu beugen, um Blutzeugnis für der Menschheit größte Sache abzulegen. Schauer der Bewunderung im Herzen, so liebte sie ihn, so sah sie ihn an. Dieser Jüngling von neunzehn, der aussah wie ein Knabe, von dessen Lippen die Worte wie die Bluturteile des Konvents fielen, er ward in ihren Augen zum Träger der Zukunft, zum Propheten seiner Zeit. Sie sträubte sich, ihm zu folgen, und dennoch folgte sie. Wogend ging ihr Busen auf und nieder, ihre Wangen flammten, und ihre Lippen zitterten, als sie jetzt die Worte seines Mundes vernahm:

»Bürger,« kam es von den Lippen Silvain Parmentiers, »Freunde der Freiheit, Brüder! Ich habe auf den Stufen ihres Schafotts gestanden, als das verhaßte Haupt der Fremden fiel. Ich habe ihre letzten, ihre stolzen, herrischen und unversöhnlichen Blicke gesehen, die dem eitlen Schloß der Tuilerien und den festen Türmen des Temple gegolten haben. So sollten alle Freunde der Freiheit enden! So lange noch ein Tropfen Blut in unsern Adern fließt, alle enden wie diese da von Henkershand. Bei dem höchsten Wesen, Brüder, vor dem wir uns alle in Demut beugen, bei der Vernunft, die von nun ab die Geschicke der Menschen trotz Pfaffen und Tyrannen allein lenken soll. Jeder Feind falle wie diese da!«

Und wie das Brausen des Lenzsturmes ging es bei diesen Worten des Bürgersoldaten Parmentier durch das Café Vater Levoisins. Der Sturm pflanzte sich fort. Er drang hinaus in die von Menschen flutende Rue Saint Honoré, er breitete sich aus, weiter und weiter bis zu den Tuilerien und dem Temple, in dessen Verließen die letzten Opfer schmachteten ... er ging durch Paris, durch Frankreich, durch die Welt.

Entgeistert, der Gegenwart entrückt, blickte Louise Marteau den Bürgersoldaten Silvain Parmentier an. Sie liebte ihn. Bis an die Stufen des Schafotts und weiter ... bis an das fallende Beil!


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