Adalbert Stifter
Der Nachsommer
Adalbert Stifter

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Meine Reise wurde nun keinen Augenblick mehr verzögert. Ich nahm von den Meinigen Abschied und fuhr eines Tages zu dem Tore unserer Stadt hinaus.

Ich ging zuerst über die Schweiz nach Italien; nach Venedig, Florenz, Rom, Neapel, Syrakus, Palermo, Malta. Von Malta schiffte ich mich nach Spanien ein, das ich von Süden nach Norden mit vielfachen Abweichungen durchzog. Ich war in Gibraltar, Granada, Sevilla, Cordoba, Toledo, Madrid und vielen anderen, minderen Städten. Von Spanien ging ich nach Frankreich, von dort nach England, Irland und Schottland und von dort über die Niederlande und Deutschland in meine Heimat zurück. Ich war um einen und einen halben Monat weniger als zwei Jahre abwesend gewesen. Wieder war es Frühling, als ich zurückkehrte, die mächtige Welt der Alpen, der Feuerberge Neapels und Siciliens, der Schneeberge des südlichen Spaniens, der Pyrenäen und der Nebelberge Schottlands hatten auf mich gewirkt. Das Meer, vielleicht das Großartigste, was die Erde besitzt, nahm ich in meine Seele auf. Unendlich viel Anmutiges und Merkwürdiges umringte mich. Ich sah Völker und lernte sie in ihrer Heimat begreifen und oft lieben. Ich sah verschiedene Gattungen von Menschen mit ihren Hoffnungen, Wünschen und Bedürfnissen, ich sah Manches von dem Betriebe des Verkehrs, und in bedeutenden Städten blieb ich lange und beschäftigte mich mit ihren Kunstanstalten, Bücherschätzen, ihrem Verkehre, gesellschaftlichem und wissenschaftlichem Leben und mit lieben Briefen, die aus der Heimat kamen, und mit solchen, die dorthin abgingen.

Ich kam auf meiner Rückreise früher in die Gegend des Asperhofes und des Sternenhofes als in meine Heimat. Ich sprach daher in beiden ein. Alles war sehr wohl und gesund und fand mich sehr gebräunt. Hier erfuhr ich auch eine Veränderung, die mit meinem Vater vorgegangen war und die sie mir in den Briefen verschwiegen hatten, damit ich überrascht würde. Alle seine Anspielungen, daß er plötzlich einmal in den Ruhestand treten werde, daß er sich, ehe man sichs versehe, auf dem Lande befinden werde, daß sich Vieles ereignen werde, woran man jetzt nicht denke, daß man nicht wisse, ob man nicht den Reisewagen öfter brauchen könne, waren in Erfüllung gegangen. Er hatte sein Handelsgeschäft abgetreten und hatte den auf einer sehr lieblichen Stelle zwischen dem Asperhofe und Sternenhofe gelegenen, verkäuflich gewordenen Gusterhof gekauft, den er eben für sich einrichten lasse. Man freute sich schon darauf, wie er sich in diesem neuen Besitztume häuslich und wohnlich niederlassen werde. Ich nahm mir nicht Zeit, diesen Hof, den ich von Außen kannte, zu besuchen, weil ich Natalien, die mir wie ein Gut wieder gegeben worden war, nicht noch unnötig länger von meiner Seite entfernt wissen wollte. Nach innigem Empfange und Abschiede reiste ich zu meinen Eltern, und reiste Tag und Nacht, um bald einzutreffen. Sie wußten von meiner Ankunft und empfingen mich freudig. Ich richtete mich sogleich in meiner Wohnung ein. Es war mir seltsam und wohltuend, den Vater jetzt immer zu Hause und ihn stets mit Plänen, Entwürfen, Zeichnungen umringt zu sehen. Er war während meiner Abwesenheit fünf Male in dem Gusterhofe und bei diesen Gelegenheiten öfter bei Mathilde oder Risach als Gast gewesen. Die Mutter und Klotilde hatten ihn zweimal begleitet. Er war in diesen zwei Jahren um ein gut Teil jünger geworden. Auch die Bewohner des Sternen- und Asperhofes hatten sich einmal im Winter bei meinen Eltern als Gäste eingefunden. Die Bande waren sehr schön und lieb geflochten.

Gleich am ersten Tage meiner Anwesenheit im elterlichen Hause führte mich meine Mutter in die Zimmer, die für mich und Natalien als Wohnung hergerichtet worden waren, wenn wir uns in der Stadt aufhalten wollten. Ich hatte gar nicht gedacht, daß in dem Hause so viel Platz sei, so geräumig war die Wohnung. Sie war zugleich so schön und edel angeordnet, daß ich meine Freude daran hatte. Ich sprach bei dieser Gelegenheit von dem Vermählungstage, und die Mutter antwortete, daß der Vater glaube, es sei nun keine Ursache einer Säumnis, und von uns, als von der Seite des Bräutigams, müsse die Anregung ausgehen. Ich bat um Beschleunigung, und am folgenden Tage gingen schon unsere Briefe in den Sternenhof und zu Risach ab. In Kurzem kam die Antwort zurück, und der Tag war nach unsern Vorschlägen festgesetzt. Der Sammelplatz war der Asperhof.

Meinem Versprechen getreu stellte ich mich nun auch bei der Fürstin. Sie war schon auf ihren Landsitz abgereist. Ich schrieb ihr daher einige Zeilen, daß ich zurück sei, und zeigte ihr meinen Vermählungstag an. In kurzer Zeit kam eine Antwort von ihr nebst einem Päckchen, welches ein Erinnerungszeichen an meine Vermählungsfeier von ihr enthalte. Sie könne es mir nicht persönlich übergeben, weil sie seit einigen Wochen kränklich sei und sich deshalb so früh auf das Land habe begeben müssen. Das Erinnerungszeichen liege schon seit länger in Bereitschaft. Ich öffnete das Päckchen. Es enthielt eine einzige, aber sehr große und sehr schöne Perle. Die Fassung war fast keine. Nur ein Stengel und ein Goldscheibchen hafteten an der Perle, daß sie eingeknöpft werden konnte. Ich freute mich außerordentlich über die Gesinnung der edlen Fürstin, über die Trefflichkeit des Geschmackes und über dessen Sinnigkeit; denn eine Perle ist es ja in meinen Augen, die ich mir als Geschenk an meine Brust zu heften im Begriffe war. Ich schrieb eine innige Dankantwort zurück.

Unsere Vorbereitungen waren bald gemacht, und wir reisten ab.

»Wir können ja unsere letzten Rüstungen in meinem Landhause machen«, sagte der Vater mit heiterem Lächeln.

Wir fuhren in den Gusterhof. Eine kleine, aber freundlich bestellte Wohnung, die der Vater vorläufig für solche Gelegenheiten hatte herrichten lassen, empfing uns. Es war ein liebliches Gefühl, in unserem eigenen, uns zugehörigen Landsitze zu sein. Der Vater schien dieses Gefühl am tiefsten zu hegen, und die Mutter freute sich dessen ungemein. Wir blieben hier so lange und vervollständigten unsere Vorbereitungen, daß wir zwei Tage vor der Vermählung in dem Asperhofe eintreffen konnten. Mathilde und Natalie waren schon anwesend, da wir ankamen. Wir begrüßten uns herzlich. Alles war in einer gewissen Spannung der Vorbereitungen. Ich konnte Natalien oft nur auf einige Augenblicke sehen. Klotilde wurde auch sofort hineingezogen. Botschaften kamen und gingen ab, Gäste und Trauzeugen trafen ein. Ich selber war in einer Art Beklemmung.

Am Nachmittage des ersten Tages fand ich einmal Mathilden, meinen Gastfreund und Gustav im Lindengange auf und ab wandeln. Ich gesellte mich zu ihnen. Gustav verließ uns bald.

»Wir sprachen eben davon, daß mein Sohn sich nun bald von hier entfernen und in die Welt gehen müsse«, sagte Mathilde, »habt ihr ihn nach eurer Reise nicht auch verändert gefunden?«

»Er ist ein vollkommener Jüngling geworden«, erwiderte ich, »ich habe auf meinen Reisen keinen gesehen, der ihm gleich wäre. Er war ein sehr kraftvoller Knabe und ist auch ein solcher Jüngling geworden, aber, wie ich glaube, gemilderter und sanfter. Ja, sogar in seinen Augen, die noch glänzender geworden sind, erscheint mir etwas, das beinahe wie das Schmachten bei einem Mädchen ist.«

»Es freut mich, daß ihr das auch bemerkt habt«, sagte mein Gastfreund, »es ist so, und es ist sehr gut, wenn auch gefährlich, daß es so ist. Gerade bei sehr kraftvollen Jünglingen, deren Herz von keinem bösen Hauche angeweht worden ist, tritt in gewissen Jahren ein Schmachten ein, das noch holder wirkt als bei heranblühenden Mädchen. Es ist dies nicht Schwäche, sondern gerade Überfülle von Kraft, die so reizend wirkt, wenn sie aus den meistens dunkeln, sanftschimmernden Augen blickt und gleichsam wie ein Juwel an den unschuldigen Wimpern hängt. Solche Jünglinge dulden aber auch, wenn böse Schicksalstage kommen, mit einem Starkmute, der der Krone eines Märtyrers wert wäre, und wenn das Vaterland Opfer heischt, legen sie ihr junges Leben einfach und gut auf den Altar. Sie können aber auch zu falscher Begeisterung getrieben und mißbraucht werden, und wenn ein solches Jünglingsauge zu rechter Zeit in das rechte Mädchenauge schaut, so flammt die plötzlichste, heißeste, aber oft auch unglücklichste Liebe empor, weil der junge, unverfälschte Mann sie fast unausrottbar in sein Herz nimmt. Wir werden, wenn die jetzige Angelegenheit vorüber ist, weiter von dem sprechen, was etwa not tut.«

»Ich sehe ja das Gute und die Gefahr«, sagte Mathilde.

Wir gingen bald in das Haus zurück.

»Er muß in die Härte der Welt, die wird ihn stählen«, sagte mein Gastfreund auf dem Wege dahin.

 

Endlich war der Vermählungstag angebrochen. Die Trauung sollte am Vormittage in der Kirche zu Rohrberg stattfinden, in welche der Asperhof eingepfarrt war. Der Versammlungsort war der Marmorsaal, dessen Fußboden zu diesem Zwecke mit feinem grünem Tuche überspannt worden war. Gleiches Tuch lag auf allen Treppen. Ich kleidete mich in meinen Zimmern an, tat ein Gebet zu Gott und wurde von einem meiner Trauzeugen in den Marmorsaal geführt. Von unsern Angehörigen waren erst die Männer dort. Die Zeugen und die meisten Gäste waren zugegen. Risach war im Staatskleide und mit allen seinen Ehren geschmückt. Da tat sich die Tür, die von dem Gange hereinführte, auf und Natalie mit ihrer und meiner Mutter, mit Klotilden und mit noch andern Frauen und Mädchen trat herein. Sie war prachtvoll gekleidet und mit Edelsteinen gleichsam übersät; aber sie war sehr blaß. Die Edelsteine waren in mittelalterlicher Fassung, das sah ich wohl; aber ich hatte nicht die Stimmung, auch nur einen Augenblick darauf zu achten. Ich ging ihr entgegen und reichte ihr sanft die Hand zum Gruße. Sie zitterte sehr.

Mein Gastfreund sagte zu meinen Eltern: »Das Lieblingsgespräch eures Sohnes waren bisher seine Eltern und seine Schwester, wer ein so guter Sohn ist, wird auch ein guter Gatte werden.«

»Die schöneren Eigenschaften, die eine Zukunft gewähren«, sagte mein Vater, »hat er von euch gebracht, wir haben es wohl gesehen und haben ihn darum immer mehr geliebt, ihr habt ihn gebildet und veredelt.«

»Ich muß antworten wie bei Natalien«, erwiderte mein Gastfreund, »sein Selbst hat sich entwickelt und aller Umgang, der ihm zu Teil geworden, vorerst der eurige, hat geholfen.«

Ich wollte etwas sprechen, konnte aber vor Bewegung nicht.

Gustav, der in der Nähe der Frauen stand, sah mich an, ich ihn auch. Er war ebenfalls sehr blaß.

Indessen hatten sich alle nach und nach eingefunden, die bei der Trauung gegenwärtig sein sollten, die Stunde der Abfahrt war da und der Hausverwalter meldete, daß alles in Bereitschaft sei.

Mathilde machte Natalien das Zeichen des Kreuzes auf die Stirne, den Mund und die Brust, und diese beugte sich mit ihren Lippen auf die Hand der Mutter nieder. Dann faßten die Mädchen den Schleier, der wie ein Silbernebel von dem Haupte Nataliens bis zu ihren Füßen reichte, hüllten sie in ihn, und Natalie ging, von ihren Mädchen umringt und von den Frauen geleitet, die Treppe hinunter, auf welcher die Marmorgestalt stand. Wir folgten. Mit mir waren meine Zeugen und Risach und der Vater. Den ersten Teil der Wagenreihe nahmen die Frauen, die Braut und die Mädchen ein, den letzten die Männer und ich. Wir stiegen ein, der Zug setzte sich in Bewegung. Es war viel Volk gekommen, die Brautfahrt zu sehen. Darunter erblickte ich meinen Zitherspiellehrer, welcher mir mit einem grünen Hute, auf dem er Federn hatte, winkte. Die Bewohner des Meierhofes und die Diener des Hauses waren größtenteils vorausgegangen und harrten unser in der Kirche. Einige befanden sich auch in den Wägen. Der Zug fuhr langsam den Hügel hinab.

In der Kirche erwartete uns der Pfarrer von Rohrberg, wir traten vor den Altar, und die Trauung ward vollbracht.

Zum Zurückfahren kamen Natalie und ich allein in einen Wagen. Sie sprach nichts, der Schleier blieb zurückgeschlagen und Tropfen nach Tropfen floß aus ihren Augen.

Da wir wieder in dem Marmorsaale waren, wurden auf den langen Tisch, den man heute hier aufgerichtet und mit vielen Stühlen umgeben hatte, von Risach und von meinem Vater die Papiere niedergelegt, die sich auf unsere Vermählung und unser Vermögen bezogen. Ich aber nahm indessen Natalien an der Hand und führte sie durch das Bilder- und Lesezimmer in das Bücherzimmer, in welchem wir allein waren. Dort stellte ich mich ihr gegenüber und breitete die Arme aus. Sie stürzte an meine Brust. Wir umschlangen uns fest und weinten beide beinahe laut.

»Meine teure, meine einzige Natalie!« sagte ich.

»O mein geliebter, mein teurer Gatte«, antwortete sie, »dieses Herz gehört nun ewig dir, habe Nachsicht mit seinen Gebrechen und seiner Schwäche.«

»O mein teures Weib«, entgegnete ich, »ich werde dich ohne Ende ehren und lieben, wie ich dich heute ehre und liebe. Habe auch du Geduld mit mir.«

»O Heinrich, du bist ja so gut«, antwortete sie.

»Natalie, ich werde suchen, jeden Fehler dir zu Liebe abzulegen«, erwiderte ich, »und bis dahin werde ich jeden so verhüllen, daß er dich nicht verwunde.«

»Und ich werde bestrebt sein, dich nie zu kränken«, antwortete sie.

»Alles wird gut werden«, sagte ich.

»Es wird alles gut werden, wie unser zweiter Vater gesagt hat«, antwortete sie.

Ich führte sie näher an das Fenster, und da standen wir und hielten uns an den Händen. Die Frühlingssonne schien herein, und neben den Diamanten glänzten die Tropfen, die auf ihr schönes Kleid gefallen waren.

»Natalie, bist du glücklich?« sagte ich nach einer Weile.

»Ich bin es in hohem Maße«, antwortete sie, »mögest du es auch sein.«

»Du bist mein Kleinod und mein höchstes Gut auf dieser Erde«, erwiderte ich, »es ist mir noch wie im Traume, daß ich es errungen habe, und ich will es erhalten, so lange ich lebe.«

Ich küßte sie auf den Mund, den sie freundlich bot. In ihre feinen Wangen war das Rot zurückgekehrt.

In diesem Augenblicke hörten wir Tritte in dem Nebenzimmer, und Mathilde, meine Mutter, Risach, mein Vater und Klotilde, die uns gesucht hatten, traten ein.

»Mutter, teure Mutter«, sagte ich zu Mathilden, indem ich allen entgegen ging, Mathildens Hand faßte und sie zu küssen strebte. Mathilde hatte sich nie die Hand von irgend jemandem küssen lassen. Dieses Mal erlaubte sie, daß ich es tue, indem sie sanft sagte: »Nur das eine Mal.«

Dann küßte sie mich auf die Stirne und sagte: »Sei so glücklich, mein Sohn, als du es verdienst und als es die wünscht, die dir heute ihr halbes Leben gegeben hat.«

Risach sagte zu mir: »Mein Sohn, ich werde dich jetzt du nennen, und du mußt zu mir wie zu deinem ersten Vater auch dies Wörtchen sagen – mein Sohn, nach dem, was heute vorgefallen, ist deine erste Pflicht, ein edles, reines, grundgeordnetes Familienleben zu errichten. Du hast das Vorbild an deinen Eltern vor dir, werde, wie sie sind. Die Familie ist es, die unsern Zeiten not tut, sie tut mehr not als Kunst und Wissenschaft, als Verkehr, Handel, Aufschwung, Fortschritt oder wie alles heißt, was begehrungswert erscheint. Auf der Familie ruht die Kunst, die Wissenschaft, der menschliche Fortschritt, der Staat. Wenn Ehen nicht beglücktes Familienleben werden, so bringst du vergeblich das Höchste in der Wissenschaft und Kunst hervor, du reichst es einem Geschlechte, das sittlich verkommt, dem deine Gabe endlich nichts mehr nützt und das zuletzt unterläßt, solche Güter hervor zu bringen. Wenn du auf dem Boden der Familie einmal stehend – viele schließen keine Ehe und wirken doch Großes -, wenn du aber auf dem Boden der Familie einmal stehst, so bist du nur Mensch, wenn du ganz und rein auf ihm stehst. Wirke dann auch für die Kunst oder für die Wissenschaft, und wenn du Ungewöhnliches und Ausgezeichnetes leistest, so wirst du mit Recht gepriesen, nütze dann auch deinen Nachbarn in gemeinschaftlichen Angelegenheiten und folge dem Rufe des Staates, wenn es not tut. Dann hast du dir gelebt und allen Zeiten. Gehe nur den Weg deines Herzens wie bisher und alles wird sich wohl gestalten.«

Ich reichte ihm die Hand, er zog mich an sich und küßte mich auf den Mund.

Natalie war indessen in den Armen meiner Mutter, meines Vaters und Klotildens gewesen.

»Er wird gewiß bleiben, wie er heute ist«, sagte sie, wahrscheinlich auf einen Wunsch für die Zukunft antwortend.

»Nein, mein teures Kind«, sagte meine Mutter, »er wird nicht so bleiben, das weißt du jetzt noch nicht: er wird mehr werden, und du wirst mehr werden. Die Liebe wird eine andere, in vielen Jahren ist sie eine ganz andere; aber in jedem Jahr ist sie eine größere, und wenn du sagst, jetzt lieben wir uns am meisten, so ist es in Kurzem nicht mehr wahr, und wenn du statt des blühenden Jünglings einst einen welken Greis vor dir hast, so liebst du ihn anders, als du den Jüngling geliebt hast; aber du liebst ihn unsäglich mehr, du liebst ihn treuer, ernster und unzerreißbarer.«

Mein Vater wandte sich ab und fuhr sich mit der Hand über die Augen.

Meine Mutter küßte Natalien noch einmal und sagte: »Du liebe, gute, teure Tochter.«

Natalie gab den Kuß zurück und schlang die Arme um den Hals meiner Mutter.

»Kinder, jetzt müssen wir zu den Andern gehen«, sagte Risach.

Wir gingen in den Saal. Dort gab Risach Papiere in die Hände Nataliens. Sie legte sie in die meinigen. Mein Vater gab mir auch Papiere. Alle Anwesenden wünschten uns nun Glück, vor allem Gustav, den ich die letzte Zeit her gar nicht gesehen hatte. Er fiel der Schwester um den Hals und auch mir. In seinen schönen Augen perlten Tränen. Dann beglückwünschten uns Eustach, Roland, die vom Inghofe, der Pfarrer von Rohrberg, der mich auf unser erstes Zusammentreffen in diesem Hause an jenem Gewitterabende erinnerte, und alle Andern.

Risach sagte, daß jetzt jedem zwei Stunden zur Verfügung gegeben seien, dann müsse sich alles in dem Marmorsaale zu einem kleinen Mahle versammeln.

Natalie wurde von ihren Trauungsjungfrauen in die Gemächer ihrer Mutter geführt, daß sie dort die Trauungsgewänder ablege. Ich ging in meine Wohnung, kleidete mich um und verschloß die Papiere, ohne sie anzusehen. Nach einer geraumen Zeit ging ich in das Vorzimmer zu Mathildens Wohnung und fragte, ob Natalie schon in Bereitschaft sei, ich ließe bitten, mit mir einen kurzen Gang durch den Garten zu machen. Sie erschien in einem schönen, aber sehr einfachen Seidenkleide und ging mit mir die Treppe hinab. Sie reichte mir den Arm und wir wandelten eine Zeit unter den großen Linden und auf anderen Gängen des Gartens herum.


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