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»Ich verabschiedete auf der Post den Wagen aus Heinbach, das letzte Merkmal aus diesem Orte, und ließ mich nach der Stadt einschreiben, wo ich so lange gewesen war, wo ich meine Lernzeit vollendet hatte, von wo ich nach Heinbach gegangen war, und wo sich das Haus von Mathildens Eltern befand. Ich blieb aber nicht in der Stadt.«
»In der Nähe meiner Heimat ist im Walde eine Felskuppe, von welcher man sehr weit sieht. Sie geht mit ihrem nördlichen Rücken sanft ab und trägt auf ihm sehr dunkle Tannen. Gegen Süden stürzt sie steil ab, ist hoch und geklüftet und sieht auf einen dünnbestandenen Wald, zwischen dessen Stämmen Weidegrund ist. Jenseits des Waldes erblickt man Wiesen und Feld, weiter ein blauliches Moor, dann ein dunkelblaues Waldband und über diesem die fernen Hochgebirge. Ich ging von der Stadt in meine Heimat und von der Heimat auf diese Felskuppe. Ich saß auf ihr und weinte bitterlich. Jetzt war ich verödet, wie ich früher nie verödet gewesen war. Ich sah in das dunkle Innere der Schlünde und fragte, ob ich mich hinabwerfen solle. Das Bild meiner verstorbenen Mutter mischte sich in diese unklare, schauerliche Vorstellung, und wurde mir ein Liebes, an das ich denken mußte. Ich ging täglich auf diese Kuppe und blieb oft mehrere Stunden auf ihr sitzen. Ich weiß nicht, warum ich sie suchte. In meiner Jugend war ich oft auf ihr, und wir machten uns das Vergnügen, Steine ziemlicher Größe von ihr hinab zu werfen, um den Steinstaub aufwirbeln zu sehen, wenn der Geworfene auf Klippen stieß, und um sein Gepolter in den Klippen und sein Rasseln in dem am Fuße des Felsens befindlichen Gerölle zu hören. Von dieser Kuppe war kein Einblick in jene Länder, in denen Mathildens Wohnung lag, man sah nicht einmal Gebirgszüge, die an sie grenzten. Ich ging auch nach und nach in anderen Teilen der Umgebung meines Heimatortes herum. Mein Schwager war ein sanfter und stiller Mann, und wir sprachen in meinem Geburtshause oft einen ganzen Tag hindurch nicht mehr als einige Worte.«
»Als eine geraume Zeit vergangen war, dachte ich auf meine Abreise und auf meine Berufsarbeiten, die ich schon so lange vergessen hatte und auf die ich, in dem Hause in Heinbach befangen, vielleicht noch länger nicht gedacht haben würde.«
»Ich ging wieder in die Stadt, in der ich meine Habe gelassen hatte, und widmete mich ernstlich der Laufbahn, zu welcher ich eigentlich die Vorbereitungsschulen besucht hatte. Ich meldete mich zum Staatsdienste, wurde eingereiht und arbeitete jetzt sehr fleißig in dem Bereiche der unteren Stellen, in welchen ich war. Ich lebte noch zurückgezogener als sonst. Mein kleines Gehalt und das Erträgnis meines Ersparten reichten hin, meine Bedürfnisse zu decken. Ich wohnte in einem Teile der Vorstadt, welcher von dem Hause der Eltern Mathildens sehr weit entfernt war. Im Winter ging ich fast nirgends hin als von meiner Wohnstube in meine Amtsstube, welcher Weg wohl sehr lange war, und von der Amtsstube in meine Wohnstube. Meine Nahrung nahm ich in einem kleinen Gasthause an meinem Wege ein. Freunde und Genossen besuchte ich wenig, mir war alle Verbindung mit Menschen verleidet. Als Erholung diente mir der Betrieb der Geschichte der Staatswissenschaften und der Wissenschaften der Natur. Ein Gang auf dem Walle der äußeren Stadt oder eine Wanderung in einem einsamen Teil der Umgebungen der Stadt gaben mir Luft und Bewegung. Mathilden sah ich einmal. Sie fuhr mit ihrer Mutter in einem offenen Wagen in einer der breiten Straßen der Vorstädte, in einer Gegend, in welcher ich sie nicht vermutet hatte. Ich blickte hin, erkannte sie und meinte umsinken zu müssen. Ob sie mich gesehen hat, weiß ich nicht. Ich ging dann in meine Amtsstube zu meinem Schreibtische. In der ersten Zeit wurde ich von meinen Vorgesetzten wenig beachtet. Ich arbeitete mit einem außerordentlichen Fleiße, er war mir Arznei für eine Wunde geworden, und ich flüchtete gern zu dieser Arznei. So lange alle diese Verhältnisse, welche in meinen Amtsgeschäften vorkamen, in meinem Haupte waren, war nichts Anderes darin. Schmerzvoll waren nur die Zwischenräume. Auch die Wissenschaften leiteten nicht so sicher ab. Mein Fleiß lenkte endlich die Aufmerksamkeit auf sich, man beförderte mich. Anfangs ging es langsamer, dann schneller. Nach dem Verlaufe von mehreren Jahren war ich in einer der ehrenvolleren Stellungen des Staatsdienstes, welche zu dem Verkehre mit dem gebildeteren Teile der Stadteinwohnerschaft berechtigten, und ich hatte die gegründete Aussicht, noch weiter zu steigen. In solchen Verhältnissen werden gewöhnlich die Ehen mit Mädchen aus ansehnlicheren Häusern geschlossen, welche dann zu glücklichem und ehrenvollem Familienleben führen. Mathilde mußte jetzt ein und zwanzig oder zwei und zwanzig Jahre alt sein. Irgend eine Annäherung ihrer Eltern an mich hatte nicht statt gefunden, auch konnte ich nicht die geringsten Merkmale auffinden, wie unermüdlich ich auch suchte, daß sie sich nach mir erkundigt hätten. Ich konnte also unmittelbare Schritte zur Annäherung an sie nicht tun. Ich leitete also solche mittelbar ein, welche sie auf die gewisseste Art von der Unwandelbarkeit meiner Neigung überzeugten. Ich erhielt die unzweideutigsten Beweise zurück, daß mich Mathilde verachte. Zu einer Verehelichung, wozu ihres Reichtums und ihrer unbeschreiblichen Schönheit willen sich die glänzendsten Anträge fanden, konnte sie nicht gebracht werden.
Mit tiefem, schwerem Ernste breitete ich nun das Bahrtuch der Bestattung über die heiligsten Gefühle meines Lebens.«
»Ich will euch nicht mit dem behelligen, wie es mir weiter in meiner Staatslaufbahn erging. Es gehört nicht hieher und ist euch wohl im Wesentlichen bekannt. Die Kriege brachen aus, ich wurde abwechselnd zu verschiedenen Stellen versetzt, große, umfassende Arbeiten, Reisen, Berichte, Vorschläge wurden erfordert, ich wurde zu Sendungen verwendet, kam mit den verschiedensten Menschen in Berührung, und der Kaiser wurde, ich kann es wohl sagen, beinahe mein Freund. Als ich in den Freiherrnrang erhoben wurde, kam mein alter Oheim Ferdinand aus der Entfernung zu mir, um, wie er sagte, mir seine Aufwartung zu machen. Obwohl er meine Mutter vernachlässigt hatte, ja nach dem Tode meines Vaters durch seine Zurückhaltung beinahe hart gegen sie gewesen war, so nahm ich ihn doch freundlich auf, weil er in meiner Verlassenheit zuletzt der einzige Verwandte war, den ich noch hatte. Wir blieben seit jener Zeit mit einander in Briefwechsel. Es kamen wohl viele Menschen mit mir in Verbindung und ich lernte manche Seiten der Gesellschaft kennen; aber teils waren die Verbindungen Geschäftsverbindungen, teils drängten sich Menschen an mich, die durch mich zu steigen hofften, teils waren die Begegnungen ganz gleichgültig. Wie schwer mir aber meine Geschäfte wurden, wie sehr ich im Grunde zu ihnen nicht geeignet war, davon habe ich euch schon gesagt. Ich war nach und nach beinahe ein alter Mann geworden. Da ich viel in der Entfernung lebte, wußte ich manche Beziehungen der Hauptstadt nicht. Mathilde hatte sich in etwas vorgerückteren Jahren vermählt. Der Friede wurde dauernd hergestellt, ich blieb wieder beständig in der Hauptstadt, und hier tat ich etwas, das mir ein Vorwurf bis zu meinem Lebensende sein wird, weil es nicht nach den reinen Gesetzen der Natur ist, obwohl es tausend Mal und tausend Mal in der Welt geschieht. Ich heiratete ohne Liebe und Neigung. Es war zwar keine Abneigung vorhanden, aber auch keine Neigung. Die Hochachtung war gegenseitig groß. Man hatte mir viel davon gesagt, daß es meine Pflicht sei, mir einen Familienstand zu gründen, daß ich im Alter von teuern Angehörigen umgeben sein müsse, die mich lieben, pflegen und schützen und auf die meine Ehren und mein Name übergehen können. Es sei auch Pflicht gegen die Menschheit und den Staat. Auf meine Einwendung, daß ich eine Neigung gegen irgend ein weibliches Wesen nicht habe, sagten sie, Neigungen führen oft zu unglücklichen Verbindungen, Kenntnis der gegenseitigen Beschaffenheit und wechselseitige Hochachtung bauen dauerndes Glück. Trotz meiner gereifteren Jahre hatte ich in diesen Dingen noch immer sehr wenige Kenntnisse. Meine Jugendneigung, die so heftig und beinahe ausschweifend gewesen war, hatte kein Glück gebracht. Ich heiratete also ein Mädchen, welches nicht mehr jung war, eine angenehme Bildung hatte, vom reinsten Wandel war und gegen mich tiefe Verehrung empfand. Man sagte, ich hätte reich geheiratet, weil mein Hauswesen ein ansehnliches war; allein die Sache verhielt sich nicht so. Meine Gattin hatte mir eine namhafte Mitgift gebracht, aber ich hätte eine größere Gabe hinzulegen können. Da ich in meinem mäßigen Leben beinahe nichts brauchte, so hatte ich, besonders da ich einmal in höherer Stellung war, bedeutende Ersparungen gemacht. Diese legte ich in den damaligen Staatspapieren nieder, und da dieselben nach Beendigung des Krieges ansehnlich stiegen, so war ich beinahe ein reicher Mann. Wir lebten zwei Jahre in dieser Ehe, und in dieser wußte ich, was ich vor der Schließung derselben nicht gewußt hatte, daß nehmlich keine ohne Neigung eingegangen werden soll. Wir lebten in Eintracht, wir lebten in hoher Verehrung der gegenseitigen guten Eigenschaften, wir lebten in wechselweisem Vertrauen und in wechselweiser Aufmerksamkeit, man nannte unsere Ehe musterhaft; aber wir lebten bloß ohne Unglück. Zu dem Glücke gehört mehr als Verneinendes, es ist der Inbegriff der Holdseligkeit des Wesens eines Andern, zu dem alle unsre Kräfte einzig und fröhlich hinziehen. Als Julie nach zwei Jahren gestorben war, betrauerte ich sie redlich; aber Mathildens Bild war unberührt in meinem Herzen stehen geblieben. Ich war jetzt wieder allein. Zur Schließung einer neuen Ehe war ich nicht mehr zu bewegen. Ich wußte jetzt, was ich vorher nicht gewußt hatte. Liebe und Neigung, dachte ich, ist ein Ding, das seinen Zug an meinem Herzen vorüber genommen hatte.«
»Ein Jahr nach dem Tode Juliens starb mein Oheim und setzte mich zu dem Erben seines beträchtlichen Vermögens ein.«
»Meine Geschäfte wurden mir indessen von Tag zu Tag schwerer. So wie ich in früheren Zeiten schon gedacht hatte, daß der Staatsdienst meiner Eigenheit nicht entspreche und daß ich besser täte, wenn ich ihn verließe: so wuchs dieser Gedanke bei genauerem Nachdenken und schärferem Selbstbeobachten zu immer größerer Gewißheit, und ich beschloß, meine Ämter niederzulegen. Meine Freunde suchten mich daran zu verhindern, und Mancher, den ich als feste Säule des Staates kennen zu lernen Gelegenheit gehabt und mit dem ich in schwierigen Zeiten manche harte Amtsstunde durchgemacht hatte, sagte eindringlich, daß ich meine Tätigkeit nicht einstellen sollte. Aber ich blieb unerschüttert. Ich zeigte meinen Austritt an. Der Kaiser nahm ihn wohlwollend und mit übersendeten Ehren an. Ich hatte die Absicht, mir für die letzten Tage meines Lebens einen Landsitz zu gründen und dort einigen wissenschaftlichen Arbeiten, einigem Genusse der Kunst, so weit ich dazu fähig wäre, der Bewirtschaftung meiner Felder und Gärten und hie und da einer gemeinnützigen Maßregel für die Umgebung zu leben. Manches Mal könnte ich in die Stadt gehen, um meine alten Freunde zu besuchen, und zuweilen könnte ich eine Reise in die entfernteren Länder unternehmen. Ich ging in meine Heimat. Dort fand ich meinen Schwager schon seit vier Jahren gestorben, das Haus in fremden Händen und völlig umgebaut. Ich reiste bald wieder ab. Nach mehreren mißglückten Versuchen fand ich diesen Platz, auf dem ich jetzt lebe, und setzte mich hier fest. Ich kaufte den Asperhof, baute das Haus auf dem Hügel und gab nach und nach der Besitzung die Gestalt, in der ihr sie jetzt sehet. Mir hatte das Land gefallen, mir hatte diese reizende Stelle gefallen, ich kaufte noch mehrere Wiesen, Wälder und Felder hinzu, besuchte alle Teile der Umgebung, gewann meine Beschäftigung lieb und machte mehrere Reisen in die bedeutendsten Länder Europas. So bleichten sich meine Haare, und Freude und Behagen schien sich bei mir einstellen zu wollen.«
»Als ich schon ziemlich lange hier gewesen war, meldete man mir eines Tages, daß eine Frau den Hügel herangefahren sei und daß sie jetzt mit einem Knaben vor den Rosen, die sich an den Wänden des Hauses befinden, stehe. Ich ging hinaus, sah den Wagen und sah auch die Frau mit dem Knaben vor den Rosen stehen. Ich ging auf sie zu. Mathilde war es, die einen Knaben an der Hand haltend und von strömenden Tränen überflutet die Rosen ansah. Ihr Angesicht war gealtert und ihre Gestalt war die einer Frau mit zunehmenden Jahren.«
»›Gustav, Gustav‹, rief sie, da sie mich angeblickt hatte, ›ich kann dich nicht anders nennen als: du. Ich bin gekommen, dich des schweren Unrechtes willen, das ich dir zugefügt habe, um Vergebung zu bitten. Nimm mich einen Augenblick in dein Haus auf.‹«
»›Mathilde‹, sagte ich, ›sei gegrüßt, sei auf diesem Boden, sei tausend Mal gegrüßt und halte dieses Haus für deines.‹«
»Ich war mit diesen Worten zu ihr hinzugetreten, hatte ihre Hand gefaßt und hatte sie auf den Mund geküßt.«
»Sie ließ meine Hand nicht los, drückte sie stark, und ihr Schluchzen wurde so heftig, daß ich meinte, ihre mir noch immer so teuere Brust müsse zerspringen.«
»›Mathilde‹, sagte ich sanft, ›erhole dich.‹«
»›Führe mich in das Haus‹, sprach sie leise.«
»Ich rief erst durch mein Glöckchen, welches ich immer bei mir trage, meinen Hausverwalter herzu und befahl ihm, Wagen und Pferde unterzubringen. Dann faßte ich Mathildens Arm und führte sie in das Haus. Als wir in dem Speisezimmer angelangt waren, sagte ich zu dem Knaben: ›Setze dich hier nieder und warte, bis ich mit deiner Mutter gesprochen und die Tränen, die ihr jetzt so weh tun, gemildert habe.‹«
»Der Knabe sah mich traulich an und gehorchte. Ich führte Mathilde in das Wartezimmer und bot ihr einen Sitz an. Als sie sich in die weichen Kissen niedergelassen hatte, nahm ich ihr gegenüber auf einem Stuhle Platz. Sie weinte fort, aber ihre Tränen wurden nach und nach linder. Ich sprach nichts. Nachdem eine Zeit vergangen war, quollen ihre Tropfen sparsamer und weniger aus den Augen, und endlich trocknete sie die letzten mit ihrem Tuche ab. Wir saßen nun schweigend da und sahen einander an. Sie mochte auf meine weißen Haare schauen, und ich blickte in ihr Angesicht. Dasselbe war schon verblüht; aber auf den Wangen und um den Mund lag der liebe Reiz und die sanfte Schwermut, die an abgeblühten Frauen so rührend sind, wenn gleichsam ein Himmel vergangener Schönheit hinter ihnen liegt, der noch nachgespiegelt wird. Ich erkannte in den Zügen die einstige prangende Jugend.«