Adalbert Stifter
Der Nachsommer
Adalbert Stifter

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»Der Sommer war beinahe vergangen und der Herbst stand bevor. Wir hatten so viel getan, daß uns die Zeit sehr kurz schien. Wir waren uns auch genug, um unsere Stunden zu erfüllen. Wenn fremde Kinder zugegen waren, wenn Spiele veranstaltet waren und alle auf dem heiteren Rasen hüpften und sprangen, stand Mathilde seitwärts und sah teilnahmslos zu. Wir fuhren auch nicht so oft in die Nachbarschaft wie im vergangenen Jahre, und verlangten es auch nicht.«

»Eines Tages nachmittags standen wir drei an dem Ausgange des langen Laubenweges, der mit Reben bekleidet ist und zu dem Obstgarten führt. Mathilde und ich standen ganz allein an der Mündung des Laubganges, Alfred war unter den Bäumen damit beschäftigt gewesen, einige Täfelchen, die an den Stämmen hingen und schmutzig geworden waren, zu reinigen, dann las er abgefallenes halbreifes Obst zusammen, legte es in Häufchen und sonderte das bessere von dem schlechteren ab. Ich sagte zu Mathilden, daß der Sommer nun bald zu Ende sei, daß die Tage mit immer größerer Schnelligkeit kürzer werden, daß bald die Abende kühl sein würden, daß dann dieses Laub sich gelb färben, daß man die Trauben ablesen und endlich in die Stadt zurückkehren würde.«

»Sie fragte mich, ob ich denn nicht gerne in die Stadt gehe.«

»Ich sagte, daß ich nicht gerne gehe, daß es hier gar so schön sei und daß es mir vorkomme, in der Stadt werde alles anders werden.«

»›Es ist wirklich sehr schön‹, antwortete sie, ›hier sind wir alle viel mehr beisammen, in der Stadt kommen Fremde dazwischen, man wird getrennt und es ist, als wäre man in eine andere Ortschaft gereist. Es ist doch das größte Glück, Jemanden recht zu lieben.‹«

»›Ich habe keinen Vater, keine Mutter und keine Geschwister mehr‹, erwiderte ich, ›und ich weiß daher nicht, wie es ist.‹«

»›Man liebt den Vater, die Mutter, die Geschwister‹, sagte sie, ›und andere Leute.‹«

»›Mathilde, liebst du denn auch mich?‹ erwiderte ich.«

»Ich hatte sie nie du genannt, ich wußte auch nicht, wie mir die Worte in den Mund kamen, es war, als wären sie mir durch eine fremde Macht hineingelegt worden. Kaum hatte ich sie gesagt, so rief sie: ›Gustav, Gustav, so außerordentlich, wie es gar nicht auszusprechen ist.‹«

»Mir brachen die heftigsten Tränen hervor.«

»Da flog sie auf mich zu, drückte die sanften Lippen auf meinen Mund und schlang die jungen Arme um meinen Nacken. Ich umfaßte sie auch und drückte die schlanke Gestalt so heftig an mich, daß ich meinte, sie nicht loslassen zu können. Sie zitterte in meinen Armen und seufzte.«

»Von jetzt an war mir in der ganzen Welt nichts teurer, als dieses süße Kind.«

»Als wir uns losgelassen hatten, als sie vor mir stand, erglühend in unsäglicher Scham, gestreift von den Lichtern und Schatten des Weinlaubes, und als sich, da sie den süßen Atem zog, ihr Busen hob und senkte, war ich wie bezaubert, kein Kind stand mehr vor mir, sondern eine vollendete Jungfrau, der ich Ehrfurcht schuldig war. Ich fühlte mich beklommen.«

»Nach einer Weile sagte ich: ›Teure, teure Mathilde.‹«

»›Mein teurer, teurer Gustav‹, antwortete sie.«

»Ich reichte ihr die Hand und sagte: ›Auf immer, Mathilde.‹«

»›Auf ewig‹, antwortete sie, indem sie meine Hand faßte.«

»In diesem Augenblicke kam Alfred auf uns herzu. Er bemerkte nichts. Wir gingen schweigend neben ihm in dem Gange dahin. Er erzählte uns, daß die Namen der Bäume, die auf weiße Blechtäfelchen geschrieben sind, welche Täfelchen an Draht von dem untersten Aste jedes Baumes hernieder hängen, von den Leuten oft sehr verunreinigt würden, daß man sie alle putzen solle, und daß der Vater den Befehl erlassen sollte, daß ein jeder, der einen Baum wäscht, putzt oder dergleichen oder der sonst eine Arbeit bei ihm verrichtet, sich sehr in Acht zu nehmen habe, daß er das Täfelchen nicht bespritzt oder sonst eine Unreinigkeit darauf bringt. Dann erzählte er uns, daß er schöne Borsdorfer Äpfel gefunden habe, welche durch einen Insektenstich zu einer früheren, beinahe vollkommenen Reife gediehen seien. Er habe sie am Stamme des Baumes zusammengelegt und werde den Vater bitten, sie zu untersuchen, ob man sie nicht doch brauchen könne. Dann seien viele andere, welche vor der Zeit abfielen, weil die Bäume heuer mit zu viel Obst beladen wären und ihre Kraft nicht genug ist, alle zur Reife zu bringen. Diese habe er auch zusammengelegt, so viele er in der ersten Baumreihe habe finden können. Sie werden wohl zu gar nichts tauglich sein. Er freue sich schon sehr auf den Herbst, wo man alles das herabnehmen werde und wo auch die schönen roten, blauen und goldgrünen Trauben von diesem Ganggeländer heruntergelesen werden würden. Es sei gar nicht mehr lange bis dahin.«

»Wir sprachen nicht und gingen einige Male in dem Gange mit ihm hin und wider.«

»Die große Erregung hatte sich ein wenig gelegt, und wir gingen in das Haus. Ich ging aber nicht mit Mathilden zu ihrer Mutter, wie ich sonst immer getan hatte, sondern nachdem ich Alfred in sein Zimmer geschickt hatte, schweifte ich durch die Büsche herum und ging immer wieder auf den Platz, von welchem ich die Fenster sehen konnte, innerhalb welcher die teuerste aller Gestalten verweilte. Ich meinte, ich müsse sie durch mein Sehnen zu mir herausziehen können. Es war erst ein Augenblick, seit wir uns getrennt hatten, und mir erschien es so lange. Ich glaubte, ohne sie nicht bestehen zu können, ich glaubte, jede Zeit sei ein verlornes Gut, in welcher ich das holde, schlanke Mädchen nicht an mein Herz drückte. Ich hatte früher nie irgend ein Mädchen bei der Hand gefaßt als meine Schwester, ich hatte nie mit einem ein liebes Wort geredet oder einen freundlichen Blick gewechselt. Dieses Gefühl war jetzt wie ein Sturmwind über mich gekommen. Ich glaubte sie durch die Mauern in ihrem Zimmer gehen sehen zu müssen mit dem langen kornblumenblauen Kleide, mit den glanzvollen Augen und dem rosenherrlichen Munde. Es bewegte sich der Fenstervorhang, aber sie war nicht an demselben; es schimmerte an dem Glase wie von einem rosigen Angesichte, aber es war nur ein schiefes Hereinleuchten der beginnenden Abendröte gewesen. Ich ging wieder durch die Büsche, ich ging durch den Weinlaubengang in den Obstgarten, der Weinlaubengang war mir jetzt ein fremdwichtiges Ding, wie ein Pallast aus dem fernsten Morgenlande. Ich ging durch das Haselnußgebüsch zu dem Rosenhause, es war, als blühten und glühten alle Rosen um das Haus, obwohl nur die grünen Blätter und die Ranken um dasselbe waren. Ich ging wieder zu unserem Wohnhause zurück und ging auf den Platz, von dem ich Mathildens Fenster sehen mußte. Sie beugte sich aus einem heraus und suchte mit den Augen. Als sie mich erblickt hatte, fuhr sie zurück. Auch mir war es gewesen, da ich die holde Gestalt sah, als hätte mich ein Wetterstrahl getroffen. Ich ging wieder in die Büsche. Es waren Flieder in jener Gegend, die eine Strecke Rasen säumten und in ihrer Mitte eine Bank hatten, um im Schatten ruhen zu können. Zu dieser Bank ging ich immer wieder zurück. Dann ging ich wieder auf ein Fleckchen Rasen und sah gegen die Fenster. Sie beugte sich wieder heraus. Dies taten wir ungezählte Male, bis der Flieder in dem Rot der Abendröte schwamm und die Fenster wie Rubinen glänzten. Es war zauberhaft, ein süßes Geheimnis mit einander zu haben, sich seiner bewußt zu sein und es als Glut im Herzen zu hegen. Ich trug es entzückt in meine Wohnung.«

»Als wir zum Abendessen zusammen kamen, fragte mich Mathildens Mutter: ›Warum seid ihr denn heute, da ihr mit den Kindern aus dem Garten zurückgekehrt waret, nicht mehr zu mir gegangen?‹«

»Ich vermochte auf diese Frage nicht ein Wort zu antworten; es wurde aber nicht beachtet.«

»Ich schlief in der ganzen Nacht kaum einige Augenblicke. Ich freute mich schon auf den Morgen, an dem ich sie wieder sehen würde. Wir trafen alle in dem Speisesaale zu dem Frühmahle zusammen. Ein Blick, ein leichtes Erröten sagte alles, sie sagten, daß wir uns besaßen und daß wir es wußten. Den ganzen Morgen brachte ich mit Alfred im eifrigen Lernen zu. Gegen Mittag, als Gräser und Laubblätter getrocknet waren, gingen wir in den Garten. Mathilde flog mit einem Buche, in dem sie eben gelesen hatte, aus dem Hause, sie eilte auf uns zu, und wir tauschten den Blick der Einigung. Sie sah mich innig an, und ich fühlte, wie meine Empfindung aus meinen Augen strömte. Wir gingen durch den Blumengarten und durch den Gemüsegarten auf den Weinlaubengang zu. Es war, als hätten wir uns verabredet, dorthin zu gehn. Mathilde und ich sprachen gewöhnliche Dinge, und in den gewöhnlichen Dingen lag ein Sinn, den wir verstanden. Sie gab mir ein Weinblatt, und ich verbarg das Weinblatt an meinem Herzen. Ich reichte ihr ein Blümchen, und sie steckte das Blümchen in ihren Busen. Ich nahm ihr das Papierstreifchen, welches als Merkmal in ihrem Buche steckte, und behielt es bei mir. Sie wollte es wieder haben, ich gab es nicht, und sie lächelte und ließ es mir. Wir kamen in das Haselgebüsch, durchstreiften es und traten vor die Rosen des Gartenhauses. Sie nahm einige welke Blätter ab und reinigte dadurch den Zweig. Ich tat das Nehmliche mit dem Nachbarzweige. Sie gab mir ein grünes Rosenblatt, ich knickte einen zarten Zweig, was eigentlich nicht erlaubt war, und gab ihr den Zweig. Sie wendete sich einen Augenblick ab, und da sie sich wieder uns zugewandt, hatte sie den Rosenzweig bei sich verborgen. Wir gingen in das Gartenhaus, sie stand an dem Tische und stützte sich mit ihrer Hand auf die Platte desselben. Ich legte meine Hand auch auf die Platte, und nach einigen Augenblicken hatten sich unsere Finger berührt. Sie stand wie eine feurige Flamme da, und mein ganzes Wesen zitterte. Im vorigen Sommer hatte ich ihr oft die Hand gereicht, um ihr über eine schwierige Stelle zu helfen, um sie auf einem schwanken Stege zu stützen oder sie auf schmalem Pfade zu geleiten. Jetzt fürchteten wir, uns die Hände zu geben, und die Berührung war von der größten Wirkung. Es ist nicht zu sagen, woher es kommt, daß vor einem Herzen die Erde, der Himmel, die Sterne, die Sonne, das ganze Weltall verschwindet, und vor dem Herzen eines Wesens, das nur ein Mädchen ist und das Andere noch ein Kind heißen. Aber sie war wie der Stengel einer himmlischen Lilie zaubervoll, anmutsvoll, unbegreiflich.«

»Wir gingen wieder in das Haus, und wir gingen, ehe wir zu dem Mittagessen gerufen wurden, zu der Mutter. Bei der Mutter waren wir stiller und wortarmer als gewöhnlich. Mathilde suchte sich ein Papierstreifchen und legte es wieder an jener Stelle in das Buch, wo ich ihr das Merkzeichen herausgenommen hatte. Dann setzte sie sich zu dem Claviere und rief einzelne Töne aus den Saiten. Alfred erzählte, was wir in dem Garten getan hatten und berichtete der Mutter, daß wir verdorrte und unbrauchbare Blätter von den Rosenzweigen, die an den Latten des Gartenhauses angebunden sind, herabgenommen hätten.

Hierauf wurden wir zu dem Mittagessen gerufen. Nachmittag war kein Spaziergang. Die Eltern gingen nicht, und ich schlug Alfred und Mathilden keinen vor. Ich nahm ein Buch eines Lieblingsdichters, las sehr lange, und feurige Tränen wie heiße Tropfen kamen öfter in meine Augen. Später saß ich auf der Bank in dem Fliedergebüsche und schaute zuweilen durch die Zweige auf die Wohnung Mathildens. Dort stand manches Mal das Mädchen, das so schön wie ein Engel war, an dem Fenster. Gegen den Abend spielte Mathilde in dem Zimmer der Mutter auf dem Claviere sehr ernst, sehr schön und sehr ergreifend. Dann nahm sie noch die Zither und spielte auf derselben ebenfalls. Die Saiten mußten sie so ergriffen haben, daß sie nicht aufhören konnte. Sie spielte immer fort, und die Töne wurden immer rührender und ihre Verbindung immer natürlicher. Die Mutter lobte sie sehr. Der Vater, welcher in einem Geschäfte in der nächsten kleinen Stadt gewesen war, kam endlich auch zur Mutter, und wir blieben in dem Zimmer derselben, bis wir zu dem Abendessen gerufen wurden. Der Vater nahm Mathilden an den Arm und führte sie zärtlich in den Speisesaal.«

»Es begann nun eine merkwürdige Zeit. In meinem und Mathildens Leben war ein Wendepunkt eingetreten. Wir hatten uns nicht verabredet, daß wir unsere Gefühle geheim halten wollen; dennoch hielten wir sie geheim, wir hielten sie geheim vor dem Vater, vor der Mutter, vor Alfred und vor allen Menschen. Nur in Zeichen, die sich von selber gaben und die wie von selber auf die Lippen kamen, machten wir sie uns gegenseitig kund. Tausend Fäden fanden sich, an denen unsere Seelen zu einander hin und her gehen konnten.

Wenn wir in dem Besitze von diesen tausend Fäden waren, so fanden sich wieder tausend und mehrten sich immer. Die Lüfte, die Gräser, die späten Blumen der Herbstwiese, die Früchte, der Ruf der Vögel, die Worte eines Buches, der Klang der Saiten, selbst das Schweigen waren unsere Boten. Und je tiefer sich das Gefühl verbergen mußte, desto gewaltiger war es, desto drängender loderte es in dem Innern. Auf Spaziergänge gingen wir drei, Mathilde, Alfred und ich, jetzt weniger als sonst, es war, als scheuten wir uns vor der Anregung. Die Mutter reichte oft den Sommerhut und munterte auf. Das war dann ein großes, ein namenloses Glück. Die ganze Welt schwamm vor den Blicken, wir gingen Seite an Seite, unsere Seelen waren verbunden, der Himmel, die Wolken, die Berge lächelten uns an, unsere Worte konnten wir hören, und wenn wir nicht sprachen, so konnten wir unsere Tritte vernehmen, und wenn auch das nicht war, oder wenn wir stille standen, so wußten wir, daß wir uns besaßen, der Besitz war ein unermeßlicher, und wenn wir nach Hause kamen, war es, als sei er noch um ein Unsägliches vermehrt worden. Wenn wir in dem Hause waren, so wurde ein Buch gereicht, in dem unsere Gefühle standen, und das Andere erkannte die Gefühle, oder es wurden sprechende Musiktöne hervorgesucht, oder es wurden Blumen in den Fenstern zusammengestellt, welche von unserer Vergangenheit redeten, die so kurz und doch so lang war. Wenn wir durch den Garten gingen, wenn Alfred um einen Busch bog, wenn er in dem Gange des Weinlaubes vor uns lief, wenn er früher aus dem Haselgebüsche war als wir, wenn er uns in dem Innern des Gartenhauses allein ließ, konnten wir uns mit den Fingern berühren, konnten uns die Hand reichen oder konnten gar Herz an Herz fliegen, uns einen Augenblick halten, die heißen Lippen an einander drücken und die Worte stammeln: ›Mathilde, dein auf immer und auf ewig, nur dein allein, und nur dein, nur dein allein!‹«

»›O ewig dein, ewig, ewig, Gustav, dein, nur dein und nur dein allein.‹«

»Diese Augenblicke waren die allerglückseligsten.«

»So war der tiefe Herbst gekommen. Wir hatten in dem Reste des Sommers ein Äußeres nicht vermißt. Mathilde und Alfred hatten immer weniger verlangt, in die Nachbarschaft zu fahren, und so war es gekommen, daß auch die Eltern weniger fuhren und daß auch Fremde weniger zu uns kamen. Wenn sie aber da waren, wenn auch Alfred an den Spielen und Ergötzungen der Kinder Teil nahm, so war Mathilde doch teilnahmloser als je. Sie hielt sich ferne, wie eine, die nicht hieher gehört. Auch in ihrem körperlichen Wesen war in dieser kurzen Zeit eine große Veränderung vorgegangen. Sie war stärker geworden, ihre Wangen waren purpurner, ihre Augen glänzender geworden.

Alfred liebte mich sehr. Neben seinen Eltern und seiner Schwester liebte er vielleicht nichts so sehr als mich, und ich vergalt es ihm mit ganzer Seele.«


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