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Eines schönen Morgens – es war der 26. September – fuhren wir also von Roveredo wieder gen Norden, das heißt aufwärts an der Etsch, und kamen bald nach Calliano, einem ansehnlichen Dorfe, das nicht weit von einer alten Burg liegt, welche die Deutschen den Stein am Callian heißen. Hier fällt das wilde Gewässer in die Etsch, welches aus der Folgaria herabstürzt und noch heutzutag der Roßbach heißt. Seinen Quellen wollten wir entgegenwandern, aber vorerst mußten wir noch das Kastell Beseno (Bisein) umgehen, welches gerade vor dem Eingang des Tales auf einem langen steilen Felsenrücken liegt. Es bildet gleichsam ein Städtchen für sich mit Mauern, Häusern und Türmen, ist aber im Innern sehr verfallen. Während wir da gemächlich hinaufstiegen, bewunderten wir auch die Landschaft, die im Morgendunste leuchtend zu Füßen lag, den mächtigen Strom der Etsch, die vielerlei Dörfer und Schlösser an ihren Ufern und die scharfen, hohen Felsenmauern, die sie links und rechts behüten. Es dauerte nicht lange, so hatten wir ein paar Menschenkinder erreicht, welche am schmalen Pfad auf einem Felsen saßen und der Ruhe pflogen. Das eine derselben war ein Landmann, etwa fünfundzwanzig Jahre alt, das andere seine jüngere Schwester, beide wohlgestaltet und manierlich, beide reinlich gekleidet und sauber. Wir fragten zuerst italienisch, wohin sie gingen, und erhielten von jenem die Antwort: »Nach San Sebastian.« Dieser Ort liegt jenseits der Folgaria im Tal des Astico, und es ist bekannt, daß Professor Zingerle von Innsbruck vor nicht langer Zeit daselbst gewesen und die Wirtin noch als eine gute Deutsche gefunden und aufnotiert hat. Wir fragten also unverzüglich, ob sie nicht deutsch sprächen. »O ja«, antwortete der Landmann, »wir prechten schon auf teutsche!« Diese Worte gewährten uns großes Vergnügen. Wir freuten uns, einen Landsmann gefunden zu haben, und begrüßten ihn fröhlich als einen lieben Stammverwandten. Der junge Mann nahm diese Freundlichkeiten etwas schüchtern auf und schien die hohe Bedeutung, die wir seiner Wenigkeit beilegten, nicht recht zu begreifen, abgesehen davon, daß er uns sicherlich auch nicht ganz verstand. Wir fragten bald nach seinem Namen und erfuhren, daß er Anton Berger heiße, seine Schwester aber Rosine. Übrigens sei er ein Schäfer (Schafar) und komme aus dem ›Niederland‹, aus der Gegend von Bern (Verona), wo er den Sommer über die Herden gehütet habe. Die Schwester nahm nun Abschied von dem Bruder, um wieder ins Tal hinabzugehen, wir aber setzten miteinander den Weg in die Höhe strebend fort, kamen in weitem Kreise um das Kastell herum und freuten uns, es endlich hinter uns zu haben. Solange wir nun auf dem engen Pfade, der uns nicht nebeneinandergehen ließ, aufwärts stiegen und der geringe Atem, der uns übrig blieb, für einen lebhaften Gedankenaustausch nicht reichte, war das Gespräch allerdings nicht sehr erheblich; aber später, als der Weg sich etwas erweiterte und ohne fühlbare Steigung an den Felsenwänden hinlief, wurde es schon bedeutender. Wir nahmen unsern Gefährten in die Mitte und stellten ihm eine Frage nach der andern, was allerdings nicht so leicht war, denn aus Philosophie, Geschichte, Politik und dergleichen Wissenschaften, die wir vor kürzerer oder längerer Zeit kultiviert hatten, wollten wir ihn nicht examinieren, und im Fache der Schäferei waren wir selbst so unbewandert, daß wir oft lange brauchten, um wieder ein passendes Fragestück zusammenzusetzen.
Hier aber müssen wir, um klarzubleiben, in eine kleine Abhandlung übergehen, die allerdings dem Wissenden nichts Neues bieten wird.
Es ist schon am Anfang erwähnt worden, daß auf dem rauhen Gebirg, welches südlich an die gefürstete Grafschaft Tirol anstößt, in einigen zerstreuten Dörfern noch eine deutsche Mundart gesprochen wird. Diese Gemeinden standen einst unter der Republik Venedig, später unter dem Kaisertum Österreich, jetzt gehören sie zum Königreich Italien. Ihre Bewohner hielt man früher für Nachkömmlinge der von Marius besiegten Cimbern und legte ihnen daher auch diesen Namen bei. Ebenso herrschten über ihre Sprache sehr fabelhafte Ansichten, bis unser Schmeller im Jahr 1833 seine erste Entdeckungsreise nach den sieben und den dreizehn Gemeinden unternahm, die dortige Mundart genau untersuchte und das längst ersehnte Licht in das vielhundertjährige Dunkel brachte. Im Jahr 1844 wiederholte er diese Fahrt und sammelte neue Schätze. Schon im Jahr 1838 hatte er in den Abhandlungen der Münchener Akademie seine Schrift über die Cimbern erscheinen lassen; von da an war er lange mit einem cimbrischen Wörterbuch beschäftigt, welches aber erst nach seinem Tod (1855) der kaiserliche Rat Josef v. Bergmann zu Wien mit einer wertvollen Einleitung herausgab. Schmellers Gutachten über die Cimbern und ihre Sprache geht übrigens dahin, daß diese Älpler bis etwa ins dreizehnte Jahrhundert mit dem großen deutschen Volk in Zusammenhang gestanden, seit jener Zeit aber durch das sie umwachsende Welschtum abgeschnitten worden seien und die Fühlung verloren hätten. Auch die Altertümlichkeiten ihrer Sprache reichen nur bis in jene Zeit hinauf.
Wolle einer diese Mundart auf die Langobarden, die Goten oder gar auf die Cimbern zurückführen, so möge er es tun.
Ein Streit über Dinge, die wir nun einmal nicht wissen können, sei zwecklos. Da man übrigens keinen andern Namen habe, so dürfte es erlaubt sein, diese Leute auch fürderhin noch Cimbern zu nennen.
Die Deutschen, die wir auf unserem kurzen Ausflug sehen und sprechen werden, nämlich jene zu San Sebastian, unten zu Lavarone und oben zu Luserna, werden nun zwar eigentlich nicht zu den Cimbern gerechnet, da sie von diesen politisch immer geschieden waren, allein ihre Mundart zeigt im ganzen dasselbe Gepräge und weicht nur in unerheblichen Einzelheiten von der cimbrischen ab.
Der auffallendste Unterschied ist, daß die Cimbern unser ›f‹ und ›v‹ als ›w‹ aussprechen. Unser Vater, vier, Feuer, Fuß lautet daher water, wier, weuer, wuß. Fünf heißt wüf und fünfzig wüzk. Ferner ist zu bemerken, daß die Partizipien der vergangenen Zeit alle schwach oder, wie man früher sagte, regelmäßig gebildet werden, oder wenigstens zur starken Form noch ein ›t‹ setzen, eine Eigentümlichkeit, die übrigens auch im Lechtal vorkommt. So also gewallet für gefallen, getraget für getragen, geleidet für gelitten, genumt für genommen, geßt, gant und könt für gegessen, gegangen und gekommen.
Damit wäre das Gröbste gezeigt, und wer den deutschen Dialekt der Etschländer Bauern, der dem cimbrischen immerhin am nächsten liegt, versteht, der könnte mit Hilfe dieser unsrer kurzgefaßten Sprachlehre eine cimbrische Konversation schon glücklich zurücklegen, wenn nicht zwei andere Umstände einträten, welche die Sache wieder erschweren. Erstens nämlich hat das Cimbrische sich eine ziemliche Anzahl älterer Wörter bewahrt, die wir jetzt nicht mehr verstehen, wie zum Beispiel köden = sagen, prechten = sprechen, öba = Schaf und so weiter, und zweitens hat die welsche Nachbarschaft eine Menge Italianismen eingeschwärzt, sowohl in Wörtern als in Wendungen. Erstere sind zum Teil verständlich wie pensarn, adorarn, dipindarn (pensare, adorare, dipgniere), zum Teil auch nicht, wie riwen, welches von arrivare, ankommen, herrührt, aber auch zu Ende kommen, aufhören heißt, oder wie wenzern, übrig sein, von avanzare (davon auch gawenzurach, das Überbleibsel). Einen Cimbro zu verstehen ist daher zum Teil Glückssache. Gibt es die Rede, daß er nur gemeindeutsche Wörter anwendet, so wird sich ein Deutscher, wenigstens ein Bajuware, der die oben gegebenen beiden Regeln innehat, unschwer mit ihm verständigen; greift der Cimbro aber in seine sprachlichen Altertümer und in den Schatz seiner Italianismen hinein, so reißt der Faden des Verständnisses ab, und die beiden Germanen stehen sich unvermittelt und ratlos gegenüber.
Die Unterhaltung mit unserm Lombarden floß mit wechselndem Glücke dahin. Bald verstanden wir uns leicht, bald gab es einen Aufenthalt, mitunter auch einen völligen Stillstand. Ganz unvorbereitet waren wir übrigens nicht, und als der Schäfer in eine tiefe Schlucht hinunterdeutete und dabei erzählte: »Werten ist da an Öba hinuntergewallet und hat sich getuatet«, brachten wir es doch bald heraus, daß da ferten (das heißt voriges Jahr) ein Schaf hinuntergefallen sei und sich getötet habe. Nicht lange danach kam aber eine Probe heran, die wir nicht bestanden. Es erschien nämlich, hinter einer Felsenecke hervordringend, mitten unter Schafen und Schweinen, ein anderer Lombarde und Schafar, ebenfalls von San Sebastian, der seine Herde gegen Niederland, gegen Roveredo trieb. Die beiden Landsleute und Amtsbrüder zeigten große Freude, sich nach langer Zeit auf heimischem Boden wiederzusehen, begrüßten sich freundlichst und blieben eine gute Weile plaudernd beieinander stehen. Wir andern beiden, wir stellten uns auch dazu und lauschten mit gespannter Aufmerksamkeit, wie sich die beiden Hirten im besten langobardischen Deutsch, das jetzt noch zu haben, miteinander unterhielten, verstanden aber leider nur einige Wörter. Es ging gar zu rasch und wirr durcheinander. Wir betrachteten uns mit großen Augen, gleichsam als hätte uns so etwas nicht passieren sollen. »Und diese Sprache«, sagte mein Begleiter endlich, »soll nicht studierenswert sein?«
San Sebastian hatten wir bald erreicht. Es ist ein schlichtes Dörfchen, liegt an steiler Bergseite und hat eine Kirche mit einem alten grauen Turm. Nicht weit von dieser zeigte sich auch ein niedliches weißes Häuschen mit grünen Läden und vor dem Hause ein Gemüsegärtchen, welches auf einer hohen Steinlage ruht. Das Ganze lächelte uns sehr germanisch an, und wir beschlossen um so lieber, die dritte Rast zu halten, als das Häuschen eigentlich ein Wirtshaus war.
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Der Empfang im Wirtshäuslein war sehr freundlich. Wir wurden in eine reinliche Stube geführt, die eine weite Aussicht ins Tal hinab gewährte. Auch der Wein ward artig kredenzt, und wir nippten um so lieber, als wir am Vorabend sehr interessanter Erlebnisse zu sein glaubten.
Die Wirtin, Frau Veronika Röck, nämlich und ihre jüngere Schwester Luise, Luigia, Gigia oder auch Gigiotta, eine zierliche, schlanke Jungfrau mit hellbraunen Haaren, blitzenden Augen, roten Wangen, langem Gesicht und langer, aber schöner Nase – sie galten bisher unter den wenigen Wissenden sozusagen als die Karyatiden des Deutschtums im Tale des Astico. Professor Zingerle wenigstens fand, wie schon früher erwähnt, die Wirtin vor drei Jahren noch sehr germanisch gesinnt; damals fühlte sie sich glücklich, von dem Fremden in ihrem Slambrott verstanden zu werden. Mit Freude erzählte sie, daß die Luserner drüben nun eine deutsche Schule hätten und die deutsche Herrensprache lernen könnten; mit Wehmut beklagte sie, daß die Kinder zu San Sebastian bald nur noch italienisch sprechen würden, denn der ›Pfaffe‹ (im mittelalterlichen Sinn, ohne üble Nebenbedeutung gebraucht) verbiete ihnen deutsch zu reden. In diesem Herbst dagegen und vor unserm Angesicht äußerte sich die gute Frau nicht mehr so warm über ihre angestammte Muttersprache, und dies hätte uns bald verdrossen. Vielleicht hatten sie die ›Gebildeten‹ der Gegend, wenn sie Zingerles Artikel gelesen, ein bißchen gemaßregelt, vielleicht hatte sie die schöne Luise, die zu Roveredo in der Schule gewesen und möglicherweise Italianissima geworden war, zur Abtrünnigkeit verführt; kurz, sie wollte ihr Slambrott nicht recht glänzen lassen, verschwand auch nach einiger Zeit und überließ es der Schwester, die Unterhaltung fortzuführen. Diese aber bot noch größern Widerstand und wollte nur italienisch sprechen. Sie würde, sagte sie, das Slambrott schon zu schätzen wissen, se fosse il vero tedesco (wenn es das echte Deutsch wäre). »Ei«, sagte ich, »das echte Deutsch haben wir zu Hause genug. Deswegen wäre ich nicht vom Isarstrand bis nach San Sebastian gelaufen; das Interessante ist ja eben, daß ihr eine Sprache sprecht, die nicht ganz und gar die unsrige ist.« Sie ließ sich aber nicht irremachen, erging sich sehr aufgeweckt und geistreich über origine della popolazione, nazionalità und dialetto, behauptete, diese Begriffe zum Beispiel könne man im Slambrott gar nicht ausdrücken, und wenn man einmal gebildet sei, so reiche eine Bauernsprache zum Ideenaustausch überhaupt nicht hin. Ich entgegnete, sie könne nur so sprechen, weil sie nie in eine deutsche Schule gegangen; hätte sie dieses Glück genossen, so würde sie auch für jene Worte die deutschen Ausdrücke wissen und nicht bloß eine gebildete San-Sebastianerin sein, sondern es bei ihrem feinen Geist auch mit jeder gebildeten Berlinerin aufnehmen können. Diese Aussicht schien sie nicht ganz unempfindlich zu lassen, und nachdem der Ausgleich auf solche Weise hergestellt war, nahmen wir freundlichen Abschied von der schönen Lombardin und ihrer Frau Schwester, verließen das gastliche Häuschen und stiegen abwärts nach Lavarone zu. Auf dem Wege machte mein Begleiter die wahrscheinlich richtige Bemerkung, Frau Veronika Röck habe heute nur einen schüchternen Tag gehabt. Im Herzen sei sie gewiß noch die alte. Es seien ihr nur der fremden Gesichter zu viele geworden. Wäre er oder ich allein gewesen, so hätte sie sich wohl mit angeborner Liebe über ihre Muttersprache vernehmen lassen. – Die nach uns Kommenden mögen sie in der Treue festigen!