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So war es sechs Uhr geworden. Da wir um zwei Uhr in Bruneck sein sollten, weil wir zu Tische geladen waren, so schien es allerdings höchste Zeit, den Gang aufs Spitzhörnle, wenn überhaupt noch, jetzt zu beginnen. Die Luft war noch trübe, wenigstens gegen Westen hin, während sich von Osten her ein schöner Tag anzukündigen schien. Wir fragten wiederum unsern Mathes, der sich wiederum orakelhaft ausdrückte. Nun traten aber der Wirt und die Kellnerin in unsern Rat und sprachen entschieden für die Unternehmung. Dieses Votum schien so uneigennützig, daß ich mich seinem Einflusse selbst nicht entziehen konnte. Wir berichtigten also die billige Rechnung, Mathes nahm unsere Taschen und seinen Stock, zündete seine Pfeife an, und nach freundlichem Abschiede von der Wirtschaft begannen wir unsere Reise.
Der Weg zieht lange bequem und ungefährlich aufwärts, zuerst an Höfen vorbei, dann durch einsame Wiesen oder helle Lärchenwälder, doch nicht an der Seite des Spitzhörnle, sondern vielmehr in einer Einsattelung, Furkl genannt (furcola = kleine Gabel), welche jenes von seinem nächsten Nachbar trennt. Nachdem wir etwa anderthalb Stunden gegangen, blieb Mathes stehen und sagte, jetzt brauchten wir keinen Führer mehr – auch sei es höchste Zeit für ihn, zurückzukehren, da er sonst nicht mehr in das Sonntagsamt käme. Das Spitzhörnle sei der Berg, der uns gegenüberliege und der, wie der Augenschein lehre, ganz leicht und gefahrlos zu besteigen, bei dessen Besteigung gar keine Verirrung möglich sei. Es war auch alles glaublich, was er sagte, und so beschlossen wir denn, die erste Station abzuhalten, eine Flasche Wein zu leeren und uns andere kleine Nachhilfen angedeihen zu lassen. Mathes in seiner Bescheidenheit wollte kaum einen Tropfen annehmen, noch weniger etwas essen – es sei viel zu früh für ihn. Fast mit Mühe bewogen wir ihn, uns Bescheid zu tun, und sagten dann dem wackern Burschen, der auch nur sehr mäßigen Trägerlohn verlangte, ein herzliches Lebewohl.
Wir gingen nun in einen waldigen Tobel hinunter, überschritten einen Bach und standen dann wirklich am Fuße des Spitzhörnle, welches aber weder ein Spitz, noch ein Hörn oder Hörnle, sondern ein sehr breiter, langhingestreckter Bergrücken mit einem ganz flachen Giebel ist. Rechts und links waren lichte Wälder, in der Mitte ging bis zur höchsten Höhe eine Grasblöße hinauf, und durch diese stürzte ein kleines Bächlein herunter. Unsere Weisheit hätte uns nun eigentlich raten sollen, rechts oder links einen Weg im Walde zu suchen, wo der rauhe Boden und die Bäume selbst uns nicht hätten ausgleiten lassen, allein der grüne Streifen in der Mitte schien so einladend, daß wir alle Weisheit ganz beiseite ließen. Also rüstig die Grashalde hinan!
Anfangs ging's auch ganz gut, aber je höher wir kamen, desto steiler zeigte sich der Abhang. Die Sohlen hielten nicht mehr, das Gras wurde immer schlüpfriger, und mich überkam ein Gefühl, als wenn ich ganz nahe am ›Abscheipen‹ wäre. Unter Abscheipen versteht man aber jene unheimliche Gangart, mittels welcher der Wanderer, der auf einer grasigen Halde ausgleitet, etwa drei, vier, fünf Minuten in beschleunigtem Tempo bergab rutscht, wonach er dann unten zuweilen glücklich ankommt und sich besinnen kann, ob er heimkehren oder im alten Geleise hartnäckig wieder aufwärts klettern wolle, mitunter aber von der ganzen Partie keine Erinnerung mehr hat, weil er sich unterwegs das Genick gebrochen. In letzterem Falle sagt man einfach: Er hat sich verscheipt. Tröst' ihn der liebe Gott!
Um beiden Möglichkeiten auszuweichen, suchte ich nun das Bächlein zu gewinnen, dessen kleines Bette mit kleinen Felsblöcken ausgelegt war, so daß ich hoffen mochte, diese als Staffeln benützen und so, von einem zum andern steigend, die Höhe erreichen zu können. Ging also vorsichtig auf das Bächlein los, fand aber unterwegs, daß eine sumpfige Lache dazwischenlag, welche ohne Vermehrung der Fährlichkeiten nicht zu umgehen war. Ich schritt also unverwandt in den Morast hinein, rutschte aber aus und lag alsbald darinnen. Mein Gefährte konnte mir die Hand nicht reichen, da er selbst um Erhaltung seines Gleichgewichtes mühsam zu kämpfen hatte. Doch raffte ich mich bald wieder auf und wollte meinen Weg nach dem Bache fortsetzen, fand dies aber unmöglich, denn der kurze Zwischenraum, der mich von ihm trennte, zeigte sich noch abschüssiger als die andere Halde. Also wieder zurück durch denselben kleinen Sumpf, den ich aber jetzt schon hinlänglich studiert hatte, um glücklich durchzukommen, worauf ich den nahen Wald zu erreichen trachtete. Dies war jedoch nicht gar so leicht, da die Sohlen in dem schmutzigen Bad nur noch schlüpfriger geworden. Als mich aber der Fichtenhain in seine heiligen Schatten aufnahm, war's mir gerade, als wenn ich eine kleine Lebensrettung zu feiern hätte.
Die Selbstbetrachtung, die ich sofort anstellte, ergab, daß ich zwar nasse Socken erübrigt, am Leibe selbst aber kaum angefeuchtet war, da die dicken Hosen dem Wasser trefflichen Widerstand geleistet. Ganz nahe dabei war eine kleine verlassene Waldhütte, in welcher auch ein Herd, auf dem aber kein Feuer brannte. Doch bot sie angenehme Gelegenheit, die Socken zu wechseln und sonst noch zu ordnen, was aus dem Geleise gekommen war.
Wir stiegen nun in dem Fichtenwald ohne weitere Erlebnisse aufwärts und erreichten bald die Hochebene, die wir von unten auf als unser Ziel betrachtet hatten. Sie war es aber keineswegs, denn der oberste Teil des Berges staffelt sich in sanft geneigten Flächen auf, deren eine die andere verbirgt, so daß die zweite erst sichtbar wird, wenn man bis an den Saum der ersten vorgegangen. Über diese drei- oder viermal wiederholte Täuschung wären wir gerne ungeduldig geworden, allein da es uns doch nichts geholfen hätte, so unterließen wir es lieber. Endlich, etwa nach einer halben Stunde, hatten wir die höchste Stelle erreicht, den äußersten Rand, von welchem wir ins Pustertal und auf Bruneck hinuntersahen.
Jetzt waren wir also oben, 7276 Fuß über dem Mittelländischen Meere, und nun sollte das Entzücken unverzüglich beginnen. Seit wir uns von dem guten Mathes getrennt, war aber der Himmel immer trüber geworden. Gegen Süden standen die Wolken zwar so weit oben, daß die Berge fast bis zu ihren Spitzen frei waren, allein die Sonne drang nicht durch, und das ganze Hochland sah sehr blaß und leidend aus. Der Langkofel, der Peutler Kofel, die Marmolata, sie standen alle riesig und unheimlich vor uns, schauten uns aber so abgelebt und halbverstorben an, als wenn sie nächstens von der Schaubühne abtreten wollten. Ich hatte sie früher oft in so prächtiger Beleuchtung gesehen, daß sie mir jetzt mehr Mitleid als Bewunderung einflößten. Nur zwischen dem Schiern und dem Bozener Ritten ging der Blick weit in die Ferne und konnte dort auf einem entlegenen Gebirgszuge mit Zufriedenheit ausruhen. Dieser stand in vollem Sonnenschein, war ganz schneeweiß und mit tiefen blauen Schatten durchzogen. Das muß die Gletscherkette des Monte Adamello sein, die in Welschtirol zwischen dem Sulzberg (Val di Sole) und dem italienischen Val Camonica liegt.
Die nördliche Reihe, welche vom Ötztal bis über den Glockner hinausreicht, voll Schneefelder und Gletscher, aus denen der Venediger herrlich aufragt, war aber gar nicht zu sehen, und gerade auf diese stillen Eiskönige hatte ich mich am meisten gefreut. Nur die Vorberge des Pustertales erschienen, und auch sie nicht einmal bis zur halben Höhe. Es war, als ob eine graue Schlafmütze über sie gezogen wäre, gerade bis auf die Augen herunter, nämlich bis auf die Dörfer, die weißen Kirchen und Häuser, die sich im Mittelgebirge hinziehen. So blieb uns denn kein anderer Trost, als die gedruckte Beschreibung wörtlich abzulesen, welche mir Herr J. G. Mahl, der strebsame Buchhändler von Bruneck, zum Abschied noch in die Tasche gesteckt hatte.
Sehr niedlich, wie zierlichst aus Holz geschnitzt, lagen dagegen Bruneck, sein altes Schloß und eine Menge Dörfer, Kirchen und Burgen weit unten im Tale zwischen Wald und Feld. Obgleich ohne Licht und Schatten, war dieser Teil der Aussicht doch eigentlich das einzige Stück, an dem man sich erfreuen konnte. Aus einem der Ansitze im östlichen Teile der Stadt sahen wir auch ein feines dünnes Rauchwölkchen aufsteigen, und wir verhehlten uns nicht, daß es wahrscheinlich mit dem Rehbraten zusammenhänge, der uns für mittags verbindlichst in Aussicht gestellt war. Während wir nun da in die Tiefe schauten und uns erinnerten, daß wir um zwei Uhr schon unten bei Tische sitzen sollten, fing es heroben zu schneien an, jedoch nicht stöbernd, sondern sparsam und rücksichtsvoll. Doch begann ein kalter winterlicher Wind über die Höhe zu blasen, der uns veranlaßte, auch die letzten Knöpfe an unsern Röcken sorgfältig zuzuknöpfen.
Ich begann halblaut zu phantasieren: »Wären wir in St. Vigil bis sieben Uhr liegen geblieben, dann in die Kirche gegangen, hätten die Männlein und die Weiblein, ihren Wuchs, ihre Gesichter, ihre Trachten besehen, wären dann wieder zum Frühstück ins Wirtshaus zurück, wäre der Richter, der Herr Student, vielleicht mancher andere würdige Mann aus Ladinien dazugekommen, hätten wir bei einem Seidel Wein eine belehrende und anregende Unterhaltung gepflogen, einigermaßen in der ladinischen Sprache herumgeforscht und uns dann von unserm Mathes wieder nach Bruneck hinausfahren lassen – wer weiß, ob wir nicht ebensoviel gelernt und noch mehr Vergnügen erlebt hätten als hier auf dem Spitzhörnle oder Platzkron oder Plan de Corones?«
»Wir wären nur ausgelacht worden«, entgegnete mein Begleiter.
»Das werden wir auch so – ich biete jede Wette an.« Dies hat sich auch so ziemlich bestätigt.
Als wir in Bruneck erzählten, daß wir auf der Spitze gewesen, aber nichts gesehen hätten, wurden wir gerade so belächelt, als wenn wir nicht hinaufgestiegen wären. Auch die traurige Geschichte, wie ich ins Wasser gefallen, lockte niemand eine Träne des Beileids ins Auge.