Ludwig Steub
Alpenreisen
Ludwig Steub

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Freizeitgestaltung

In Pertisau am Achensee

Wir kamen gerade noch recht zum Mittagessen, für welches wir trefflich vorbereitet waren, da uns außer dem altbackenen Brot in Wiesing am ganzen Morgen keine Nahrung zugegangen. Die Tafel zeigte sich voll besetzt, obgleich der September schon ins Land gerückt und die eigentliche Sommerfrische vorüber war; nur an einer entfernten Ecke fand sich noch Raum für unser Kleeblatt. Die Gäste schienen alle mit großem Eifer der Pflicht der Selbsterhaltung obzuliegen, eine Aufgabe, die ihnen durch den Wohlgeschmack der Speisen wesentlich erleichtert wurde. Der Sprache nach zu urteilen, waren die meisten der Gäste von der blauen Donau heraufgekommen. Es ist bemerkenswert, daß sich die Wiener mit solcher Energie auf die Pertisau werfen, gerade wie die Eichstätter auf Brixlegg.

Es schienen mehrere angesehene Würdenträger darunter zu sein, meist Männer und Frauen von reiferem Alter. Jugend und Schönheit waren in dieser Woche sehr spärlich vertreten. Nur auf eine Dame machten mich meine jüngeren Begleiter aufmerksam, welche in jener Beziehung eine Ehrenerwähnung ansprechen konnte, aber ihren Namen habe ich schon lange wieder vergessen.

Nach Tisch fuhr eine Schaluppe aus der Schiffhütte vor, mit drei Ruderern bemannt, für etwa fünfzehn Seelen eingerichtet. Einige Familien setzten sich fröhlich auf die Bänke und luden auch uns zur Fahrt ein. Es ging nach dem Seehof, der etwa in drei Viertelstunden erreicht wird. »Wir fahren fast alle Tage dahin«, sagte der Herr Hofrat, dessen Namen ich aber auch nicht mehr weiß. – »Und an den anderen Tagen?« – »Gehen wir in der Pertisau spazieren.« – »Doch etwas einförmig?« – »Weiß nicht, wir unterhalten uns sehr gut und sind gerne da.«

 

In Scholastika

Ein bequemer Spaziergang mit angenehmer Labung in seiner Mitte war eigentlich nur nach Achenkirch gegeben, wo auch ein gutes Wirtshaus ist. Anderen Unternehmungen traten Gebirg und Wasser fast allenthalben hemmend entgegen. Auf den hohen Unnutz oder das Seekar steigen konnte man auch nicht alle Tage. Zuweilen fuhr man zu Schiffe auf die Geisalm, eine jetzt überwachsene Lahne, die einst vom Seekar heruntergekommen und in die blauen Wasser weit hereingegangen ist. Da bewunderte man die idyllische Einfachheit des Geisers und seiner Hütte, kochte vielleicht Kaffee, irrte etwas in dem Gestrüppe herum, pflückte Blumen, unter denen wir nach A. Pichler Jochlilien, Wiesenrauten, Primeln und Alpenrosen nennen wollen, und ruderte dann wieder seelenvergnügt nach Hause.

Ja, ja, ›schön blau ist die See‹, in der Tat ein herrliches Gewässer, und die mächtige Bergwelt, die sich in ihm spiegelt, verleiht ihm eine Einfassung von wunderbarer Majestät, aber doch sind nicht alle für den Achensee geboren. Er paßt am besten für melancholische Junggesellen, welche sich gern zerstreuen möchten; auch für ältere Gatten, die ein Viertelstündchen spazierengehen, dann wieder etwas lesen, etwas essen und etwas plaudern wollen, wozu sich in den genannten drei Gasthäusern, die immer besetzt sind, wohl den ganzen Tag Gelegenheit bietet. Er paßt dagegen trotz seiner Einsamkeit gar nicht für jene, welche diese suchen, denn sie können der Gesellschaft nicht auf den wenigen Wegen und noch minder im Hause ausweichen. Gar nicht passend scheint er auch für Familien, die mit reisiger Jugend versehen sind, welche an schönen Tagen ausfliegen, aber doch nicht zu weit wandern will, denn die Gelegenheiten, die sich dazu bieten, sind sehr bald erschöpft. Obgleich nun das Publikum, das sich hier gefallen kann, immer ein beschränktes sein wird, so ist die Welt doch so volkreich, daß sich trotzdem in den Sommermonaten gebildete Gäste genug finden, welche die wenigen Wirtshäuser des Tals ausfüllen und beleben.

 

Auf dem Berg

Es ist ein wesentlicher Bestandteil eines Aufenthaltes im Hochlande, einmal etwas Apartes, Mühseliges, Abenteuerliches zu unternehmen. Die Feinsten besuchen wenigstens eine nahe Sennhütte und lächeln nach ihrer Rückkehr schelmisch, wenn sie gar über Nacht ausgeblieben sind. Die Rüstigsten tragen einen schweren Kugelstutzen nebst großem Büchsenranzen hinauf in die Schneehöhe und sofort wieder herunter und sagen dann, sie seien auf der Gemsenjagd gewesen. Jene aber, denen die Sennhütten zu nah, die Schneehöhen aber zu entlegen sind, lösen ihre Aufgabe in gesellschaftlichen Partien auf ein schönes Berghorn, dessen Spitze etwa ein Belvedere ist, wie es die Badegäste von Partenkirchen mit dem Krotenkopf und die von Rosenheim mit dem Wendelstein zu machen pflegen. Da geht es denn familienweise hinaus in die tauigen Wiesen, im Angesicht der Morgenröte, die um so überraschender wirkt, je länger man sie nicht mehr gesehen hat. Bald beginnt das Steigen, und nun entwickelt sich der Knäuel. Der Papa in seinem Reisehemd, gleichsam der Hauptmann der liebenswürdigen Bande – wie schwer war er zu gewinnen –, und die Mütter, die schon leichter mithalten, bleiben keuchend mehr und mehr zurück; die Münchner Fräulein und die jungen scheinkranken Badeherren hüpfen wie die Zicklein voraus. Die Jungen tragen sich phantastisch, so daß die Spielhahnfeder auf dem grünen Hütchen und die graue Joppe mit den grünen Aufschlägen nicht leicht fehlen; die Mädchen, unter dem Einflusse der idyllischen Umgebungen, dichten ebenfalls an ihrer Tracht, und wenn sich die Jünglinge am liebsten als Jäger darstellen, so liegt den Damen am nächsten der Aufzug der arkadischen Hirtinnen, wie sie im Ballette erscheinen. Es ist ein gar erheiternder Anblick, wie das junge Volk, in allen Farben spielend, lachend und schäkernd, unter den schwarzen Tannen sich hinaufwindet, nun über den Felsenvorsprung klimmt, nun in langer, ängstlicher Zeile am Rande eines Abgrunds hintrippelt. Dort ruht ein Pärchen aus, um neugestärkt wieder nachzueilen, da werden Alpenrosen gesucht und unter bedeutsamen Winken verschenkt. Die Alten sehen sich auch zuweilen an, aber mit den Blicken der düstern Resignation, denn zum Steigen sind die Berge schrecklich hoch.

Endlich ist der Vortrab auf dem Gipfel; die Herren jodeln und rufen hallo, die Damen schwenken die Taschentücher zur Aneiferung für die Nachkommenden, und dann wird das Feuer aufgemacht. Nach und nach hat sich alles eingefunden und steht in schönen Gruppen auf der freien Höhe, hinabzusehen ins unendliche Blachland, auf Hügel und Täler, Wälder und Felder, Seen und Ströme, Städte und Dörfer. Die Mädchen sind gar liebreizend, wie sie dastehen, herrlich rot im Gesichte vom Steigen in der reinen Alpenluft, seligen, träumerischen Blicks hinunterstarrend in die Tiefe, während der frische Morgenwind in ihren Locken wühlt. Ist ein Norddeutscher dabei, was jetzt kaum mehr fehlen kann, so benützt dieser den Augenblick, stellt sich in die Mitte und deklamiert etwas, zum großen Verdruß eines andern, der die Erreichung des Zieles mit einem Sturme auf der Gitarre feiern wollte, die ihm über den Rücken hängt, und zum nicht mindern Ärger eines dritten, der ein Flageolett bei sich hat. Die Verse aber hat der Poet gestern abend noch zusammengestoppelt, als er wegen erdichteter Übelkeit schon um neun Uhr auf seine Stube ging, und die Reime klappern wunderbar schön. Die Jugend klatscht begeistert Beifall, er hat ihren Gefühlen Worte gegeben; die Mütter nicken einander zu, als wollten sie sagen: der kann's. Papa aber, der Unbestechliche, macht ein Gesicht, das nicht viel mehr ausspricht als: Für so 'nen jungen Menschen ist's gut genug. Unterdessen hat der Dichter das langhaarige Haupt verschämt geneigt und die Rechte dankend aufs Herz gelegt, damit aber auch zu gleicher Zeit aus der Seitentasche ein Album gezogen, das er herumgeben will, mit der Bitte, einen Gedanken hineinzuschreiben und zur ewigen Erinnerung an diesen unbezahlbaren Moment. Dies dämpft den Jubel etwas, denn die wenigsten sind so vorsichtig, immer einen Stammbuchvers im Hinterhalt zu haben; doch faßt und findet man sich bald. ›Auf den Bergen ist Freiheit‹ und so weiter, das würde jeder am liebsten schreiben wenn nicht schon der allererste so satanisch boshaft gewesen wäre, diese Verse der ganzen Gesellschaft wegzuschnappen. So ist's denn kein Wunder, wenn der Löwe des Tags mit gewöhnlichen Sinnsprüchen, wie zum Beispiel ›Ehrlich währt am längsten‹ oder ›Bleib zu Haus und nähr dich redlich‹, vorlieb nehmen muß.

Endlich ist die peinliche Feierlichkeit vorüber und das Album wieder in seinem Loch. Papa sitzt schon lange auf seinem Tragstuhl und bläst den Knasterdampf vergnügt über die Wälder hin, die von unten herauf rauschen; die Mütter kauern malerisch auf den Felsblöcken umher und stricken. Das Feuer brennt lustig, die Töpfe mit Wasser und Milch fangen nachgerade an zu sieden. Nun geht's ernstlich an die Vorbereitungen zum Frühstück. Da zeigt sich erst, mit wieviel Umsicht der Plan zu diesem Unternehmen entworfen und wie passend die Rollen ausgeteilt worden. Vor allem wird der große Reisesack aufgetan, den der Führer heraufgetragen und aus welchem nun Kalbskeulen und Schinken springen, wobei die Messer und Gabeln, die auch in seinem Bauche liegen, kampflustig erklingen. Nun erschließen sich auch die Reticules der Schönen, und wer hätte es diesen zierlichen Täschchen, die den ganzen Weg herauf so gleichgültig mitbaumelten, angesehen, daß sie heute als Vorratskammern für die feingebildete Gourmandise der bergsteigenden Hauptstädter eingerichtet seien? Und doch ist's nicht anders! Aus der einen Tasche steigt vielversprechend eine edle Wurst von Welschland, aus der andern ein Senftopf; andere Fräulein stellen anderes auf, geräucherte Zungen, gebratene Hühner. Jetzt zeigen aber auch die Paladine, daß sie nicht umsonst dabeisind. Ihre Aufgabe war's, den Wein zu liefern, und nun treten die Vertreter sämtlicher Rebenhügel von Würzburg bis Bordeaux aus den Rocktaschen. Das wird aber für jetzt alles nur beiseite gestellt, geordnet, und was zerlegbar ist, zerlegt; denn der Kaffee ist fertig, und die Mädchen machen lächelnd die Honneurs. Während man schlürft, wäscht der Führer in der nahen Quelle die Salathäupter, die er mitgebracht, und übergibt sie dann zerblättert und gesäubert in großer irdener Schüssel den Schönen. Man nähert sich dem nahrhaftem Teile des Frühstücks. Einzelne Vorläufer machen schon die Runde, die Kernspeisen dringen unwiderstehlich nach. Am meisten haben wieder die Mädchen zu tun, die frischen, heitern, rosigen Mädchen, die jetzt, in der Glorie der Alpenluft strahlend, wie dienende Engel hin und her eilen, voll Leben und Lust, die nun spielend alle Reize deutscher Häuslichkeit entfalten, welche uns hier oben auf der grünen Bergmatte, in der hellen Sommersonne, mehrere tausend Fuß hoch über dem Meere noch viel tausendmal einnehmender erscheinen als unten im langweiligen Abendzirkel beim trüben Lampenschimmer. Und wenn nun die Gläser erklingen, da klingen alle Herzen mit, und wenn die Champagnerpfröpfe knallend in die Luft fliegen, dann fliegen auch die letzten Grillen still ins Tal hinunter. Die Freude tritt immer königlicher auf, der Jubel wird immer lauter; der Norddeutsche deklamiert wieder, der andere fällt mit der Gitarre rauschend in den Lärm, der dritte spielt sein Flageolett, und dann ertönen – alles schweigt – die Almenlieder, diese herrlichen, himmelansteigenden Gesänge, die keiner vergessen kann, der sie je in ihrer milden Kraft gehört hat, die in jedem die Sehnsucht nach den Alpen wecken, der sie draußen wieder hört im ebenen Land.

 


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