Ludwig Steub
Alpenreisen
Ludwig Steub

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Die Schönheit des Volkes

Aber wie sehen denn die Leute, von denen du so lange plauderst, eigentlich aus? Sehr gut, sag' ich, denn es ist ja bekannt, daß der altbayerische Bauer noch etwas auf seine Volks- oder Standestracht hält und daß Männlein und Weiblein für ihr ›Feiertagsgewand‹ nicht leicht etwas zu schön und zu teuer finden. Ferner ist der Stamm der Chiemgauer gut gebaut und kräftig, auch groß gewachsen, und es schadet ihm nicht, daß er fast ohne Ausnahme die Nase ziemlich lang trägt – eine Entdeckung, welche schon anderswo verzeichnet ist und vielleicht von bleibendem Wert sein dürfte. Übrigens sind die Männer sozusagen fast schöner als ihr Gegenpart – unter den Gestalten der Jungfrauen findet sich wohl manche, welche man leidlich und angenehm nennen könnte, aber keine von jenem aphrodisischen Liebreiz, wie ihn so viele Tirolermädchen ganz ungezwungen mit auf die Welt bringen. Aber nicht etwa die Gemeinde Seebruck und ihre Nachbarschaft oder der Chiemgau allein leidet unter diesem empfindlichen Mangel, sondern überhaupt das ganze Oberland und all das bayerische Gebirge. Gewissenhafte Landgerichtspraktikanten, welche aus Liebe zur Wahrheit die Sache gründlichster Prüfung unterzogen, behaupten da wie dort: in ihrem ganzen Bezirke finde sich keine einzige Huldin, die den goldenen Apfel aufzuheben würdig wäre. (Und wirklich hat man auch in der Auswahl garstiger Kellnerinnen seit den letzten Jahren so riesige Fortschritte gemacht, daß eine Umkehr viel wünschenswerter scheint als ein Weiterstreben auf dieser entsetzlichen Bahn.) Viele behaupten sogar nicht ohne einigen Schein: da alle Wohlgestalt nachgerade unter die Männer gegangen, so würden diese fürderhin ›das schöne Geschlecht‹, so daß das andere nur ›das schwache‹ bliebe – fast zuwenig im Vergleich mit seiner bisherigen Stellung und seinem strebsamen Geist! Die richtige Meinung ist aber wohl die, daß in einem sonst kerngesunden und wohlgeschlachten Volke die Schönheit periodisch wiederkehren müsse, wenn auch jetzt ihre Tage noch nicht so nahe sind, als manche wünschen. Es ist nämlich der Erinnerung wert, daß die Jungfrauen, deren Geburt unter die nachwirkende Herrschaft des elften Kometen fiel, sich in den dreißiger Jahren zu München durch jene himmlischen Reize hervortaten, welche wahrscheinlich noch in den Liedern fortleben würden, wenn wir damals schon so viele und so gute Poeten gehabt hätten wie jetzt. Und wie gewaltiger Lärm war damals von den herrlichen Sennerinnen, den wildschönen Alpentöchtern, die im Gebirge ein schreckliches Spiel mit den städtischen Herzen treiben sollten, während es doch jetzt davon ganz ruhig ist. Wenn nun jene Meinung (und wer kann sie bestreiten?) sich bestätigen sollte, so möchten die Kometen, die sich in den letzten Jahren an unserm Abendhimmel zeigten, wahre Hoffnungssterne gewesen sein, und mancher Musensohn, der eben die Pandekten zu studieren beginnt und die Absicht hat, bei seiner einstigen Anstellung sich zu verehelichen, kann immer den Trost hinnehmen, daß er mit seinen ›zärtlichsten Trieben‹ auch noch in die gute Zeit fallen werde.

Übrigens nehmen die Volkstrachten, wie es scheint, ihren Ursprung immer in den höhern Ständen und steigen von diesen in die untern und zu den Bauern herab. Die Bauerntracht ist aber wie die Aloe, die nur alle hundert Jahre blüht – sie gerät nur nach langen Zwischenräumen in den Zustand der Empfängnis; der Bauer und die Bäuerin häuten sich selten früher als nach der dritten oder vierten Generation. Vieles, was die wechselnden Moden den höhern Ständen bringen, geht wieder dahin, ohne daß von unten her ein Auge darauf geworfen wird – manche Erscheinung aber, die gerade in die Zeit fällt, wo das Landvolk wieder seinen Schoß eröffnet, hält sich auf mehrere Menschenalter hinaus. Eine der vorstechendsten Trachten Tirols war ehemals bei den Männern auf der Höhe von Kastelrutt in Übung. Sie ist seit etwa dreißig Jahren untergegangen, und man sieht sie wie viele andere tirolische nur noch auf älteren Trachtenbildern. Sie bestand aus einem grauen Spitzhut, großer Halskrause, roter kurzer Joppe, gelben Hosen und weißen Strümpfen. Diese Kleidung, in allen Stücken das Vorbild der deutschen Hanswurstentracht, zeigt sich in genauer Übereinstimmung bei den Kriegsleuten auf Bildern der zweiten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts. Die Jacke der Meraner Bauern ist wohl ein Erbstück aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges. Die Spitzelhaube war nach einem Bildnisse im Braitenbergischen Hause zu Meran im Jahre 1764 noch die Tracht der angesehensten Stadtfrauen. Die hohen spitzigen, filzenen Weiberhüte, wie sie jetzt im Unterinntale getragen werden, bildeten nach altern Votivtafeln, die in oberbayerischen Wallfahrtskirchen hängen, um den Anfang des vorigen Jahrhunderts die Zierde vornehmer Damen. Die Pelzkappe, welche in unsern Tagen die vermöglichen Bäuerinnen in Oberbayern tragen, trug im Jahre 1669 die Frau Kammerrätin Mayer, deren Konterfei im Gange des Klosters Schäftlarn zu finden. Im allgemeinen dürften wenige Trachten älter sein als zwei Jahrhunderte. Ihre Verschiedenheit aber scheint dadurch zu entstehen, daß sich in den verschiedenen Gegenden die chronische Empfänglichkeit zu verschiedenen Zeiten einstellt, wie sie denn auch bei den beiden Geschlechtern nicht immer gleichzeitig auftritt und das eine oft eine Neuerung einführt, während das andere alles beim alten läßt. Eine teilweise Änderung hat in diesem Menschenalter der bayerische Bauer zwischen Isar und Lech vorgenommen und dabei die Herrenmode mit den langen Röcken und den eingebogenen Hüten sich angeeignet, wie sie etwa vor fünfundzwanzig Jahren getragen wurden, beides freilich in etwas derberer Form. – Die Weiber dortiger Gegend aber blieben in allen Stücken beim alten Herkommen; dagegen sind die am Chiemsee und am Tegernsee von den Keulenärmeln, die vor etwa fünfzehn Jahren das Neueste waren, hingerissen worden und haben sie mit Belassung des übrigen ihrem Anzug vereint. Unter den Trachten der Männer ist ohnedem nur eine, welche den Ausschlag gibt, allen andern vorangeht und alle zu verschlingen droht. Dies ist die graue Joppe mit dem grünen Spitzhut. Als ihr Herd und Mutterhaus ist die Gegend von Miesbach und Tegernsee zu betrachten, obwohl sie auch dorthin erst seit Menschengedenken gekommen, und zwar aus Tirol, aus dem Zillertale – oder noch genauer scheint es eigentlich die Tracht der Duxer Hirten zu sein, welche durch die Tiroler Holzarbeiter herausgebracht wurde und wegen ihrer wunderbaren Einfachheit und ihres immerhin flotten Aussehens sich bei arm und reich schnell Anerkennung verschaffte, ja jetzt schon so viele Herrschaft übt, daß sie nicht allein die Landleute, sondern auch die feinen Herrn aus der Stadt, die Staatsdienstaspiranten und andere Würdenträger, die Maler und die Kupferstecher sich untertan gemacht. Selbst vor den norddeutschen Augen hat sie Gnade gefunden, und man sieht manchen Berliner Geheimrat, manchen Hamburger Bankier, der sich gleich nach den ersten Tagen, von dem Reize des Gewandes angezogen, in eine Kochlerjoppe hüllt und stolz am Tegernsee hinwandelt, nicht ohne dabei sein frisch einstudiertes Schnaderhüpfel zu zirpen. (Kochlerjoppen heißen sie erst seit wenigen Jahren von einem Schneider zu Kochel, der sie besonders billig fertigt und in großen Ladungen zu München verkauft.)

*

Also hatten denn auch die Tegernseer Schönen vielleicht von der höchstseligen Königin Karoline und ihren Hofdamen vor vier Dezennien die kurze Taille und den langen knappen Rock angenommen, letzteren aber so verengert, daß er sich nur wie eine dünne Röhre um die Glieder spannte. Später kamen dazu die Gigotärmel, die vor etwa dreißig Jahren das Neueste waren und mit mächtiger Erweiterung an den kurzen Spenzer gefügt wurden. Dazu trug man wohl auch die grünen schmalgekrempten Hütchen, aber nur so verstohlenerweise, denn aus der Kirche waren sie wegen der ihnen einwohnenden Üppigkeit verbannt, und das eigentliche Feiertagsstück für das schöne Haupt wurde die ›Pechhaube‹ – eine schwarzwollene, dicht über den Kopf gegossene Halbkugel, sehr sittsam, aber zugleich abscheulich. Das enge magere Gestell, die maßlose Aufblähung an den Flügeln und der kleine plattgedrückte Kopf gaben der ganzen Gestalt etwas Libellenartiges – es sah zwar ziemlich plump aus, aber doch glaubte man immer, es sei aufs Fliegen angelegt. Da war es wirklich nicht so notwendig, die ›alte‹ Volkstracht zu erhalten, als vielmehr eine neue einzuführen. Letzteres hat sich jetzt auch von selbst gemacht – die Röcke sind in den jüngsten Jahren wieder weiter, kürzer und faltenreicher geworden, die Keulenärmel sind verschwunden, die bürgerlichen Mieder eingeführt, und auf dem Köpfchen – und sogar in der Kirche – prangt unbehelligt der grüne, früher exkommunizierte Spitzhut mit Blumenbusch und Goldschnur. Abgesehen von letzterem ist die Tracht gerade nicht sehr charakteristisch, aber kleidsam und ausgezeichnet durch die hellen Farben, die allen andern vorgezogen werden.

 


 << zurück weiter >>